Offener Brief an die ARD

Sehr geehrte Damen und Herren der ARD und Partner-Rundfunkanstalten,

wir gehen davon aus, dass Sie – als öffentlich-rechtliche Sender – Verschwörungstheorien mit gegebener journalistischer Sorgfaltspflicht begegnen und Ihre Verantwortung gegenüber den Nachrichtenkonsumenten sehr ernst nehmen.

Dennoch hat sich in Ihr aktuelles Radiofeature „Falsche Erinnerung? – Doku über False Memory und sexuelle Gewalt“ die Verschwörungstheorie von Ritueller Gewalt & Mind Control sowie Satanic Panic eingeschlichen.

Worum geht es? Auf unserer Webseite haben wir die Kritikpunkte an dem genannten Radiofeature ausführlich dargelegt und möchten an dieser Stelle auf unseren Bericht verweisen: ARD-Radiofeature: False Memory & sexuelle Gewalt

Unserem bereits veröffentlichten Artikel ist noch hinzuzufügen, dass Ihr Radiofeature nicht nur hinter den Erwartungen an eine objektive Sachverhaltsdarstellung zurückbleibt, sondern mit den Aussagen von Herrn Michael Weisfeld, die unten stehend zitiert werden, auch noch Öl ins Feuer gießt:

Um nicht falsch verstanden zu werden, an dieser Stelle eine kurze Begriffsklärung: Kritikern dieser Verschwörungstheorie wird von deren Anhängern immer wieder vorgeworfen, organisierte oder rituelle Gewalt per se in Abrede zu stellen. Dies ist nicht korrekt. Dass sexueller Kindesmissbrauch und organisierte Gewalt in Form von Menschenhandel, der Anfertigung von Kindermissbrauchsabbildungen etc. existiert, stellt hoffentlich (!) heutzutage niemand mehr in Frage. Unsere Kritik wendet sich jedoch gegen das Narrativ von satanistischen Kulten, die Techniken von „Mind Control“ einsetzen würden – ein Konstrukt, das sehr häufig unter dem Namen von Ritueller Gewalt genannt wird. Es existiert hier leider eine enorme Begriffsunschärfe, denn selbstverständlich gibt es Gewaltformen, die von Sekten unter einem rituellen Charakter durchgeführt werden oder auch z.B. die – weltweit geächtete – weibliche Genitalverstümmelung, welche ebenfalls rituelle Züge trägt.

Aus diesem Grund ist es essenziell wichtig, nicht alles in einen Topf zu werfen. Doch genau das ist im ARD-Feature leider der Fall, wenn unhinterfragt von Ritueller Gewalt gesprochen wird.

Das Narrativ von (inter)national angelegten, satanistischen Kulten, die kleine Kinder missbrauchen und gezielt bei diesen durch „Programmierung“ eine Dissoziative Identitätsstörung erzeugen (= Mind Control) gilt nicht erst seit heute als widerlegt. In den USA wurde dieses Konstrukt bereits in den 1990ern unter der Bezeichnung „Satanic Panic“ als das aufgearbeitet, was es ist: eine Verschwörungstheorie.

Diese Verschwörungserzählung ist in Schweizer Medien derzeit ein viel berichtetes Thema, vor dem Michael Weisfeld allerdings die Augen zu verschließen scheint: Mit keinem einzigen Satz erwähnt er die aktuelle Diskussion auf medialer und Expertenebene, zu der fast im Wochentakt neue Erkenntnisse veröffentlicht werden. Dies bei einem einstündigen Radiofeature und einem halbstündigen Interview überhaupt nicht zur Sprache zu bringen, grenzt beinahe an journalistische Fahrlässigkeit – waren es doch Schweizer Journalisten-Kollegen des (ebenfalls öffentlich rechtlichen) Schweizer Rundfunks, die den Stein vor über einem Jahr ins Rollen gebracht hatten.

Dank der umfangreichen investigativ-journalistischen Recherchearbeit von Robin Rehmann und Ilona Stämpfli vom SRF ist es gelungen, diese suggestiven Falschtherapien aufzudecken – Recherchen, die (nicht nur) in der ganzen Schweiz ein enormes mediales Echo gefunden haben.

Diese jüngsten Ereignisse haben gezeigt, dass im deutschsprachigen Raum diese Verschwörung weiterhin unter Psychotherapeuten kursiert und sogar in Behandlungen (z.B. an der Klinik Littenheid und dem Psychiatriezentrum Münsingen) Einzug gefunden hat.

Mittlerweile wurden zu den Ereignissen zwei Expertengutachten (siehe hier zu Münsingen sowie zu Littenheid) verfasst, die unisono zu dem Schluss kommen, dass es eben keinen groß angelegten Missbrauch in satanistischen Kulten gibt. Doch genau das ist eine Aussage, die Michael Weisfeld im Interview mit Johannes Döbbelt zum aktuellen Radiofeature trifft: „Es gibt Gruppen, die haben sich einer Weltanschauung verschworen, das kann satanistisch sein, das kann fundamentalistisch religiös sein, oder auch Nazi-nah (…) Die meisten dieser Gruppen – nach einer Untersuchung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf – sind aber satanistisch orientiert. Das bedeutet, dass Satan eine höhere Macht ist, die den Tätern alles erlaubt. Das Monströse auch.“

Dass diese Aussage mit satanistischen Gruppierungen weder empirisch-wissenschaftlich noch psychologisch haltbar ist und welche Gefahren für Patienten von diesem Narrativ ausgehen, hat der bekannte Schweizer forensische Psychiater Frank Urbaniok erst vor wenigen Tagen ausführlich dargelegt.

Doch die Schweiz ist nicht das einzige Land, wo die Aufarbeitung dieser Verschwörungstheorie gerade hohe Wellen schlägt: In der Niederlande hat sich eine parlamentarische Untersuchung jüngst diesem Narrativ gewidmet. Im Abschlussbericht der Hendriks-Kommisson, der mehrere hundert Seiten an Expertengutachten umfasst, wurde dazu festgehalten, dass es keinerlei Beweise oder Anhaltspunkte gibt.

Hier in Deutschland gibt es nun ebenfalls Konsequenzen:

So wurde gerade der für März geplante Fachtag des Traumahilfezentrums München zum Thema Rituelle und Organisierte Gewalt abgesagt – ebenfalls in Reaktion auf die Medienberichterstattung und Therapieskandale in der Schweiz.

Zudem wurden Psychologin Claudia Fliß und Kolleginnen von der kommenden Jahrestagung der DeGPT (Deutsche Gesellschaft für Psychotraumatologie) mit einem Vortrag zur Thematik der Rituellen Gewalt kurzfristig ausgeladen, da u.a. Frau Fliß in den Untersuchungen seitens des Kantons Thurgau und der Clienia Littenheid harsch kritisiert wurde (siehe: Kanton ergreift aufsichtsrechtliche Massnahmen gegen Clienia Littenheid AG).

All diese Ereignisse hat Michael Weisfeld in seine Berichterstattung nicht einbezogen, ebenso wenig die Aufklärungsarbeit, die es hierzulande bereits gibt:

Seit Jahren liefert die GWUP (Gesellschaft für wissenschaftliche Untersuchung von Parawissenschaften), allen voran Psychologin Lydia Benecke und Autor Bernd Harder, eine wissenschaftlich fundierte Aufklärung zu dieser Thematik, welche jedoch leider an der ARD spurlos vorübergegangen zu sein scheint.

Hier eine Auflistung mit der wohl umfangreichsten Link-Sammlung zu dieser Thematik, die Frau Benecke regelmäßig auf ihrem Facebook-Kanal updatet.

Wenn Sie nun der Ansicht sind, dass es sich bei dieser Dekonstruktion der Satanic Panic Verschwörungstheorie um eine rein akademisch zu betrachtende Fachdiskussion handelt, dann irren Sie: Insbesondere in der Schweiz sind schwer psychisch erkrankte Menschen dadurch enorm zu Schaden gekommen. Die junge Frau Leonie hatte den Mut, dem Schweizer Fernsehen darüber zu berichten. Ihr Schicksal und das Leid, welches sie durch Fehltherapien erleiden musste, steht stellvertretend für andere Patienten, die z.B. in den Expertengutachten zum Psychiatriezentrum Münsingen erwähnt werden.

All das Genannte basiert auf der Verschwörungstheorie von satanistischen Missbrauchskulten, wie sie auch Michael Weisfeld im ARD-Radiofeature unreflektiert wiedergibt.

Wir hoffen, dass Sie als ARD dieser Verschwörungstheorie nicht bewusst und absichtlich eine große mediale Bühne gegeben haben. Darum gehen wir von einer zeitnahen redaktionellen Berichtigung zu diesem Thema aus.

Mit freundlichen Grüßen,

Marvel Stella (Initiatorin der Webseite www.dissoziationen.de) und Nora Sillan (Mitarbeitende der Webseite www.dissoziationen.de)

Zur Vertiefung einige aktuelle Berichte aus der Schweiz und der Niederlande:

Dieser offene Brief wird offiziell an die Verantwortlichen geschickt.

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