Österreich: Keine „Insel der Seligen“

Autorin: Nora Sillan

Inhaltsverzeichnis
Themenschwerpunkt in der „Furche“
Interview mit Jan Gysi
„Scheinerinnerungen“ als Propagandabegriff?
Fazit zur Berichterstattung in der Furche
Rituelle Gewalt als Narrativ in Österreich
Parlamentarische Anfrage zu ritueller Gewalt
Plattformgründung ORG und das UNUM Institute
Masterarbeit aus Österreich über ORG
Fachkreis rituelle Gewalt
(K)ein Ende der Vogel Strauß-Politik

Es ist merkwürdig still in der österreichischen Medienlandschaft angesichts der Aufdeckungen aus den Nachbarländern rund um rituelle Gewalt & Mind Control. Das Thema scheint in Österreich kaum jemanden zu interessieren. Ob etwa die Alpenrepublik eine „Insel der Seligen“ ist? Auch wenn mit dieser Selbstbeschreibung nur allzu oft geliebäugelt wird: Österreich hat keinen Inselstatus und Verschwörungstheorien machen nicht vor Landesgrenzen halt – Aufdeckungen aber leider schon.

Einzig die Kontroversen rund um das Magazin Royale von Jan Böhmermann schafften es in die österreichische Berichterstattung: So brachte der Standard einen kurzen Text dazu, der allerdings den Fokus auf die anonyme Anzeige gegen Jan Böhmermann legte. Der Kurier ging etwas mehr in die Tiefe, erwähnte die „umstrittene deutsche Psychotherapeutin Michaela Huber“ und in Kurzform auch die Problematik des Narrativs von ritueller Gewalt. Die ausführlichste Berichterstattung brachte die Tageszeitung „Presse“, die in Folge sogar einen weiteren Artikel über die Kritik nach der Fernsehratsentscheidung veröffentlichte.

Davon abgesehen gab es zum Thema Satanic Panic & rituelle Gewalt nur auf Lokalebene zwei lesenswerte Beiträge (siehe: Link und Link) – und zwar in der Online-Ausgabe der Bezirkszeitung Salzburg, eingereicht von Leserreporter und Psychotherapeut Florian Friedrich, der sich auf seinem Blog eingehend mit dem Thema beschäftigt (Wir haben berichtet: Link).

Doch weder die Klinikskandale aus der Schweiz noch die Aufdeckungen des Spiegel in Deutschland wurden von den überregionalen Medien aufgegriffen. Dieses desinteressierte Schweigen im österreichischen Blätterwald unterbrach erst vor wenigen Tagen ein Special der Wochenzeitung „Furche“ – das allerdings inhaltlich leider das Gegenteil von fundierter Aufklärung liefert:

Themenschwerpunkt in der „Furche“

Unter dem Titel Der Körper vergisst nicht brachte die österreichischen Wochenzeitung Furche Ende Jänner 2024 einen drei Artikel umfassenden Themenschwerpunkt. Im dazu gehörenden Leitartikel schreibt Furche-Redakteur Martin Tauss über die US-amerikanischen Memory Wars der 1990er Jahre, die Geschichte des Traumabegriffs und zitiert Bessel van der Kolk – samt passendem Buchtipp. Das Fazit des Journalisten? Die „enormen Fortschritte, die die Traumaforschung zuletzt erzielt hat“ scheinen bedroht, konstatiert Tauss und plädiert: „Trauma-Betroffene dürfen nicht erneut zum Opfer werden“.

Ja, Missbrauchsopfer haben es leider immer noch schwer, Gehör zu finden. Daraus allerdings einen vermeintlichen Backlash in der Traumaforschung abzuleiten, ist in dieser verkürzten Schlussfolgerung nicht haltbar. Denn suggestive Fehltherapien sind es, die durch iatrogene Scheinerinnerungen die Errungenschaften der seriösen Traumatherapie gefährden – ganz abgesehen vom menschlichen Schaden, den diese Falschtherapien unter vulnerablen Patientengruppen anrichten.

Doch kein Wort darüber im Artikel. Stattdessen findet sich zur aktuellen Situation lediglich ein Zitat eines deutsch-schweizerischen Psychiaters und Buchautors: „Natürlich sei nicht auszuschließen, dass es übergriffige Therapeuten gibt, die ihre Klienten in eine bestimmte Richtung drängen oder eigene Vorstellungen suggerieren – und somit einen schweren Behandlungsfehler begehen. Genau das sei vor einigen Jahren an einer Schweizer Klinik passiert, wie Rougemont erzählt: ‚Doch es ist völlig übertrieben, wie dieser Umstand in deutschen und Schweizer Medien aufgebauscht wurde. Das ist kein Grund, das ganze Feld der Traumatherapie zu diskreditieren.“ (Furche)

Das ist rein faktisch falsch, da es nicht um eine einzige Schweizer Klinik geht – wie das Zitat darlegt – sondern um mehrere, u.a. die Kliniken Münsingen und Littenheid, zu welchen detaillierte Untersuchungsberichte über die Vorkommnisse angefertigt wurden. Dieses Zitat, welches neben der besagten inhaltlichen Ungenauigkeit eine Diskreditierung des ganzen Felds der Traumatherapie ortet, unkommentiert und ohne Belege im Raum stehen zu lassen, zeugt nicht nur von journalistischer Einseitigkeit. Es beweist auch, dass der Schwerpunkt in der Furche mitnichten alle Facetten abdeckt. Im Gegenteil, die Berichterstattung bleibt einseitig an der Oberfläche verhaftet: Kein Wort zu den Gutachten, den schweren Auswirkungen der Klinik-Skandale auf vulnerable Patienten oder zu den medialen Aufdeckungen des SRF und Spiegel.

Interview mit Jan Gysi

Auch der zweite Artikel des Schwerpunkts, ein Interview mit Jan Gysi, geht nicht ausgewogen an das Thema heran. Dagmar Weidinger, Journalistin der Furche, spricht in ihrer ersten Interviewfrage bereits von „einem regelrechten Medienkrieg“, der „die gesamte Traumatherapie-Szene in Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz heimgesucht“ habe: „Dabei geht es im Wesentlichen um die Frage, ob Traumatherapeuten ihren Klienten im großen Stil Scheinerinnerungen von Missbrauch suggerieren. Zuletzt ging es sogar um organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt. Eine ähnliche öffentliche Debatte gab es bereits vor 30 Jahren in den USA – die sogenannten „Memory Wars“. (Furche)

Mit dieser Eingangsfrage ist der einseitige Grundtenor des gesamten Interviews gelegt – und das Wort „sogar“ vor der Erwähnung ritueller Gewalt kann ebenfalls auf mehrere Arten verstanden werden. Und weiters: Was haben die historischen Memory Wars mit dem Aufdecken der aktuellen Therapieskandale rund um Mind Control & Satanic Panic zu tun? Denn um diese Frage geht es – und zwar nicht nur „im Wesentlichen“, wie Weidinger schreibt, sondern ganz konkret.

In diesem Zusammenhang ist zudem mehr als fraglich, wo Journalistin Dagmar Weidinger diesen „Medienkrieg“ verortet. Die beiden Leitmedien in der Berichterstattung – der Spiegel in Deutschland und der SRF in der Schweiz – machen jeweils klar, dass es um die Aufdeckung von suggestiven Fehltherapien im Rahmen einer Verschwörungstheorie geht und um keinen etwaigen „Feldzug“ gegen die Traumatherapie an sich: So beschreibt Christopher Piltz in seinem ersten Spiegel-Artikel zur Thematik den Unterschied zu seriöser Traumatherapie, wo es um Stabilisation geht (vgl. Spiegel 11/23, S. 39).

Scheinerinnerungen“ als Propagandabegriff?

Doch zurück zum Interview mit Jan Gysi in der Furche: Der Schweizer Psychiater spricht von einer „massiven Hetzjagd“ in der Berichterstattung und erlebt „das Wort ‚Scheinerinnerung“ in seiner aktuellen medialen Verwendung als Propagandabegriff, hinter dem eine gewisse Ideologie steht.“

Ist dies wirklich so: Sind „Scheinerinnerungen“ zu einem Propagandabegriff geworden? Im Rahmen des Jahreskongresses der DGPPN, der größten deutschsprachigen Fachverband für Psychiatrie, hat Renate Volbert im November 2023 einen wissenschaftlichen Vortrag über „Scheinerinnerungen und Suggestion in der Psychotherapie“ gehalten, welcher diesen Begriff in Abgrenzung zu genuien Erinnerungen versteht. Auch in aktuellen Medienberichten wird das Wort keinesfalls wie ein Propagandabegriff benutzt – siehe hierzu z.B. den ORF-Podcast mit Susanna Niehaus, Hochschule Luzern, zum Thema. Spiegel und SRF erklären das Phänomen Scheinerinnerung ebenfalls auf Basis wissenschaftlicher Fakten und warnen im Zusammenhang mit Satanic Panic & ritueller Gewalt vor False Memories. Von Propaganda keine Spur – im Gegenteil.

Fazit zur Berichterstattung in der Furche

Von der Furche hätte man also weitaus mehr erwartet hinsichtlich differenzierter Recherche und objektiver Berichterstattung: Kein einziges Wort sind der „Furche“ die zahlreichen Therapieopfer suggestiver Fehltherapien wert, deren Leid damit erneut unter den Teppich gekehrt wird. Kein einziger Hinweis auf mutige Frauen wie Leonie aus der Schweiz oder Malin Weber aus Deutschland, die mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gegangen sind. Auch von einer kritischen Interviewführung fehlt in der Furche jede Spur – Weidinger wiederholt Gysis Formulierungen über Scheinerinnerungen („Propaganda zu welchem Zweck?“) und erwähnt mit keiner Zeile, dass die Berner Gesundheitsdirektion und Ärztegesellschaft gegen Jan Gysi derzeit wegen „Hinweisen auf seine Nähe zu Mind Control“ ein administratives Verfahren bzw. ein Standesverfahren führen.

Das wäre für die österreichischen Leser der Wochenzeitung ein durchaus relevantes Detail, um das Interview im Gesamtkontext einzuordnen. Doch nicht nur diese Information wird ausgespart, es fehlt auch der gesamte Kontext der Verschwörungstheorie. Abseits einer Nennung des Begriffs rituelle Gewalt in der ersten Interviewfrage wird dieser Zusammenhang komplett außen vor gelassen. Dies verfälscht die Tatsachen, da nun für thematisch nicht versierte Leser der Eindruck entstehen könnte, es herrsche ganz allgemein ein „Medienkrieg“ gegen Traumatherapeuten. Dass es jedoch exakt um das Gegenteil geht – nämlich um echten Opferschutz für alle Missbrauchsopfer, der sie vor gefährlichen Falschtherapien bewahren soll – verschweigt die Furche.

Nun könnte man polemisch einwenden, was es denn im „kleinen Österreich“ interessiere, welche Verschwörungstheorien gerade bei den Nachbarn Schweiz und Deutschland grassieren: Stichwort „Insel der Seligen“ und so weiter … Doch weit gefehlt: Wer meint, das Narrativ von ritueller Gewalt hätten den Sprung über die Landesgrenzen nicht geschafft, der irrt gewaltig.

Rituelle Gewalt als Narrativ in Österreich

Das Narrativ rituelle Gewalt ist in Österreich zwar nicht im selben Umfang verbreitet wie in dessen Nachbarländern, nur vereinzelt finden sich „Aussteigerberichte“: Im Jahr 2020 erzählte ein österreichischer Fotograf und Künstler im Rahmen einer autobiografischen Buchveröffentlichung und Kunstausstellung über rituellen Kindheitsmissbrauch in Österreich. „Okkulte satanistische Riten“ nannte es damals der ORF in einem Radiobericht.

Auf fachlicher Ebene gab es jedoch einiges mehr an „Bemühungen“, das Narrativ auch in Österreich zu verfestigen: So fand im Herbst 2016 im Wiener Rathaus ein Fachtag statt. Das Thema: Bleibt rituelle Gewalt und organisierte sexuelle Ausbeutung an Kindern verborgen? Bei dieser Fachtagung österreichischer Jugendamtspsychologen referierten u.a. Claudia Igney und Claudia Fliß. Letztere berichtete dabei laut Programmankündigung darüber, „wie an Opferkindern Konditionierungen höherer Ordnung (Programme) durchgeführt werden“. Ein Artikel der Tiroler Tageszeitung griff in Folge das Narrativ des Fachtags unhinterfragt auf und zitierte Claudia Igney, die rituelle Gewalt auch in der Alpenrepublik verortete: „Dieses Problem gibt es auch in Österreich, da soll man sich keine Illusionen machen“.

Österreich ist also vor der Verschwörungstheorie nicht gefeit. Eine „Insel der Seligen“? Fehlanzeige. Diese Illusionen schwinden schnell, denn das Narrativ von ritueller Gewalt hat es jüngst sogar in den österreichischen Nationalrat geschafft.

Parlamentarische Anfrage zu ritueller Gewalt

Im Juni 2023 nahm eine parlamentarische Anfrage, eingebracht von Nationalratsabgeordneten Harald Stefan, genau auf diesen Fachtag Bezug. In einer an Justizministerin Alma Zadić gerichteten Anfrage schrieb der FPÖ-Abgeordnete über diese Veranstaltung aus dem Jahr 2016 und zitierte dazu als Fachmeinung Claudia Fliß‘ obige Aussage über die Durchführung von „Programmen“ an Opferkindern. Als konkrete Fragestellung wollte der Abgeordnete u.a. die Anzahl der dokumentierten Fälle von „organisierter ritueller Gewalt“ im Zeitraum 2015-2022 in Österreich wissen und fragte nach etwaigen Verbindungen zu ORG im Missbrauchsfall Teichtmeister.

Mit keinem Wort erwähnt wurde in diesem parlamentarischen Schreiben die bereits bestehende Kritik an Claudia Fliß, „einer der dogmatischsten Verfechter:innen der Mind-Control-Theorie. Genauso wenig die Aufklärungen zur ritueller Gewalt, die im Sommer 2023 im deutschsprachigen Raum bereits voll im Gange waren.

Die Anfragebeantwortung durch Justizministerin Zadić fiel erwartungsgemäß knapp und ohne Details aus: „Der Begriff der „organisierten rituellen Gewalt“ ist gesetzlich nicht definiert und ist dem österreichischen Strafrecht fremd. Eine Auskunft ist daher mangels automationsunterstützter Auswertungsmöglichkeiten nicht möglich. Im vorliegenden Fall können daher die dazu in der parlamentarischen Anfrage enthaltenen Fragen nicht beantwortet werden. Die in der parlamentarischen Anfrage gestellte Frage 5 betrifft zudem ein anhängiges Gerichtsverfahren, weshalb eine Beantwortung unterbleiben muss.“ (Anfragebeantwortung)

Damit wurde zwar die parlamentarische Anfrage als beantwortet zu den Akten gelegt – das Thema per se ist jedoch längst nicht vom Tisch, wie weitere Recherchen zeigen.

Plattformgründung ORG und das UNUM Institute

Auch in vertiefende Weiterbildungen hat es das Thema rituelle Gewalt geschafft: Das in Wien ansässige UNUM Institute versteht sich als „innovative Erwachsenenbildungseinrichtung“ und wird vom Verein „Ganzheitliches Trauma- und Schmerz-Kompetenzzentrum“ getragen. In dessen Fachbeirat sind u.a. Ellert Nijenhuis, Harald Schickedanz und Lutz-Ulrich Besser vertreten. Im Sommer 2020 veranstaltete das Institut Seminartage zum Schwerpunkt „organisierte rituelle Gewalt“ (ORG). Dabei gab es auch einen Vortrag zum Thema „Falsche Erinnerungen“, der bereits in der Programmankündigung seine Sicht auf das Thema offenbart: „Die sorgfältige Analyse der Forschung zeigt, dass es nicht leicht ist, falsche Erinnerungen an Kindheitsmisshandlungen zu implantieren. Autobiografisch überzeugte falsche Erinnerungen mit vollständigem Wiedererleben und hohem Erinnerungsvertrauen sind selten bis nicht existent.“

Im Rahmen dieser Veranstaltung – so bezeugt das bis heute auf der Webseite abrufbare PDF – stand ebenfalls ein „Arbeitstreffen ORG“ plus Supervision mit Michaela Huber auf dem Programm. Dazu sollte es zu einer „ORG Plattformgründung“ kommen. Interessenten konnten sich diesbezüglich an vier namentlich angeführte, österreichische Therapeuten wenden, deren Kontaktdaten für die Plattformgründung vermerkt waren.

Auch in aktuellen Veranstaltungen des UNUM Institute finden sich Hinweise, dass das Thema organisierte und rituelle Gewalt weiterhin auf dem Lehrplan steht: Das DeGPT zertifizierte Curriculum „Traumapädagogik & Traumazentrierte Fachberatung. Spezielle Psychotraumatherapie“ findet von Februar 2024 bis Mai 2025 statt und richtet sich u.a. an Pädagogen, Fachkräfte sowie Therapeuten und Ärzte. In der Inhaltsbeschreibung des Modul 9 findet sich das Stichwort „organisierte und rituelle Formen sexueller Ausbeutung“. Vortragender dieser Seminarreihe ist u.a. Lutz-Ulrich Besser, der bereits bei einer Fortbildung in Graz über das Thema „organisierte und ritualisierte Formen“ von Gewalt gesprochen hatte – neben Michaela Huber, die damals über „Folgen und Behandlungsmöglichkeiten bei Betroffenen von ritualisierter sexueller Misshandlung“ referierte.

Das Thema ORG ist also seit Jahren in der österreichischen Therapeutenszene fixer Bestandteil der Weiterbildungen – und wird es gemäß der Programmankündigung auch 2024/25 sein.

Masterarbeit aus Österreich über ORG

Außer in Weiterbildungen wird das Thema ORG bekanntlich nur allzu oft in (Fach)büchern abgehandelt, die jedoch vorwiegend aus Deutschland stammen. Deswegen ist eine im Jahr 2022 veröffentlichte Masterarbeit unter diesem Gesichtspunkt interessant, da sie explizit auf Österreich Bezug nimmt. Unter dem Titel „Traumapädagogik und organisierte rituelle Gewalt. Eine empirische Untersuchung am Beispiel von Personen in therapeutischen Umfeldern in Österreich“ befasst sich der Wiener Pädagoge Roman Sadnik mit organisierter ritueller Gewalt. In seiner Abschlussarbeit perpetuiert er das Narrativ, zitiert dazu u.a. bekannte Namen wie Michaela Huber, Thorsten Becker, Claudia Fliß, Claudia Igney sowie Alison Miller und widmet den Begriffserklärungen von Programmierung und Mind Control jeweils ein eigenes Unterkapitel (vgl. ebd. S. 33f.).

Daneben führte er eine Expertenbefragung (n=3) in Wien bzw. Linz durch. Eine der drei interviewten Personen (IP1), eine klinische Psychologin, Psychotherapeutin und Lehrgangsleiterin, beschreibt ihre Begegnungen mit zwei Klientinnen, die von organisierter ritueller Gewalt betroffen waren (vgl. ebd. S. 75; 84). Sadnik fasst das Interview mit folgenden Sätzen zusammen, die an Darstellungen aus den Büchern Alison Millers erinnern: „Eindeutige Erzählungen über Tötungsdelikte der Betroffenen und von ihr selbst erlebter Gewalt in allen Facetten, auch in schriftlicher Form – in verschiedenen Handschiften – einiges davon mit Blut geschrieben – wurden von IP1 in der Behandlung aufgedeckt.“ (ebd. S. 85)

Roman Sadnik beschreibt weiters ein von ihm im Oktober 2021 geführtes Gespräch mit dem Chefinspektor und obersten Leiter für Sexualdelikte in Wien (EB03) „über seine Erfahrungen/Erkenntnisse in Bezug zu Organisierter Ritueller Gewalt“, in dem zwar Missbrauchsdelikte in allen erdenklichen Gewalterfahrungen bei Einzeltäter*innen bestätigt wurden, aber nicht in organisierten oder organisiert-rituellen Gewaltstrukturen aufgedeckt werden konnten. Grund sah der Chefinspektor auch in der Tatsache, dass aus ethischen Gründen nicht genügend tief in das Dark Net eingedrungen werden darf und kann. Da die Betroffenen häufig schweigen, kommt es sehr selten bis gar nicht zu Verurteilungen und so bleiben Rituelle Gewalt und die organisierte sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen meist im Dunkeln.“ (ebd. S. 66) An anderer Stelle zitiert Sadnik erneut den Leiter (Chefinspektor) im Landeskriminalamt Wien für Sexualdelikte, der darauf hinweist, dass „er und sein Team in keinen sexualisierten Abbildungen (Videos, Fotos) je eine ritualisierte Form der Kindesmisshandlung gesehen hätten“ (ebd. S. 102).

Leider finden sich keine weiteren Details zu diesem Gespräch in der Abschlussarbeit – es wäre nämlich durchaus interessant gewesen, wie ein leitender Wiener LKA-Beamte die generelle Thematik rituelle Gewalt im Licht der erfolgten internationalen Aufklärungen bewertet.

Um den Bogen zu weiteren Rechercheergebnissen über das Narrativ in Österreich zu spannen, noch einmal zurück zur Masterarbeit: Betreuerin dieser Abschlussarbeit an der KPH war Traumapädagogin Maria Dalhoff, die demnächst auf einem niederösterreichischen Kinderschutzlehrgang über das Thema „ritualisierte Gewalt gegen Kinder“ referiert und in der Beratungsstelle „Selbstlaut“ mitwirkt, welche sich seit Jahren eingehend mit diesem Thema beschäftigt und federführend für dessen Verbreitung ist.

Fachkreis rituelle Gewalt

Die Wiener Opferschutzeinrichtung „Selbstlaut“ hat im Herbst 2020 einen interdisziplinären Fachkreis zum Thema ORG ins Leben gerufen. Zur Erklärung, was unter organisierter ritueller Gewalt verstanden wird, zeigt „Selbstlaut“ eine Infografik von Claudia Igney, wo als Beispiel für Ideologien u.a. auch Satanismus genannt wird. Ebenso finden sich auf der Webseite der Link zum Video „Wir sind die Nicki(s)“ sowie die Stellungnahme des Betroffenenrats aus dem April 2023. Daneben bietet der Verein auch thematische Workshops für Pädagogen und Fachkräfte an.

Der von „Selbstlaut“ gegründete „Fachkreis gegen sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Strukturen“ besitzt eine eigene Webseite und hat es sich zum Ziel gesetzt, thematische Beratung und Weiterbildung anzubieten sowie ein österreichweites Netzwerk von Fachleuten aufzubauen. Hinzu kommen, so benennt es die Zieldefinition der Webseite, „wissenschaftliche Erschließung und Aufbereitung des aktuellen Forschungsstandes“.

Was mit den Begriffen „organisierte und rituelle Strukturen“ gemeint ist, verrät eine Infobroschüre des Fachkreises, die von Handlungen mit „stark ritualisiertem Charakter“ spricht und als Beispiele „sogenannte Opferungen und Zeremonien“ anführt. Die „Aufspaltung von kindlichen Persönlichkeiten in mehrere Persönlichkeitsanteile“ werde „durchaus gezielt“ eingesetzt – mit anderen Worten also eine Umschreibung dessen, was unter Mind Control verstanden wird.

Die Links der Webseite lassen ebenfalls keinen Zweifel, wie der österreichische Fachkreis rituelle Gewalt versteht: So findet sich neben Verlinkungen auf das „Infoportal Rituelle Gewalt“ und den „Ausstiegsleitfaden“ von Sabine Weber auch ein Link auf das mittlerweile gelöschte (aber im Internet Archiv abrufbare) „Erklärvideo sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen“, welches Mind Control als Faktum darstellt.

Noch länger als die Link-Liste des Fachkreises liest sich übrigens die Aufzählung der teilnehmenden Institutionen: Hier werden u.a. die Kriminalprävention des Landeskriminalamts Wien ebenso genannt wie die Magistratsabteilung 11 (Kinder- und Jugendhilfe), die Leiterin des Opferschutzes des größten österreichischen Krankenhauses (AKH Wien) sowie die Kinder- und Jugendanwaltschaft der Stadt Wien (KJA). Letztere schreibt in ihrem Jahresbericht:

„(…) Diese Breite macht deutlich, dass das Thema ritualisierter Gewaltstrukturen und dissoziativer Identitätsstörungen äußerst relevant ist. Mit dem Projekt soll durch Kooperation verschiedener Berufsgruppen der Diskurs nun auch in Österreich eröffnet werden, um ein Bewusstsein für diese massive Gewaltform zu schaffen und Hilfsangebote für Betroffene und deren Bezugspersonen zu etablieren.“ (Jahresbericht KJA 2021, S. 47)

Angesichts der seit Jahren stattfindenden Aufklärungen wäre eine Stellungnahme dieser offiziellen Einrichtungen der Stadt Wien bzw. des Landeskriminalamts (Abteilung Kriminalprävention) dringend notwendig, um klarzustellen, inwieweit diese mit den Definitionen, Zielsetzungen und Links dieser Webseite (immer noch?) konform gehen.

Ein interessantes Detail: Im Jahr 2022/23 wurde der Fachkreis durch Mittel des Frauenservice der Stadt Wien gefördert, wie „Selbstlaut“ offenlegt. Dazu hat der Fachkreis in seiner Implementierungsphase für den Zeitraum Oktober 2020 bis Dezember 2021 die nicht unwesentliche Summe von 106.865,00 Euro an Fördermitteln des österreichischen Bundeskanzleramts erhalten. In der Projektbeschreibung des Fachkreises wurden dazu einige ambitionierte Ergebnisse in Aussicht gestellt: „Organisierte rituelle Gewalt (ORG) ist in Österreich noch weitgehend unbekannt. Das Projekt will das Bewusstsein für diese Form der Gewalt schaffen und Hilfsangebote für betroffene Mädchen und Frauen sowie für deren Bezugssysteme etablieren. Neben einem Bericht über den aktuellen Forschungsstand wird vor allem eine Informationsbroschüre mit Handlungsanleitungen u.a. für Jugendhilfe, Beratungsstellen, Therapie, Medizin, Krisenzentren, Justiz, Exekutive im Sinne einer nachhaltigen Implementierung ein wichtiges Projektergebnis sein. Wirkungsraum: österreichweit“. (Bundeskanzleramt)

Doch bis heute, also mehr als drei Jahre später, steht lediglich eine kurze Infobroschüre auf der Fachkreis-Webseite in mehreren Sprachen zum Download. Keine „Handlungsanleitung“ oder „Aufbereitung des aktuellen Forschungsstands“ weit und breit, wie vollmundig angekündigt worden ist. Zudem hat sich in den vergangenen Jahren die Webseite des Fachkreises kaum verändert, hinzu kam lediglich ein Hinweis auf ein Infotelefon, welches jedoch mangels „Ressourcen für Telefondienste“ nicht besetzt ist (Stand: Februar 2024).

Daraus könnten mehrere Schlüsse gezogen werden: Hat der Fachkreis angesichts der Aufklärungen aus der Schweiz und Deutschland erkannt, dass er sich mit diesem Narrativ auf einer Einbahnstraße befindet? Doch warum wird dann die Webseite unverändert online gelassen? Oder reichen etwa die (finanziellen) Mittel und Ressourcen wirklich nicht aus? Doch was ist in diesem Fall mit den über hunderttausend Euro geschehen, die das Bundeskanzleramt an Förderung zur Verfügung gestellt hat? Forschungsergebnisse sind es jedenfalls nicht. Und seriöse Aufklärungsarbeit über die Verschwörungstheorie schon gar nicht.

(K)ein Ende der Vogel Strauß-Politik

Apropos Aufklärungsarbeit – da werfen diese Recherchen doch einige Fragen auf: Wie kann es sein, dass ein Fachkreis gegen rituelle Gewalt, der subtil die Thesen von Mind Control verbreitet, als teilnehmende Institutionen sogar die Abteilung Kriminalprävention des Landeskriminalamts Wien aufführt? Und wie kann es sein, dass ein österreichischer Nationalratsabgeordneter in einer parlamentarischen Anfrage „Programme an Opferkindern“ als Fachmeinung zitiert, ohne dass heimische Medien dies als berichtenswert erachten?

All diese Beispiele zeigen eines: Die internationale Aufklärungsarbeit über rituelle Gewalt ist spurlos an der Alpenrepublik vorübergegangen und das Narrativ wird munter und unhinterfragt weiterverbreitet. Es braucht in Österreich also ebenso eine Aufarbeitung wie in seinen Nachbarländern – und zwar dringend. Denn eine sture Vogel Strauß-Politik macht aus der „Insel der Seligen“ schnell ein Relikt aus Verschwörungstheorien.

Update vom 17.2.24:

In der aktuellen Furche-Ausgabe 07/24 befindet sich ein lesenswerter, kritischer Kommentar von Axel Seegers, Weltanschauungsbeauftragter der Erzdiözese München, zum rituelle Gewalt-Narrativ: „Memory Wars“: Im Zeichen eines fragwürdigen Narrativs

Siehe dazu auch:

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