Was man aus der Schweizer Klinik lernen muss

Autorin: Nora

Es ist eine menschliche Tragödie und ein medizinischer Skandal in der Schweizer psychiatrischen Versorgung: Verschwörungs-Narrative zu Mind Control, freiheitsbeschränkende Maßnahmen und ein Drehtür-Hospitalismus waren trauriger Alltag am Psychiatriezentrum Münsingen, einer der größten psychiatrischen Kliniken des Landes. Diese Geschehnisse haben ihren erschreckenden Höhepunkt in mehreren Patienten-Suiziden gefunden (Für eine umfassende Darstellung siehe: GWUP-Blog und NZZ).

Seit Monaten kommen nun immer wieder neue Details aus der Schweizer Klinik ans Licht: Was bedeutete es, wenn klinische Therapie weitaus mehr Schaden anrichtet, als dass sie helfen könnte und im schlimmsten Fall im Suizid endet?
Jüngst wurde das Gutachten zu den Vorfällen in Münsingen, verfasst von PD Dr. Thomas Maier, dem ärztlichen Direktor der Psychiatrie St. Gallen Nord, veröffentlicht. In dem 45-seitigen Dokument befasst sich der Gutachter über mehrere Seiten mit der Problematik, dass viele Patienten als „Narrativ bereits Misshandlungs- und Missbrauchsgeschichten mit in die Therapie [brachten], die von anhaltenden Täterkontakten berichten, teilweise auch von anhaltender Überwachung, mind control“ und ähnlichen Elementen“ (Gutachten Dr. Maier, S. 27).
Genau das wurde in den Therapien zum Thema gemacht und bestärkte die Patienten in ihrer ausweglosen Phantasiewelt anstatt ihnen den Ausbruch daraus zu ermöglichen (vgl. ebd. S. 30). „Die Fachpersonen (…), die sich mit diesen Verschwörungsgeschichten identifizierten, traten so in die dunkle Welt der Patientinnen ein“, beschreibt Maier die Auswirkungen der „kollusiven Verstrickung“ in ihrer dysfunktionalen Dynamik (ebd., S. 30).

Dieser sprichwörtliche Teufelskreis, wo man sich gegenseitig hochschaukelte, weist Ähnlichkeiten zum Narrativ der Mind Control-These auf, welche im Internet und in Büchern zuhauf reproduziert wird. In der Schweiz ist derartiges (therapeutisches) Denken jetzt wie ein Kartenhaus zusammengebrochen und das zeigt in erschreckender Weise die Tragweite solcher Verschwörungstheorien auf: Es geht um nicht weniger als das Leben von Patienten.
Denn wie Bernd Harder in seinem Artikel, der Fakten, Stellungnahmen und das Gutachten zum Münsingen-Skandal zusammenträgt, fragt: „Kann man diese Liste … (Anm.: im Gutachten) anders interpretieren, als dass es drei Suizide von Patientinnen gab, die von ihren Therapeuten wegen angeblicher „Täterkontakte“ isoliert worden waren?“ (GWUP-Blog, 24.11.2022)

Im Klinikum Münsingen wurden nun Konsequenzen gezogen, Personal und Führungsebene ausgetauscht.
Was bedeutet dieser Skandal nun für die gesamte psychiatrische Versorgung nicht nur in der Schweiz, sondern im ganzen deutschsprachigen Raum? Welche Lehren müssen international daraus gezogen werden, um die Unterwanderung psychiatrischer Klinik, Therapieeinrichtungen und ambulanter Settings durch die Verschwörungstheorien um Mind Control oder „andauernden Täterkontakt“ zu verhindern?

Täterinnen und Täter tauchen überall auf“

Ein Satz aus dem Gutachten stimmt besonders nachdenklich:
Es entstehe der Eindruck, so schreibt Dr. Maier, „dass der Glaube an raffinierte Tätergruppen die feste Überzeugung einer ‚Schule‘ von Therapeutinnen ist“ (ebd., S. 29). Wie ist die diesbezügliche Situation in Deutschland? Und vor allem: Wie verbreitet ist die These um gezielte Programmierung seitens organisierter Täterkreisen?

Die Vorfälle in der Schweizer Klinik erinnern an Abläufe, die auch in Deutschland vonstatten gehen. Damit soll natürlich nicht gesagt werden, dass diese identisch seien, oder ein etwaiger Zusammenhang zu den Missständen in der Schweizer Klinik hergeleitet werden. Keineswegs. Es geht darum, die Frage theoretisch aufzuwerfen, ob die Tätergefahr im (klinisch-)therapeutischen Setting hierzulande auch als real angenommen werden könnte.

Dass Mind Control und anhaltender Täterkontakt auch in Deutschland in Fachkreisen diskutiert werden, ist nicht erst seit der Publikation des Ausstiegleitfadens „Support“ im vergangenen Jahr bekannt. In dieser für professionelle Helfer geschriebenen Broschüre wird der angeblich laufende Täterkontakt in einer Form beschrieben, wie er möglicherweise auch am Psychiatriezentrum Münsingen seitens der Therapeuten angenommen wurde – eine Annahme, die in einer Katastrophe geendet hat: Täter, die „mit allen Mitteln versuchen, den Ausstieg zu verhindern“ (Support-Leitfaden, S. 51) und versuchen, ihre Opfer mittels Programmierungen zu beeinflussen.
Die beiden Autorinnen Pauline Frei und Sabine Weber betonen, dass dieses Thema sehr ernst werden kann, wenn sie schreiben, dass bei Vorliegen einer „tätergesteuerter Suizidalität“ eine hilfreiche Frage sein könnte, ob möglicherweise gerade ein „Suizidprogramm“ (vgl. ebd. S. 39) laufe.

Auch die Dynamik, die sich in Beratungs- oder Therapiesettings entwickeln kann, wird im Leitfaden deutlich thematisiert:
„Wir beobachten, dass eine DIS sehr akut werden kann, wenn Klient:innen in hilfreiche und stärkende Beratungssettings kommen. Die Systeme sind eventuell sehr wuschig im Sinne von chaotisch, aufgewühlt, durcheinander mit vielen Wechseln. Das kann auch passieren, wenn die Klient:innen im Rahmen des äußeren Ausstiegs in eine Lebenssituation kommen, die ihnen mehr Sicherheit und Verlässlichkeit bietet, z. B. weil ihnen (endlich) geglaubt wird. Häufig nehmen dann erwachsene und selbststeuernde Funktionen (vorübergehend) ab. Außerdem wird manchmal plötzlich Täterkontakt oder Verfolgung durch Täter und/oder Täterinnen zum Thema, während es zuvor kaum Thema war.“ (ebd., S. 29)

Das heißt also, die Betroffenen wähnen sich durchaus in Gefahr vor Tätern oder Tätergruppen, während Beratungsstellen/ Therapieeinrichtungen anhand des Support-Leitfadens zu handeln versuchen, um Lösungen zu finden. Auf die Problematik der iatrogenen Erzeugung derartiger Vorstellungen wird jedoch darin nicht eingegangen, statt dessen wird in Folge festgehalten: „Täter und Täterinnen tauchen überall auf, auch in der Nähe der Klinik oder Praxis“. (ebd., S. 85)

Diese Beschreibungen schildern eine sehr ernste Gefahr und die Zutaten für eine „Angst-Rezeptur“ seitens Patienten (aber auch Beratern und Therapeuten) scheinen „vollständig“, gerade dann wenn im Kapitel über Schutz auch darauf hingewiesen wird, dass „die Psychiatrie als (vorübergehender) Schutzort unumgänglich sein [kann]“ (ebd., S. 53).

Stichwort Psychiatrie: Können die in der Broschüre dargestellten Szenarien, dass Täter ihren „programmierten Opfern“ quasi überall auflauern, auch Eingang in den klinischen Alltag einer Psychiatrie finden?

Mind-Control-Thesen im Klinikalltag?

Beim einem Symposium zu Organisierter Gewalt mit dem Untertitel „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf?“ waren die beiden Autorinnen der Broschüre als Workshop-Leiterinnen tätig. Sabine Weber, die nach eigenen Angaben in einen satanistischen Kult hineingeboren wurde (Deutschlandfunk, 27.5.2018) gestaltete einen Workshop zum Thema gemeinsam mit Pauline Frei, die ein Buch veröffentlicht hat über „die Zeit, als sie noch eine multiple Persönlichkeit war“ und ihren Ausstieg aus einem destruktiven Kult (Junfermann Verlag, 6.4.2009).
Der mögliche Einfluss dieser Thesen aus der Broschüre über anhaltenden Täterkontakt wird deutlich, wenn man bedenkt, dass das Symposium im Juni 2022 von der „Klinik am Waldschlößchen“ veranstaltet wurde, eine Einrichtung aus Dresden, die u.a. auf die Behandlung von schweren Traumafolgen und Dissoziativer Identitätsstörung spezialisiert ist.
Dessen leitende Ärztin, Dr. Martina Rudolph, hielt ebenfalls einen Vortrag auf dem oben genannten Symposium und gab vor wenigen Monaten der Tageszeitung taz ein Interview zur Thematik der Rituellen Gewalt, in welchem die Journalistin in einem Absatz ganz explizit auf satanistische Kulte Bezug nahm:

Die Journalistin fragte im Interview: „Zu Ihnen kommen auch Menschen, die rituelle Gewalt erleben oder erlebt haben. Ausgehend von satanistischen, christlichen oder auch fascho-germanischen Kulten. Inwieweit üben diese Missbrauch aus?“
Die Antwort von Martina Rudolph war die Folgende: „Die Kulte setzen zum Beispiel Folter gezielt ein, um Menschen zu brechen und dazu zu bringen, an bestimmte Dinge zu glauben. Diese Menschen bekommen dann bestimmte mystischen Wahrheiten verinnerlicht. (…)“ (Interview taz, 10.8.2022).

In weiterer Folge sprach Martina Rudolph im Interview über die traumatherapeutische Arbeit mit Patienten, die an einer dissoziativen Identitätsstörung leiden und fügte hinzu: „Bei ritueller Gewalt müssen auch die unsichtbaren Fäden zu den Kulten durchbrochen werden. Das braucht Menschen, die von außen kontrollieren. Gleichzeitig haben die Patienten heftigste Symptome: Selbstverletzungen, schwere Essstörungen. Ein Teil von ihnen denkt, er muss zum Kult zurück. Oft werden sie auch auf der Straße angesprochen, die Helfer bedroht.“
„Sie auch?“, fragte an dieser Stelle die Journalistin nach.
„Ich kriege schon von Patienten ausgerichtet, dass die Täter mich im Blick haben. Aber da ich in einer Institution arbeite und auch Akten führe, wurde ich nie persönlich bedroht“, antwortet die leitende Klinikärztin (Interview taz, 10.8.2022).

Kann diesen Aussagen entnommen werden, dass eine laufende Tätergefahr auch für das Klinik-Personal in Deutschland als durchaus real angenommen wird?

Vorträge über „Geheimhaltungspraktiken Ritueller Kultgruppen“

Das Thema Mind Control ist allgemein in Deutschland sehr präsent, zum Beispiel in Publikationen: In einer von der Aufarbeitungskommission finanzierten Studie zu Ritueller und Organisierter Gewalt wurden im Infoblatt zur Akquise der Teilnehmenden aus therapeutischen Berufen bei der Definition von Ritueller Gewalt explizit „satanistische Gruppierungen“ als Beispiel genannt (vgl. Teilnahmeinformationen zur Studie Uni Hamburg), auch in der in Folge veröffentlichen Studie wurden „satanistische Kulte“ an mehreren Stellen erwähnt. Geleitet wurde das Forschungsprojekt von der damaligen therapeutischen Leiterin der Spezialambulanz für Traumafolgestörungen des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf, Frau Dr. Dipl. Psychologin Susanne Nick, die auch eben diese Ambulanz mit aufgebaut hatte.

Das alles wirft im Gesamten die Frage auf, ob auf Basis der Patienten-Erzählungen dieses Narrativ immer mehr Verbreitung erhält oder ob es auch umgekehrt sein könnte: Dass diese Thesen aus Publikationen – die bestimmt auch von Patienten gelesen werden – in den Therapie-Alltag der Patienten schwappen.

Doch längst nicht nur in Publikationen, sondern auch auf kommenden Fachtagungen (die sich teilweise nicht nur an Fachpersonen, sondern auch direkt an Betroffene wenden) scheint das Thema Mind Control zentral:
Beim Fachtag vom Traumahilfezentrum München im März 2023, wo u.a. Nicki Ulke von „Lichtstrahlen Oldenburg e.V.“, die in der TV-Doku „Höllenleben“ einen satanistischen Kult beschrieben hat, gemeinsam mit Claudia Fischer über mediale Berichterstattung referiert, gibt es diverse Workshops zu diesem Themenfeld: über den „Umgang mit Suizidprogrammen im Ausstiegsprozess“, über die absichtliche Erzeugung einer DIS bereits ab Geburt oder auch über „Geheimhaltungspraktiken Ritueller Kultgruppen“ . (Der Vortrag über kultische Geheimhaltung scheint übrigens bei den Teilnehmenden des Fachtags so begehrt, dass er für Tag eins bereits ausgebucht ist und nur noch Plätze auf der Warteliste frei sind.)

Auch bei der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation (DGTD) im Mai 2023 gibt es einen ähnlichen Workshop, der sich mit der „Gedankenkontrollprogrammierung“  (wie es wörtlich auf der Webseite heißt) auseinander setzt.

Das Narrativ von Mind Control sowie Tätern, die ihre an einer DIS leidenden Opfer beharrlich verfolgen und am Ausstieg hindern, scheint also hierzulande in keiner Form kritisch hinterfragt zu werden.

Im Gegenteil.

Was folgt nun aus dieser Auflistung von einzelnen Sachverhalten, wie sehr das Thema Mind Control auch in Deutschland in Kliniken, Publikationen, Fachtagungen etc. präsent ist?
Es können an dieser Stelle keine Antworten geliefert, sondern offene Fragen in den Raum gestellt werden: Wäre eine Katastrophe wie in der Schweiz auch bei uns in Deutschland theoretisch möglich? Und falls die Antwort bejahend wäre: Was tun wir prophylaktisch dagegen? Wir als Zivilgesellschaft gemeinsam mit Ärzten, Kliniken und Therapeuten, damit es nie soweit kommt, dass eine Verschwörungstheorie Menschen gefährdet.

Es bleibt inständig zu hoffen, dass nicht nur in der medialen Berichterstattung sondern auch in Fachtagungen, Symposien und vor allem im klinisch-therapeutischen Alltag das Gutachten über die tragischen Vorfälle am Psychiatriezentrum Münsingen reflektiert wird.

Prophylaktisch.
Bevor etwas passiert.

Zum Weiterlesen:

Facebookseite Dissoziative Identitätsstörung

Facebookseite Satanic Panik

Ein Kommentar

  1. Hallo,
    Kann es sein, dass ihr euch irgendwie vertut?
    Mir ist da was aufgefallen:
    – der Fall „Leonie“ bezieht sich auf “ einsuggerierten satanisch- rituellen Mißbrauch durch eine Schweizer Klinik
    – die Klinik soll das Psychiatriezentrum Münsingen sein
    – ABER die aktuell durch die Medien gehenden Meldungen über Fehltherapie durch einsuggerierten satanisch- rituellen Mißbrauch beziehen sich auf die Klinik Littenheid/Sirnach
    – die Klinik MÜNSINGEN steht mit was anderem in Verdacht, nämlich: Ärzte aus der “ Kirschblütengemeinschaft“ angestellt zu haben
    – die „Kirschblütengemeinschaft“ steht wiederum in Verdacht “ sektenartig“ zu sein.Sie Predigt zb.“ grenzenlose Liebe und das Inzesttabu und steht in Verruf Patienten mit „Psycholyse“ zu behandeln.

    Ich komme nicht mehr mit bei diesem ganzen Durcheinander.
    Vielleicht könnt ihr das mal entzerren!??
    Und gegebenenfalls richtig stellen?

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