MPS – Eine neue Frauenkrankheit?

Das Jahr 1993 markiert einen Einschnitt in der Betrachtung der Dissoziativen Identitätsstörung in Deutschland, denn es war genau jene Zeit, in der die kollektive DIS (MPS)-Hysterie hierzulande ihren Anfang nahm. (Den Begriff Hysterie benutze ich hier im fachlichen und nicht im moralisch abwertenden Sinne).

Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin Tanja Schmidt, geb. 1961, war in den frühen 1990er Jahren für den Verein Wildwasser-Berlin tätig; ein Verein, der später an der Verbreitung des Verschwörungs-Narrativ »Rituelle Gewalt & Mind Control« sehr stark beteiligt sein sollte. Schmidt verfasste damals einen Artikel mit dem Titel »Eine neue Frauenkrankheit? Zur Problematik der Diagnose MPS«:

Diesen Aufsatz betrachte ich als ein elementar wichtiges Zeitdokument, denn hier wird von einer überaus kompetenten (Augen-)Zeugin berichtet, in welchem Ausmaß der Missbrauch im traumatherapeutischen Setting seinen Anfang nahm. Ich nenne es – genauso wie Tanja Schmidt – Missbrauch, weil, so ihre Worte, “nahezu sämtliche Axiome (Grundregeln) therapeutischer Ethik mit hinweggespült wurden” (ebd. S. 51) . Das ist etwas, was auch in der Gegenwart von Skeptikern mit einem psychologischen/psychotherapeutischen Background kritisiert wird.

In einem anderen Artikel schrieb ich bereits, dass bestimmte Traumatherapeutinnen von den Betroffenen als Übermutti angesehen werden. Damit hatte ich wohl die richtige Wahrnehmung für das, was von Beginn an – also seit den 1990er Jahren – Bestandteil der damals entstandenen Traumatherapie wurde: Nämlich die sogenannte Nachbeelterung, welche im allgemein verstandenen Sinne auf Grund der massiv hohen Gefahr der malignen Regression und destruktiven Abhängigkeit bereits sehr fragwürdig ist, im Fall DIS-Betroffener jedoch jegliche Grenzen der kompetenten, souveränen und professionellen Distanz sprengt.

Um das Wesentliche von Tanja Schmidt zu zitieren:

“Die offen gebliebene Frage ist:
Welche Motive mögen diejenigen leiten, die diese Diagnose so freizügig gewähren und für ihre offensichtliche Konjunktur sorgen?
Und was hat es damit auf sich, dass das Etikett gerade in der Frauentherapieszene besonders bereitwillig in Anspruch genommen wird – einer Szene, in der von größerer Sensibilität hinsichtlich der Etikettierungsdebatte auszugehen ist, während in ihr zugleich die Inszenierung der »Multiplen« das Schauspiel einer kollektiven  Hysterie zu erzeugen vermag, in der der Unterschied zwischen Realität und Phantasie bis zur Unkenntlichkeit verschwimmt wie beim »MPS-Kongress« 1994 in Bielefeld eindrucksvoll anschaulich?
 
Hier waren sämtliche bekennenden »Multiplen« in Begleitung ihrer Therapeutinnen angereist und inszenierten vor Ort ein spontanes offensives coming out, dessen Aussprache vor einem Publikum von über 200 Frauen darin mündete, dass sich die Frauen einzeln bei ihren Therapeutinnen bedankten, dass sie von ihnen identifiziert worden waren.
Es drängte sich der Eindruck auf, dass jene den »sekundären Krankheitsgewinn« (Freud) hier mit ihren Klientinnen teilten bzw. um diesen konkurrierten, anstatt ihn aufzuklären.
 
Der Gewinn auf TherapeutInnen-Seite schien – neben dem unmittelbaren Machterleben – die Erfüllung von Größenphantasien zu sein (sich als eine der wenigen zu erleben, die diese faszinierende Störung zu behandeln bereit sind) bzw. in dem Ausleben von – verblüffend patriarchal konzipierten – Mütterlichkeitsidealen, in deren Rahmen mit der Hingabe an die Versorgung (=Bemutterung) der vernachlässigten Kind-Persönlichkeiten in den Klientinnen nahezu sämtliche Axiome therapeutischer Ethik mit hinweggespült wurden.

Die Ambivalenz-Spaltung wurde nicht gedeutet, sondern kollektiv ausagiert:
Auf der Bühne der Stadthalle Bielefeld die versammelten hilflosen Kind- (und Mann-) Persönlichkeiten der bekennenden »Multiplen«  – im Auditorium die versammelte Professionalität der helferisch kompetenten Therapeutinnen.

Das Symptom nicht mehr zu haben, sondern es zu sein, vermag die eingangs genannte Phantasie – gemeinsam – in Wirklichkeit umzuschaffen:
wer daran teilhat, ist eine von vielen, ist Teil des Kollektivleibs. Die Massivität, mit der diejenigen, die einzeln bleiben, bekehrt werden oder abgewiesen werden müssen, gemahnt an Glaubenskriege.”
Tanja Schmidt: Eine neue “Frauenkrankheit”? Zur Problematik der Diagnose MPS (Multiple Persönlichkeitsstörung), 1997, S. 51 f.

Ich möchte insbesondere auf den letzten Satz des Zitats hinweisen: »wer daran teilhat, ist eine von vielen, ist Teil des Kollektivleibs. Die Massivität, mit der diejenigen, die einzeln bleiben, bekehrt werden oder abgewiesen werden müssen, gemahnt an Glaubenskriege.« (vgl. ebd. S. 51 f.)

Heute sehen wir mit aller – erschreckender – Deutlichkeit, wohin dieser Mechanismus geführt hat: Ein in sich geschlossener Kreis, bestehend aus Traumatherapeuten, Beratern und DIS Patienten, weist sektenartige Strukturen auf (Ian Hacking nennt diesen Kreis »MPS Subkultur«[1]), die in Verbindung mit dem Narrativ des satanischen-rituellen Missbrauchs in ganz Europa – genauso wie einst in den USA – Praxen, Kliniken und Vereine infizieren und massiven Schaden anrichten. Siehe dazu auch:

Das Problem ist, dass man in Deutschland weitermacht, als wäre nichts dergleichen aufgedeckt worden. Letztens sagte mir eine DIS Betroffene mit einem angeblich rituell/satanischen Hintergrund erbost: »Zum Glück ist die Schweiz unabhängig!«

Das ist es also, was man aus den Schweizer Vorfällen mitnimmt?

Die Verschwörung »Satanic Panic« ist inzwischen so derart einzementiert, dass die Betroffenen annehmen müssen, dass die Gutachten – jeweils ca. 50 Seiten lang – die Opfer-Berichte, die Reportagen, die Arztberichte Beweise dafür wären, wie vernetzt die Täter untereinander sind. Oder aber man ist sich einer Lüge und Inszenierung bewusst und infolgedessen einfach nur erleichtert, dass das, was in der Schweiz passiert, hier (erstmal) keine Auswirkungen zu haben scheint.

Allerdings dürfte dies ein Trugschluss sein. Die Unabhängigkeit der Schweiz sorgt nicht dafür, dass man in Deutschland unbeteiligt ist/bleibt. Ich bin mir sicher, dass die Beweise und Schweizer Gutachten ein Echo hinterlassen werden, was weit über die Landesgrenzen hinausgeht.

Tanja Schmidt, die bereits die Anfänge mit offenen Augen und Ohren verfolgt und die gefährlichen Abläufe dokumentiert hat, gebührt großer Respekt. Sie fasste die erfolgten therapeutischen Beeinflussungen folgendermaßen zusammen:

“Die Frauen, die in unsere Beratungsstelle kamen, ließen in ihren Erzählungen über das, was in ihren Therapien geschieht, ein Ausmaß an suggestiver Beeinflussung sichtbar werden, das ich – zumal im feministisch-therapeutischen Kontext – nie für möglich gehalten hätte und inzwischen eindeutig als Missbrauch (der Definitionsmacht) in der Therapie bezeichnen würde!”
Tanja Schmidt: Eine neue “Frauenkrankheit”? Zur Problematik der Diagnose MPS (Multiple Persönlichkeitsstörung), 1997, S. 52

Ich kann versichern, was ich demnächst auch in einem eigenen Artikel aufzeige: Mir liegt nicht nur die PDF Datei von Tanja Schmidt vor, sondern ebenfalls zahlreiche andere Fachartikel aus jenen Jahren, die diese dokumentierten Inhalte für den Betrachter bzw. Leser sichtbar und somit auch glaubwürdig machen.

[1] Hacking, Ian: Multiple Persönlichkeit. Zur Geschichte der Seele in der Moderne, 1996, S. 54

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