Fachvortrag: Satanic Panic und Rituelle Gewalt

Autorin: Nora Sillan

Quelle: YouTube, Psychiatrie St. Gallen

In diesem – auf YouTube abrufbaren – Vortrag dekonstruiert PD Dr. med. Thomas Maier, ärztlicher Direktor der Psychiatrie St. Gallen und Gutachter des Untersuchungsberichts zum PZM Münsingen, das Narrativ von Satanic Panic aus fachlich-psychologischer Sicht.

Hier die zentralen Punkte seines Vortrags zusammengefasst:

Genauso wie Frank Urbaniok weist auch Thomas Maier auf den Zirkelschluss als typisches Element dieser Verschwörungstheorie hin, die v.a. auf Überzeugungen von therapeutischem Fachpersonal basiert: „Therapeut_innen sehen ihre Aufgabe darin, die Missbrauchsopfer aus den Fängen der Satanisten zu befreien.“

Was hat sich seit Beginn der Aufdeckungen getan?

Ich habe den Eindruck, dass in den letzten ein, zwei Jahren – gerade auch durch die mediale Berichterstattung – einige der Kreise bewusst diese Dinge etwas zurückgenommen haben, dass sie (…) den Satanismus, (…) ein bisschen abschwächen und diese Geschichten nicht mehr so propagieren.“ Dazu hält Maier fest, dass die Begriffe Satanismus und rituelle Gewalt zunehmend weniger verwendet werden (siehe hierzu auch unseren Artikel: „Codierte Geheimsprache“). Seine Erklärung: „Ich glaube, dass das ein bisschen die Vorsicht ist, die zugenommen hat, indem sie sich darauf beschränken, von organisierter Gewalt zu sprechen.“

Zum weiterhin postulierten Kern gehöre jedoch das Narrativ, dass Täter, die über psychologisches Spezialwissen zu Trauma und Dissoziation verfügen, ihre Opfer gezielt mittels Mind Control beeinflussen und eine Dissoziative Identitätsstörung induzieren, „eine gigantische psychochirurgische Interventionstechnik (…) mit spezifischen Techniken, die aber nirgends beschrieben werden, wie das genau gehen soll.“

Bezogen auf Definitionen hält Maier einen weiteren interessanten Punkt fest: Zu u.a. dem Themenbereich rituelle Gewalt wurde von Jan Gysi im Jahr 2020 der Begriff eines Typ III Traumas eingeführt. In seinem Buch zu Traumafolgestörungen schreibt Gysi: „Von den bisher beschriebenen Formen von Traumatisierungen sollten besonders schwerwiegende Arten von Gewalt abgegrenzt werden, die sich durch den Grad an Vernetzung der Täterschaft und deren Ausmaß an kriminellem psychologischen Fachwissen zum Herstellen posttraumatischer Störung und struktureller Dissoziation unterscheidet. Diese schweren Formen treten besonders in organisierten und ritualisierten Gewaltstrukturen auf. Um sie von Typ I-Traumatisierungen (Monotrauma) und Typ II-Traumatisierungen (Mehrfachtrauma) abzugrenzen, werden sie hier Typ III-Traumatisierungen benannt.“ (Jan Gysi, Diagnostik von Traumafolgestörungen, 2020, S. 30f.)

Wie beurteilt Maier diese Einordnung? Typ III-Traumatisierung ist „ein Begriff, der sonst in der Wissenschaft nicht gebräuchlich ist.“ Es werde also ein Stück weit eine eigene Terminologie verwendet, was einen Versuch darstellt, dem einen wissenschaftlichen Anstrich und Glaubwürdigkeit zu geben, so Maier, der in seinem Vortrag auch auf die mittlerweile von Jan Gysi offline genommene Publikation zu organisierter sexueller Ausbeutung (wir haben berichtet) Bezug nimmt.

Ein auswegloser Teufelskreis“

Da die Täter, so das Narrativ, sehr gut vernetzt wären und absolut anonym agierten, könnten sie nicht gefasst werden und würden immer wieder knapp entwischen. Und zwar so knapp, dass vielleicht sogar noch „Schwefelgeruch in der Luft ist“, fügt Dr. Maier mit Wortwitz und treffender Ironie hinzu. „Die Therapeuten phantasieren, dass die Täter um Kliniken mit Autos herumkurven“, zudem könnten diese per Handy überwachen, was in den Therapien erzählt wird, also „ein auswegloser Teufelskreis, in dem die Opfer vermeintlich drinnenstecken.“

Hinzu kommt auch eine teilweise „ungute Verquickung vom Selbsthilfegruppen mit Fachpersonen“, die das Narrativ vertreten, – als Beispiel nennt Maier hier den Opferschutzverein Cara (Care About Ritual Abuse), der Betroffene und Fachpersonen zusammenbringt. Dazu erwähnt er auch einige Tagungen, Konferenzen und Seminare, die in den letzten Jahren in der Schweiz zu den Themen Opferschutz und rituelle Gewalt stattgefunden haben: „Es sieht so aus, dass man versucht, diese Theorien auch an renommierten, etablierten Institutionen reinzubringen“. Dadurch entstehen Kreise mit starkem Zusammenschluss und in sich geschlossenen Supervisionsketten.

Was hierbei auffällt? „Diese Kreise kommunizieren gegen außen immer vorsichtiger, Webseiten-Inhalte werden angepasst oder gelöscht, bestimmte Verbindungen verheimlicht.“ Das bedeute, dass es einen gewissen Rückzug in die Verborgenheit gebe, „so kann man sagen, dass die Anhänger von dieser Idee, die die geheimen Verschwörungen bekämpfen wollen, eigentlich selber mittlerweile ein bisschen ein Geheimbund werden“, sagt Maier mit einer gewissen Ironie, warnt jedoch im selben Atemzug vor einer Umkehrung dieses Gedankens und einer Hexenjagd. Er plädiert dafür, diese Menschen mit kritischen Fragen zu konfrontieren, damit sie ihre Praktiken überdenken.

Mind Control als Mythos

Der immer wieder geäußerten Unterstellung, dass die Realität von Traumatisierungen negiert werde (was früher durchaus der Fall gewesen ist), begegnet Maier mit einer Klarstellung: „Dennoch geschehen solche Verbrechen im Rahmen der normalen menschlichen Beziehungsnetze und unterliegen den üblichen sozialen Gesetzmäßigkeiten: Sie werden erinnert, es kann darüber gesprochen werden, es gibt u.U. Zeugen, Mitwisser, Spuren, objektive Beweise.“ Dissoziation und verschüttete Erinnerung gibt es, sie seien aber die Ausnahme. Denn: „Normalerweise ist es nicht so, dass man solche Verbrechen niemals aufdecken kann und dass man niemals die geringste Spur findet.“

Ähnlich verhält es sich mit Mind Control: „Es gibt keine Beweise dafür, dass man Dissoziationen gezielt induzieren kann. Diese Geschichte mit Mind Control ist ein reiner Mythos, es gibt keine Belege dafür, dass so etwas möglich ist.“ Zudem gibt es keine Beweise für geopferte Säuglinge oder dass Kinder zu Morden in satanistischem Kontext angestiftet wurden, zeichnet Maier den Verlauf der amerikanischen Satanic Panic der 1980er Jahre bzw. der Moralpanik als Massenhysterie seit dem Mittelalter nach.

Davon abgeleitet kontextualisiert er die heutige Satanic Panic im Wiederaufleben uralter Verschwörungstheorien und darin, eine Erklärung für etwas Ungeheuerliches zu finden: „Die meisten, die diesen Verschwörungstheorien anhängen, sind (…) sehr engagierte Leute, die die Geschichten, die sie von ihren Patient_innen hören, nicht einordnen können“. Diese Verschwörungstheorie sei ein dankbares (aber dysfunktionales) Erklärungsmuster, um die Ohnmacht abzuwehren: „Wenn ich der Verschwörungstheorie anhänge, habe ich plötzlich glasklare Erklärungen und unerklärliche Dinge fügen sich plötzlich für mich (…) zusammen. Alles macht Sinn“, beschreibt er den komplexitätsreduzierenden und sinnstiftenden Charakter des Narrativs. Das sei auch noch gekoppelt mit einem „Spezialwissen“ und gepaart mit einer vermeintlichen Klarheit dieses Therapeutenkreises – und einem gewissen Erhabenheitsgefühl, den Patient_innen helfen zu können. Dadurch gehe der Blick dafür verloren, dass diese Therapien eben nicht zielführend sind, sondern zu einer Aufrechterhaltung der Störung führen. Gründe hierfür sieht Maier in fachlich überforderten Therapeut_innen, Abhängigkeitsverhältnissen zwischen Patienten und Therapeuten sowie ungenügenden Ausbildungen – ein Punkt, an dem es mit einer Ausbildungsoffensive anzusetzen gelte.

Spektakuläre Missbrauchsfälle dürfen therapeutisch nicht einschüchtern, kritisiert Maier die akribische Beschäftigung mit extremen Gewaltphantasien sowie die eifrige Auflistung von „Räubergeschichten“ seitens mancher Therapeuten. Das sei eine übersteigerte Wahrnehmung, eine obsessive Beschäftigung mit etwas, was es zwar gibt, was aber im therapeutischen Alltag nicht so häufig sei. Dazu würden Täter als hochraffinierte Organisationen überhöht und dämonisiert: „Die Realität ist viel banaler, die meisten Täter, die sexuelle Übergriffe machen, sind hundsgewöhnliche Leute (…) keine hochspezialisierten Psycho-Chirurgen, die Menschen in Dissoziative Identitätsstörungen bringen können.“

Über Traumatherapie und DIS

In der Traumatherapie werde oft ein starker Fokus auf Dissoziationen gelegt, was diese durchaus auch verstärken kann. z.B. in der Arbeit mit verschiedenen Persönlichkeitsanteilen: „Dissoziation ist ein schwerwiegendes Symptom und nicht etwas, was man als Therapeut mit Freude begrüßen soll“. Patient_innen mit dieser Symptomatik müssen begleitet werden, aber mit Vorsicht, dass Therapeuten nicht zu sehr in diese Welt eintreten, so sein Fazit.

Die DIS, die Maier eher als eine Persönlichkeitsfragmentierung als eine Auftrennung der Person in mehrere Persönlichkeiten ansieht, ist eine schwerwiegende, ernste Diagnose, die nicht leichtfertig vergeben werden sollte. Demgemäß plädiert er für eine zurückhaltende Diagnostik: „Nicht jeder, der sich manchmal ein bisschen unterschiedlich fühlt oder verhält, sollte gleich diese Diagnose bekommen.“ Eine DIS – wie alle andere Störungen auch – sei nicht unabhängig von den sozialen, kulturellen und interpersonellen Verhältnissen zu sehen: „Das Symptombild ist nicht losgelöst von der sozialen Interaktion“ und wird verstärkt, indem therapeutisches Personal diese Störung unterstützt – aber nicht im Sinne eines bewussten Induzierens. Rutschen Patienten in schwere DIS-Symptome, entspreche diese Regression einem dysfunktionalen Coping, das heißt eine Behandlung sollte anti-regressiv sein und die stabilen Ich-Anteile stärken. „Eine Behandlung, die zum Aufdecken von mehr zusätzlichen Persönlichkeitsanteilen führt, ist nicht sinnvoll.“

Zum Abschluss äußert sich der ärztliche Direktor auch über die Patientinnen, die von Falschtherapie betroffen waren und mit deren Abhängigkeiten im Therapieverhältnis von professioneller Seite nicht gut umgegangen wurde: „Die Abhängigkeit wird ausgenützt, indem sie auf diese Geschichten [Verschwörungstheorien; Anm.,] gelenkt werden“. Nicht zuletzt haben falsche Anschuldigungen viel Leid über Familien gebracht, etwas, wofür auch die Behörden sensibilisiert werden müssen.

Sein Fazit: Viele der Fachorganisationen sind verunsichert und aus Fachkreisen, Institutionen und Fachgesellschaften fehlen immer noch klare Positionierungen: Es braucht Transparenz, fachliche Standards und Aufsichtsbehörden, die auch in privaten Therapiepraxen sicherstellen können, dass derartige Fehler nicht mehr passieren.

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