Suggestive Fehltherapie mit fatalen Folgen

Autoren: Nora und Marvel

Vorwort
Meine Teamkollegin Nora hat gestern – unmittelbar, nachdem die neue SRF Dokumentation erschien – sofort damit begonnen, darüber einen Artikel zu verfassen. Ihrer ist fertig, ich hingegen sitze vor meinem leeren Word-Dokument und finde keine Worte. Wo anfangen? Wo aufhören? Was kann man noch tun, sagen, erklären? Was wird noch alles passieren? Ist die Messlatte dessen, was es an Missbrauch innerhalb einer Therapie geben kann,
überhaupt noch steigerungsfähig?

Ich habe mich entschieden, Noras Artikel zu nutzen, um mich daran entlang zu schlängeln und auf das einzugehen, was sie bereits schrieb. Einen anderen Weg gibt es für mich gerade nicht, diese Tragödie in Worte zu kleiden.
Marvel

Diese Geschichte geht unter die Haut: eine junge Frau, die psychotherapeutische Hilfe sucht und schlussendlich aufgrund einer suggestiven Fehltherapie in der Psychiatrie landet, wo sie über Wochen jede Nacht ans Bett fixiert wird, damit es zu keinem „Täterkontakt“ kommt.

Video auf YouTube, SRF rec., 10. Januar 2023

Robin Rehmann und Ilona Stämpfli haben im dritten Teil der SRF Dokureihe über Satanic Panic und rituelle Gewalt einen weiteren Therapieskandal aufgedeckt – die psychotherapeutische Behandlung von Leonie, deren WhatsApp Hilferufe aus der Klinik an das Journalisten-Team betroffen machen: „Es dreht sich alles wieder nur um die ganze Gewalt, die nicht stattfindet. Um diesen ganzen Kult, den es nicht gibt. Es macht mich wirklich kaputt.

Marvel: Man sieht deutlich, wie sehr dieser Hilferuf von Leonie die Journalisten betroffen gemacht hat. Genauso wie es den beiden Journalisten in der Sendung ging, geht es auch mir. Wenn man über einen längeren Zeitraum an so einem brandgefährlichen Missbrauchsthema arbeitet, recherchiert, sich mit all den Opfern und Verwicklungen, so auch Netzwerken befasst – und mit dem, was es niemals gegeben hat – geht es an die Substanz.

Vor ihrer Therapie, die sie als Teenager begann, hatte Leonie noch nie etwas von satanistisch-rituellem Missbrauch gehört, das wurde erst in der Traumatherapie zum Thema gemacht, in der sie sieben Jahre lang war und irgendwann selbst daran zu glauben begann, rituell missbraucht worden zu sein. Es ging schlussendlich soweit, dass ihre Therapeutin die aktuellen Aufenthaltsorte von Leonie mit einer Handy-App trackte, um etwaigen Täterkontakt zu unterbinden und mit ihrer Patientin über 5000 WhatsApp Nachrichten hin und herschrieb.

„Unser Chatverlauf ist endlos. Das hat mir auch gut getan, zumindest am Anfang“, beschreibt Leonie in der Doku die Abhängigkeit von ihrer Therapeutin, ohne die sie irgendwann sogar dachte nicht mehr leben zu können.

Marvel: Es gibt so etwas wie ein Abstinenzgebot. Das untersagt dem Therapeuten u.a. während der Behandlung eine private Beziehung zu dem Patienten aufzunehmen und fordert, eine professionelle Distanz zu wahren. Allerdings: Egal ob in der Schweiz oder in Deutschland, es gibt (immer mehr) Traumatherapeuten, die die komplette Kontrolle über die Patienten übernehmen, welche in ihrer freien Zeit – also nicht nur innerhalb der Klinik – ihrer Selbstbestimmung beraubt werden. Man beginnt ein fanatisches Konstrukt um sie herum aufzubauen und mit den Patienten wie mit einer Marionette zu jonglieren, die – das zeigt der weitere Verlauf – keinen eigenen Willen mehr hat.

Dass die Therapeutin ihrer Patientin aus dem Buch von Alison Miller, einem Standardwerk der Satanic-Panic-Verschwörungstheorie, über den „satanischen Kalender“ vorlas und Leonie nahelegte, den Kontakt zu ihrer Familie abzubrechen, weil diese in den Kult involviert wäre, zeigt ein Therapeut-Patient-Verhältnis, was zunehmend an Distanz verlor. Es gipfelte darin, dass die Therapeutin eine Anzeige gegen unbekannte Täterschaft einbrachte und die Staatsanwaltschaft Leonie observieren und ihr Telefon abhören ließ – die Unterlagen der Kantonspolizei dazu füllen zwei dicke Aktenordner. Eines stand jedoch bald fest: wie sich aus dem Abschlussbericht aus 2018 ergibt, konnten die Ermittlungsbehörden keinen einzigen Beweis für derartige Täterkreise finden. 

Marvel: Genauso wie in den letzten 40 Jahren weltweit ließ sich auch jetzt kein einziger Beweis finden, weil es diesen satanischen Kult nicht gibt. Erschreckend ist, dass sich der Staatsanwalt involvieren ließ (→ wie hierzulande auch die UBSKM) und die Patienten observiert und abgehört wurde. Man muss sich an dieser Stelle vergegenwärtigen, dass Leonie nicht in die Hände von Schwerkriminellen fiel, sondern dass sie einfach nur die Patientin einer Therapeutin und/oder in einer Klinik war. Es waren Therapeuten, Kliniken, Polizei und Staatsanwalt, die eine psychisch erkrankten Frau schwer traumatisierten. Ich würde mir gerne sagen (lassen), dass ich dramatisiere, jedoch ist es genau das Gegenteil: Das, was im gesamten deutschsprachigen Raum geschieht, lässt sich in der gesamten Bandbreite des Fatalismus nicht mehr erfassen und wiedergeben.

Die Verschwörungserzählung und die angebliche Kult-Gefahr wurden immer mehr zum Selbstläufer und Leonie anschließend beim Psychiatriezentrum Münsingen in „fürsorglicher Unterbringung“ stationär aufgenommen; jene Klinik, wo laut aktuellem Bericht die Verschwörungserzählung der Satanic Panic verbreitet wurde. In den Patientenakten schrieben Ärzte über erfolgte Programmierungen und von angeblichen sodomistischen Ritualen, die drastischer nicht sein könnten – und Leonie wurde zum Schutz vor vermeintlichen Tätern ans Bett zwangsfixiert und sogar ein Schutzaufenthalt im Ausland stand im Raum.

Den Albtraum, welchen Leonie aufgrund der verschwörungsgeleiteten Fehlbehandlungen erleben musste und der ihr Leben fast zerstörte, macht sprachlos. Auf Nachfrage des SRF weist die Therapeutin die erhobenen Vorwürfe zurück, allerdings – um es in Leonies Worten wiederzugeben: „Wenn man so etwas nicht glaubt, macht man das nicht.“

Marvel: In weiterer Folge schob die Therapeutin Leonie die Verantwortung zu. Und da bitte ich nun wirklich jeden Betroffenen, der überzeugt ist, in einem satanischen Kult missbraucht worden zu sein, um ganz besondere Aufmerksamkeit:
Das, was Leonie passiert ist, wird – davon bin ich überzeugt – vielen Opfern passieren. Wenn die Verschwörungsblase platzt, werden die meisten Therapeuten sagen, dass die Kult-Inhalte einzig von der Patientin vorgetragen wurden und dass man ihr innerhalb der Therapie das Gefühl vermitteln wollte, sie könne zu 100% vertrauen, auch wenn man – also die Therapeutin – selbst nicht an diesen Kult glaubt/e.
Kaum einer der Verantwortlichen wird – wenn es soweit ist – die Verantwortung übernehmen.
Zur generellen Macht, die Therapeuten haben, weiter unten mehr.

Angesichts dieser Skandale aus der Schweiz bleibt beim Lesen des Artikels vom Sommer 2022 aus der taz ein mulmiges Gefühl:  Auch in deutschen Kliniken wird bei DIS-Patienten in Kliniken in Zusammenhang mit ritueller Gewalt von etwaigem anhaltenden Täterkontakt ausgegangen. Wann gibt es auch bei uns Konsequenzen aus den Satanic Panic-Therapieskandalen der Schweiz?

Marvel: Hier an der Stelle endet Noras Artikel, aber nicht meiner. Ich habe den Eindruck, dass ich jetzt erst soweit bin, meine Sicht der Dinge in aller Deutlichkeit zum Ausdruck zu bringen.
Danke Nora für deine Zeilen.

Die Macht der Psychiater und Psychotherapeuten

Im Mai 2022 kam das Video des Schweizer Psychiaters Frank Urbaniok heraus. In diesem Video spricht Herr Urbaniok nicht nur das Thema Satanic Panic an, sondern auch die dunkle Seite (Macht) der Psychologie, was ihn für mich sehr glaubwürdig werden ließ.

Was Patienten in der Verschwörungs-Bubble derzeit erleben, ist bereits eine Form der Macht, die aufzeigt, dass Therapeuten selten in ihrem Tun und Wirken kontrolliert werden. Diese Macht ist den Patienten durchaus angenehm. Sie bekommen – wie auch Leonie teilweise schilderte – Aufmerksamkeit, werden geschätzt, bekommen einen Wert, fühlen sich gesehen und verstanden. Grenzenlos, wie es scheint. Therapeuten nehmen für diese Patienten – scheinbar – alle Kämpfe auf sich.

Nur eines darf man dabei nicht aus den Augen verlieren:

Diese extrem große Distanzlosigkeit kann durchaus ins Gegenteil umschlagen, wenn sich bestimmte Therapeuten ggf. anfangen, in ihrer Bedeutung und Schaffenskraft bedroht zu fühlen.

Wenn es um die Glaubwürdigkeit geht, wem wird man diese am Ende tatsächlich zugestehen? Diagnosen können missbraucht werden. Sie können dazu benutzt werden, dass der Psychiater, Psychologe oder Psychotherapeut den Daumen nach oben oder nach unten richtet.

Die Älteren unter den Lesern erinnern sich mit Sicherheit, dass es erst einige Jahrzehnte her ist – im historischen Sinne eine unwesentliche Zeitspanne – als psychisch kranke Menschen aussortiert wurden. Heute noch unterliegen wir einem Stigma und regelmäßig wird aufgedeckt, wie stark – noch immer – die Gewalt in Psychiatrien ist. Man erinnere sich an die Sendung aus 2019, in der Wallraffs Team in den Psychiatrien undercover unterwegs war. Wer sich mit der Psychiatrie-Geschichte befasst, weiß auch, was in der DDR und weit darüber hinaus passiert ist (siehe auch der Artikel vom Spiegel aus 1991: Das ist russisches Roulette). Oder man erinnere sich an die Zustände in Ueckermünde.

Kaum einer wurde für seine Fehlbehandlungen belangt. Ich könnte eine endlos lange Liste aufzählen, was alleine in den letzten 20 bis 30 Jahren in Psychiatrien und Psychotherapien geschehen ist. Von all diesen Vorfällen ist mir kein einziger Fall bekannt, wo die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden.

Ich bitte darum, nicht missverstanden zu werden. Zum Glück lässt sich eine Entwicklung beobachten, in der es vorwärts geht und ich kenne viele Kliniken und Psychotherapeuten/Psychiater, denen ich mein eigenes Kind anvertrauen würde, wenn sie psychische Probleme hätte. Psychotherapie ist grundsätzlich richtig und wichtig!

Aber es gibt eben noch immer verdammt viel Missbrauch unter der Oberfläche in diesem Bereich, oder wie Frank Urbaniok sagte: die dunkle Seite der Psychologie.

Im Fall der Fälle wird man dem Patienten nicht glauben (können). Der Grund? Jedem Verhalten, ja, sogar jedem gesunden Verhalten, kann ein Psychologe eine Störung andichten. Man zeigt ein bisschen Selbstbewusstsein? Dann ist man narzisstisch. Man zeigt Misstrauen? Dann ist man paranoid. Es gibt nichts, was man nicht mit einer Diagnose versehen kann.

Diese Möglichkeit gibt den psychologischen Fachleuten jederzeit die Macht, den Daumen nach oben oder nach unten zu richten und damit zu entscheiden, wie es mit dem Patienten weiter gehen wird und ob dieser glaubwürdig ist oder eben nicht. Patienten werden immer die Verlierer sein.

Im Falle Leonie wäre auch sie eindeutig die Verliererin gewesen, doch sie hatte Glück im Unglück. Wären Robin Rehmann und Ilona Stämpfli nicht aktiv dabei aufzuklären, hätte die Therapeutin mit der Behauptung, es wäre alles einzig nur von der Patienten an sie herangetragen worden, und sie würde überhaut nichts davon glauben, definitiv Erfolg gehabt.

Ich bin einfach nur sehr froh und dankbar, dass Leonie die Kraft fand, sich an das SRF Team bzw. an die Journalisten zu wenden. Ich wünsche ihr von ganzem Herzen, dass sie diese vergangenen Jahre mit dem nötigen familiären Halt aufarbeiten kann.

Marvel

Dieser Artikel stammt aus der Kategorie: Eine Betroffene spricht (Artikel von unten nach oben)

  1. Suggestive Fehltherapie mit fatalen Folgen
  2. Hugo Stamm über Leonies Fehltherapie
  3. Exzellente Kommentare mit Bravour
  4. Podcast mit Robin Rehmann und Leonie: Verschwörungsmythen in der Psychotherapie
  5. Q&A von Robin Rehmann und Ilona Stämpfli

Weiterführende Links:

2 Kommentare

  1. Danke für den Bericht und die Links. Danke auch dafür, dass Sie sich trotz gerechtem Zorn nicht zu einer Polemik hinreißen ließen und sachlich blieben. Denn auf das spekulieren die „Teufelsaustreiber“, die ihren Klienten falsche Erinnerungen induzieren, dass sie über den Stil der Argumentation vom Kern des Themas abrücken und ihre Kritiker als unglaubwürdig denunzieren können.

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