„Beobachter“: Admin. Verfahren gegen Jan Gysi

Autorin: Nora Sillan

Gegen Jan Gysi, Schweizer Psychiater und oft zitierter Trauma-Experte, wurde ein administratives Verfahren eingeleitet. Dies berichtet der „Beobachter“ in seiner Onlineausgabe:

Die Berner Gesundheitsdirektion führt derzeit wegen Hinweisen auf seine Nähe zu Mind Control ein administratives Verfahren gegen ihn, und die Ärztegesellschaft des Kantons Bern hat aus dem gleichen Grund ein Standesverfahren gegen ihn eingeleitet. Zu den laufenden Verfahren will Gysi keinen Kommentar abgeben. Es gilt die Unschuldsvermutung.“

Quelle: Beobachter, 27.3.2023

Gysi, der „trotz seiner teils zweifelhaften Ansichten (…) vielen als die Schweizer Koryphäe in Sachen Psychotraumatologie“ gilt, wie Journalistin Andrea Haefely schreibt, hatte in der von ihm verfassten Broschüre mit dem Titel „Organisierte sexualisierte Ausbeutung. Bericht für Strafverfolgung, Opferschutz, Opferhilfe & Therapie, aus psychotraumatologischer Sicht“ einen Vorschlag über den Einsatz von Fußfesseln im Opferschutz gemacht. Mittlerweile hat Gysi diese Broschüre von seiner Webseite gelöscht und merkt an, dass sie überarbeitet werde und nicht mehr gültig sei. (Allerdings kursiert diese 103 Seiten umfassende Publikation weiterhin im Internet und wird per Google Abfrage gefunden).

Worum ging es?

Ultima ratio, wenn andere ambulante Schutzmaßnahmen bei Menschen mit DIS nicht ausreichen würden, brachte Jan Gysi die Möglichkeit der elektronischen Überwachung mittels Fußfessel (Electronic Ancle Bracelet EAB) ins Spiel. Sein Vorschlag im Detail:

Der Alltagsanteil (oder allgemein die ausstiegswilligen Anteile) lässt sich zum Schutz ein elektronisches Fussband installieren. Über das EAB lässt sich der Aufentshaltsort des Opfers unabhängig vom Anteil, der die exekutive Kontrolle übernommen hat, nachverfolgen (in der Gegenwart und im Nachhinein). Dadurch kann ein Opfer aktiv gesucht und geschützt werden, und/oder das Opfer wird für Täter nicht mehr interessant, resp. der Kontakt zum Opfer wird für Täter zu riskant. Zudem lassen sich Sicherheitszonen einrichten, in welchen Betroffene sich frei bewegen können. Falls Täter sie in dissoziierten Zuständen abholen und an Orte, wo Gewalt stattfindet, mitnehmen wollen, wird ein Alarm ausgelöst.“

Quelle: Gysi, Organisierte sexualisierte Ausbeutung. Bericht für Strafverfolgung, Opferschutz, Opferhilfe & Therapie, aus psychotraumatologischer Sicht, 2021, S. 78f

Der Psychiater Dr. Thomas Maier, ärztlicher Direktor der Psychiatrie St. Gallen Nord, verfasste u.a. das Gutachten zum Psychiatrieskandal Münsingen (wir haben darüber berichtet). Nun äußert er sich im Beobachter kritisch zum Thema elektronische Fußfesseln als Opfer-Schutzmaßnahme, dies sei eine „groteske Überreaktion oder der auch eine Umkehr der Opfer-Täter-Logik“:

Auch hier erscheinen die Anhänger der Verschwörungstheorien besessen von «Räuberfantasien», die naiv anmuten. Unbewusst gleichen sich die Anhänger solcher Ideen den vermeintlichen Tätern an: Sie wollen die Opfer mittels Überwachungstechnik umfassend kontrollieren und bringen sie damit erst recht in Abhängigkeit und Ohnmacht. (…) Um der vermeintlichen Bedrohung durch Täter zu entkommen, liefern sich [die betroffenen Patientinnen; Anm.] in Tat und Wahrheit in auswegloser Weise den Therapeuten aus.“

Quelle: Interview Dr. Thomas Maier, Beobachter, 27.3.2023

Verein für Opfersicherheit aufgelöst

Ein interessantes Detail am Rande: Jan Gysis mittlerweile zurückgezogene Arbeitsbericht durfte unter Beachtung des Copyrights „frei weitergegeben“ werden, der Richtpreis von CHF 20,- konnte „als Spende an den Verein für Opfersicherheit bezahlt werden.“ (Gysi, Arbeitsbericht Organisierte und sexuelle Ausbeutung, S. 4) Dieser „Verein für Opfersicherheit“ wurde 2020 u.a. von Jan Gysi mitbegründet (BZ, „Momentan bin ich Freiwild„, 26.5.2021, S. 3), um eine Versorgungslücke zu schließen, wenn andere Maßnahmen nicht ausreichten. Der Verein befasste sich im Rahmen des Opferschutzes u.a. mit dem „Einbezug elektronischer Hilfsmittel“ (vgl. Gysi, Arbeitsbericht, S. 79).

Was geschah mit diesem Verein in Folge?

Der „Beobachter“ zitiert eine Stellungnahme von Jan Gysi: „Das Projekt wurde (…) 2021 bereits in einer frühen Abklärungsphase sistiert“, schreibt jedoch weiters (mit Betonung auf den zeitlichen Aspekt):

Tatsächlich wurde der Verein für Opfersicherheit, über den Gysi seine Idee mit elektronischen Fussfesseln weiterverfolgen wollte, aufgelöst. Allerdings erst im Januar 2023.“

Quelle: Beobachter, 27.3.2023

Gutachter Dr. Thomas Maier nahm auf diesen Verein in seinem im Oktober 2022 erschienen Bericht über das PZM Münsingen ebenfalls Bezug und merkte an, dass auf dessen Webseite offiziell gar nicht erkennbar war, „wer hinter dem Verein steckt“. (Gutachten, S. 28)

Klickt man jetzt die Vereinswebseite an, ist nur noch ein kurzer Text abrufbar: Als Grund für die Auflösung, so ist auf der Webseite des Vereins nachzulesen, werden „vereinzelt unausgewogene und tendenziöse mediale Berichte“ angegeben, „durch die auch seriöse Fachpersonen, wichtige Beratungsstellen und dieser Verein in ein falsches Licht gerückt wurden.“

Eine derartige Begründung verwundert jedoch: Eine seriöse, evidenzbasierte und empirisch-wissenschaftliche Forschung müsste doch gar nichts befürchten – schon gar nicht etwa durch Medienberichte in ein falsches Licht gerückt zu werden …?

Mind Control im Fachbuch

In seinem 2021 zum ICD-11 neu erschienen Buch „Diagnostik von Traumafolgestörungen“ erwähnte Jan Gysi den Begriff Mind Control (vgl. S. 30) und schrieb, dass seitens Täterkreise die „gezielte Herstellung dissoziativer Anteile dem methodischen Vertuschen der Straftaten dient.“ (Jan Gysi, „Diagnostik von Traumafolgestörungen“, S. 30) Mit Berufung auf die Studie von Nick et. al (2019) führte er zudem näher aus: „Manchmal kommen ritualisierte Aspekte wie Symbole, Zeremonien und Satanismus dazu“. (ebd., S. 30)

(Anmerkung: Zu den Forschungsarbeiten von Nick, Schröder, Briken et al. siehe auch unseren Artikel: https://dissoziationen.de/2023/03/20/um-den-heissen-brei-herum/)

Prof. Andreas Maercker von der Universität Zürich hat übrigens das Vorwort zu Gysis Buch geschrieben und lobte den Psychiater darin als „Integrierer“ in seinem Fachgebiet und als jemanden, der die größeren Zusammenhänge sieht und keine einzelne, lösgelöste oder abstrahierte Ideologie vertritt (vgl. Gysi, Diagnostik von Traumafolgestörungen, 2021, S. 7)

Über das Verfassen dieses Vorworts sagt der Zürcher Professor jetzt jedoch Folgendes:

„Nach dem heutigen Wissensstand um die Ausrichtung von Dr. Gysi in Sachen Mind Control und rituelle Gewalt würde ich das nicht mehr tun.“

Quelle: Beobachter, 27.3.2023

Magisches Denken und Kinderglaube“

Angesichts dieser Ausführungen ist es durchaus interessant, dass Gysi im September 2023 ein vom ZAP organisiertes Seminar in Wien abhalten wird (und anschließend auch beim Traumahilfezentrum München), wo es laut Inhaltsbeschreibung um „toxische Täterbindungen“ gehen soll. Hierbei finden sich u.a. unter dem Aufzählungspunkt „besondere Aspekte“ die Worte: „Konditionierungen/Programmierungen“.

Auch in der Vergangenheit hat sich Jan Gysi bereits mit Mind Control-ähnlichen Aspekten befasst, so schrieb er in seiner mittlerweile offline genommenen Broschüre:

Eine spezialisierte Täterschaft verfügt zudem über das Fachwissen, um neue Anteile herzustellen, Anteile gegeneinander auszuspielen, innere Kommunikation zwischen den Anteilen zu verbieten, gezielt mit Anteilen in Kontakt zu treten (zB. über Triggerwörter) und diesen Anteilen spezifische Anweisungen zu geben (zB. zu einer gewissen Uhrzeit an einem Ort zu warten, in einer Therapie oder bei Ermittlungen relevante Informationen zu unterdrücken, uvm.)“

Quelle: Gysi, Organisierte sexualisierte Ausbeutung. Bericht für Strafverfolgung, Opferschutz, Opferhilfe & Therapie, aus psychotraumatologischer Sicht, 2021, S. 71

Nun könnte man ja einwerfen, dass diese Formulierungen bereits zwei Jahre alt sind. Darum stellt sich folgende Frage: Wie positioniert sich Jan Gysi ganz aktuell zum Thema Mind Control? Auch hierzu zitiert der Beobachter aus einer Stellungnahme des Psychiaters:

„Wenn Aussagen von Patient:innen auf intensive Manipulationen unter Zwangsbedingungen hindeuteten – manchmal vereinfacht Mind Control genannt –, sollte dies aufgrund der aktuellen Forschungsergebnisse nicht von vornherein als Lüge, Scheinerinnerung oder gar Wahn eingestuft werden.“

Quelle: Beobachter 27.3.2023

Heißt dies nun im Klartext, dass Mind-Control-artige Aussagen trotz der aktuellen Forschungsergebnisse weiterhin im Therapiesetting untersucht werden sollen? So jedenfalls ließe sich Gysis Statement durchaus interpretieren.

Übrigens: Gutachter Dr. Thomas Maier hat sich ebenfalls zur Thematik Mind Control ganz aktuell geäußert:

„Die Vorstellung, dass es so komplexe psychologische Beeinflussungstechniken geben könnte, erinnert fast an magisches Denken, Kinderglauben oder Science-Fiction.“

Quelle: Interview Dr. Thomas Maier, Beobachter, 27.3.2023

Damit ist wohl alles gesagt: Denn jemand per komplexer Programmierung roboterhaft fernsteuern zu können, gehört wirklich ins Reich der Utopie.

Update 31.3.2023: In einer gestern veröffentlichten Stellungnahme distanziert sich Jan Gysi auf seiner Webseite von „allen Arten von Verschwörungs-Narrativen“. Nachzulesen hier:

6 Kommentare

  1. Der YouTube Kanal von Jan Gysi ist aus meiner Sicht sehr empfehlenswert, da er meinen Umgang mit der Störung verbessert hat und auch vielen anderen Betroffenen weiterhilft.
    Das Wissen hilft mir im Alltag sehr.
    Schade, dass er sich so geäußert hat („Fußfesseln“). Egal in welchem Kontext er es gesagt hat, das ist nicht in Ordnung.

    1. Was ist denn bitte das Problem an den Fussfesseln? Ich hätte diese sofort angenommen, zu meinem Schutz. Es wäre eine Option gewesen, die man hätte annehmen oder ablehnen können.
      Und zu der ganzen Diskussion über Mind Control – wie nennt ihr denn das Konstrukt, wenn beispielsweise ein gewalttätiger Mann seine Ehefrau so weit unter Kontrolle hat, dass sie weder eine Anzeige macht noch sich Hilfe holt. Sollte es doch mal die Polizei ins Haus schneien, wird die sie die Erste sein, die sagt, es sei alles in Ordnung… Tschuldigung aber auch das ist Mind Control!

      1. „…auch das ist Mind Control!“
        Nein, ist es nicht. Es ist Angst, Abhängigkeit und ja, es ist absolut schrecklich, was sie beschreiben in ihrem Beispiel.
        ABER: Nur weil der Begriff „Mind Control“ derzeit aus taktischen Gründen auf alles angewendet wird, was irgendwie auch nur halbwegs dafür geeignet erscheint, gibt es die „Mind Control“ so, wie sie bereits ewig und drei Tage definiert wird, schlicht und einfach nicht. Der These der „Mind Control“ liegt m.E. ein Menschenbild zugrunde, welches ich als ausgesprochen grauenhaft beschreiben möchte. Der Mensch wird darin beschrieben wie eine programmierbare Maschine! Das ist menschenverachtend! Das ist das Gegenteil von Opferschutz und Hilfe! Alles baut auf Wenn-dann-Prinzipien auf! Ich für meinen Teil bin mehr als froh, dass der Mensch nicht das ist, was gewisse Trauma“therapeuten“ behaupten. Was ihre Behauptung der Ahnungslosigkeit angeht, nun, ich habe durchaus eine Ausbildung im Bereich der Pädagogik und Psychologie.
        Vielleicht mögen sie ja mal einen genaueren und weniger emotionalen Blick auf diese Seite werfen, dann können sie feststellen, die Betreiberinnen sind a) Betroffene, b) durchaus versiert und gebildet im Thema, c) engagiert im Opferschutz.
        Meine Wenigkeit ist ebenfalls selbst Betroffene einer DIS und ich bin mehr als glücklich darüber, eine Therapie zu erhalten, welche mir hilft und mich nicht in Angst und Schrecken versetzt. Was soll das?

  2. Ich fand Jan Gysi in einigen Punkten sehr hilfreich. Aber stimmt schon, er vertritt gleichzeitig krude Thesen. Die „Huberfraktion“ (ich nenn die mal der Einfachheit halber so) hat da meines Erachtens starken Einfluss auf die Forschenden.

  3. Können Sie sich vorstellen, dass es Menschen gibt, die lieber eine Fussfessel tragen würden als noch einmal schreckliche Gewalt erleben zu müssen?? Fachärzte, Hilfestellen etc. ziehen sich zurück, weil sie gerade durch solche Berichte vernichtet werden. Zu der Aussage, sie haben ja nichts zu befürchten, doch genau das haben sie!! Reicht es nicht, dass bereits Ärzte entlassen wurden, ein Verfahren eingeleitet wurde und DIS Patienten auf keiner Station mehr aufgenommen werden?!
    Das alles wurde von einem Laien losgerollt, der absolut kein Wissen in Psychiatrie und deren Krankheiten hat. Wie ist es möglich, dass so ein Mensch derart viel Einfluss erhält? Nur weil ihr es euch nicht vorstellen könnt, sollen wir Simulanten und aufmerksamsgeile Dingsel sein?! Kümmert ihr euch lieber um Dinge, die ihr versteht und lasst dieses Kapitel den Fachpersonen!

    1. Fachpersonen …. Gutes Stichwort, denn exakt von Fachpersonen wird die Aufklärung zu Satanic Panic/ Mind Control getragen. Hier nur eine kleine, nicht abschließende Auflistung für die Schweiz:

      Prof. Franz Caspar, emeritierter Ordinarius für klinische Psychologie und Psychotherapie Universität Bern, Prof. Dr. Werner Strik, ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universität Bern, sowie der forensische Psychiater Prof. Dr. Frank Urbaniok, ehem. Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich und PD Dr. med. Thomas Maier, ehem. ärztlicher Direktor der Psychiatrie St. Gallen Nord.

      Details zu ihren Abhandlungen & Gutachten siehe in den entsprechenden Berichten darüber auf dieser Webseite.

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