Niederlande: Kein Nachweis von satanischem Missbrauch

Autorin: Nora

Nach der Schweiz ist (satanisch) ritueller Missbrauch in der Niederlande ein Thema für Schlagzeilen. Für die Radiosendung „Shards of Glass and Dark Rituals“ ließen Journalisten von Argos im Jahr 2020 (vermeintliche) Opfer von satanisch-rituellem Missbrauch zu Wort kommen und organisierten eine groß angelegte Opferbefragung – was darin gipfelte, dass das niederländische Parlament einen Untersuchungsausschuss zu diesem Thema einsetzte, die sogenannte Hendriks-Kommission.

Ihr Abschlussbericht liegt jetzt, im Dezember 2022, vor und ist wirklich umfassend: Die Kommission rund um den forensischen Psychologen Jan Hendriks und Kriminologin Anne-Marie Slotboom hat in mehrjähriger Arbeit einen Bericht vorgelegt, der alle Meinungen an einen Tisch holt und den Ansprüchen von Objektivität, Sachlichkeit und Wissenschaftlichkeit gerecht wird. Auf über 400 Seiten und 14 Teilberichten wurden sowohl Opfer, Therapeuten, Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und offizielle Stellen als auch diejenigen, die Zweifel an der Existenz von rituellem Missbrauch haben, befragt.

Die niederländischen Opferorganisationen KTGG und Spotlight, die sich als Vertreter für rituell Missbrauchte sehen, waren dem Vorhaben zunächst sehr skeptisch gegenüber gestanden, da die Hendriks-Kommission vom – in ihren Augen – angeblich „täterunterwanderten“ Justizministerium eingesetzt worden war. Diese Ansichten schienen sich mit den anonymen Drohungen gegen Kommissionsmitglieder, Angehörige des niederländischen Königshaus und auch Personen, die eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Corona-Pandemie spielten, zu decken, in denen dieser Personenkreis bezichtigt wurde, der „satanistisch pädophilen Elite“ anzugehören (vgl. Untersuchungsbericht, S. 1).

Nach einigem Hin und Her beschlossen die Opferorganisationen mit der Hendriks-Kommission zusammenzuarbeiten und nutzten auch intensiv die Möglichkeit, Stellungnahmen zum fertigen Bericht abzugeben. Trotzdem wird der nun vorliegende Abschlussbericht von genau diesen Opfereinrichtungen, die bei dessen Erstellung eingebunden waren, in Grund und Boden kritisiert: Sie empfehlen, dass Opfer ihn nicht lesen sollten, weil er „schweres Victim Blaming“ sei und bezeichnen die Gutachten als „chaotisch, schlecht begründet und tendenziös“.

Jeder, der den objektiv-wissenschaftlichen Bericht aufmerksam liest, wird feststellen, dass diese Kritik jeder Grundlage entbehrt. Es scheint nicht das erste Mal, dass Opferorganisationen mit Scheuklappen ihre Augen vor den Tatsachen der Wissenschaft verschließen wollen. Vielleicht dient dies dazu ihr Gesicht zu wahren? Dem echten Opferschutz dient es jedenfalls nicht.

Die Ergebnisse der Hendriks-Kommission

Was ist der Tenor des mehrere hundert Seiten umfassenden Gutachten mit seinen 14 Teilberichten? Es gibt abseits der Opfererzählungen keine Beweise für groß angelegten (satanisch) rituellen Missbrauch, wie es das Verschwörungsnarrativ immer (und leider auch weiterhin) behauptet. Das ist faktisch nichts Neues, allerdings überrascht die Klarheit, mit welcher das Thema umfassend beleuchtet wird.

Folgende Aspekte aus der Untersuchung können als zentral angesehen werden:

Selection Bias in der Stichprobe

Gleich für den ersten Teilbericht wurden Opfer befragt, die nach eigenen Angaben rituell/satanisch missbraucht worden waren. Die Opfereinrichtungen KTGG und Spotlight suchten per Aufruf Betroffene, es meldeten sich 23 Personen, die meisten von ihnen wurden persönlich durch die Kommission interviewt, einige schriftlich. In einem Großteil der Interviews wurden rituelle/satanische Handlungen beschrieben und mehrere Befragte erzählten von Mind Control und Programmierungen (vgl. Teilbericht 1, S. 2-8).

In Deutschland existieren Studien, die einzig und allein auf Befragungsdaten von (vermeintlichen) Opfern basieren, welche danach als Legitimationsbasis für die Existenz von satanistisch-rituellem Missbrauch herangezogen werden. Die Untersuchungskommission in den Niederlanden geht hier jedoch einen Schritt weiter und schreibt: Aus der Befragung könne geschlossen werden, dass diese Form von Missbrauch in den Niederlanden existiere. Aber – und hier kommt das große Aber, was manche Publikationen gerne unter den Tisch fallen lassen – es werden klar die Grenzen der Studie aufgezeigt: dass es eben keine repräsentative Stichprobe sein kann.

Aufgrund der Art und Weise, wie die Befragten ausgewählt wurden, liegt (wahrscheinlich) ein Selection Bias vor. Daher können über den gesamten Personenkreis keine Aussagen getroffen werden, die angeben, Opfer von organisiertem sadistischem Missbrauch zu sein oder gewesen zu sein. (ebd., S. 17)

Deutlicher geht es kaum, denn genau diese Auswahlverzerrung von Befragten, die über einschlägige Opfereinrichtungen gesucht werden, welche am Narrativ des satanischen Ritualmissbrauchs festhalten, lässt eine allgemeingültige Datenerhebung nicht zu. Zudem ist eine umfassende Quellenkritik nicht möglich: „Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass Informationen der Befragten nicht mit Informationen aus anderen Quellen verglichen werden können.“ (vgl. ebd., S. 17) Weil es eben keine anderen Quellen gibt, die derartiges bestätigen können.

Mangelnde empirische Nachprüfbarkeit

In diesem Zusammenhang ist auch ein anderer Teilbericht der Kommission interessant, der einen Überblick über den Stand der Forschung zu rituellem Missbrauch gibt (vgl. Teilbericht 4, S. 1ff. ). Hierfür wurden bewusst nur aktuelle wissenschaftliche Studien herangezogen, die davon ausgehen, dass ritueller Missbrauch existiert, und diese als Sekundäranalyse miteinander verglichen. Dass zur Untermauerung der rituelle Gewalt-These immer wieder auf dasselbe Studienmaterial zurückgegriffen wird, wurde bereits im Artikel „Wenn Wahrheit Nebensache ist“ auf unserer Webseite angesprochen. Der Kommissionsbericht bestätigt dies:

Die empirische wissenschaftliche Forschung, die die Existenz von organisiertem sadistischem Missbrauch unterstützt, ist begrenzt. Es handelt sich um eine kleine Anzahl von Studien, die sich auf eine begrenzte Anzahl von Forschern konzentrieren. Die Artikel, die sie geschrieben haben, verwenden regelmäßig dasselbe zugrunde liegende Material (Umfragen/Interviews), was die Quellen, aus denen sie schöpfen, einschränkt.“ (ebd. S. 12)

Die Möglichkeit besteht, dass bei anonymen Online-Umfragen Personen die Unwahrheit sagen oder Umfragen mehrfach ausfüllen (vgl. ebd., S. 13), was ein Problem für die intersubjektive Nachprüfbarkeit der Ergebnisse darstellt:

Ob diejenigen, die sich in diesen Studien als Opfer organisierten sadistischen Missbrauchs äußern, diese auch tatsächlich erlebt haben, ist nicht nachvollziehbar. Da es fast nur Opferinformationen gibt, die sich kaum auf andere Quellen beziehen lassen, sind Verifikation und Falsifikation, die die Grundlage guter wissenschaftlicher Forschung bilden, praktisch unmöglich.“ (ebd. S. 12.)

Die meisten Forschenden weisen selbst auf die Grenzen ihrer empirischen Ergebnisse hin, so geben zum Beispiel Wissenschaftsjournalisten von Argos an, dass ihre Ergebnisse nicht auf wissenschaftlicher Forschung beruhen und dass Wahrheitsermittlung gar nicht erst versucht wird (vgl. ebd. S. 12). In einer englischen Studie aus 2017 wird festgehalten, dass Behauptungen über internationale Verschwörung des rituellen/satanischen Missbrauchs spekulativ seien (vgl. ebd., S. 12f.), in einer anderen Studie werden die gewonnen Daten als „explorativ“ bezeichnet (vgl. ebd., S. 13).

Die Kommission zieht an dieser Stelle einen Ländervergleich: „Auffallend ist auch, dass die Forscher in den englischsprachigen Artikeln, die auf ursprünglich deutschsprachigen Artikeln aufbauen, die Qualität ihrer Daten (viel) kritischer beurteilen.“ (ebd. S. 13)

Aber auch das deutsche Forscherteam Schröder et al stellt in ihrer (im deutschsprachigen Raum vielzitierten) Studie klar, dass es zwar kongruente Befunde, aber keine Beweise für die Gültigkeit der Daten gebe. Die erzielte Forschung ziele nicht darauf ab, zu untersuchen, ob Berichtende tatsächlich rituellen Missbrauch erlebten. Die Konsequenz: „Eine Validierung der Daten ist nicht möglich.“ (ebd. S. 13).

Wir gegen sie“-Diskurs

Zusätzlich zu diesen Befragungen hatte die Stiftung Caleidoscoop (eine Vereinigung für Menschen mit einer dissoziativen Störung) dazu aufgerufen, schriftliche Erfahrungsberichte an die Kommission zu schicken, die anhand eines Fragebogens diskursanalytisch untersucht wurden.

Hier fällt auf, dass sich die Opfer eindeutig in ihrer Selbst- versus Fremdpositionierung verorten, es gibt „uns“ und es gibt „die anderen“:

„Die Briefe zeigen auch, wie die Autoren sich sprachlich gegenüber anderen positionieren und einen Wir-gegen-sie-Diskurs konstruieren. Insbesondere die Briefschreiber positionieren Therapeuten, Praktiker und Betreuer als Unterstützer des Opfers („wir“), während Polizeit, Staatsanwaltschaft und LEBZ (Landesweite Expertengruppe für besondere Sexualstraftaten) als Nicht-Unterstützer („sie“) positioniert werden.“ (Teilbericht 2, S. 11).

Dieses „wir-gegen-sie“-Denken, wie es der Untersuchungsbericht äußerst treffend formuliert, erinnert frappant an diverse therapeutische Ratgeberliteratur, wo diese Dichotomie als zwei unvereinbare Pole verfestigt wird: auf der einen Seite, die Therapeuten und Institutionen, die satanistischen Kultopfern bedingungslos Glauben schenken, auf der anderen Seite …. nun ja … der „Rest“ eben.

Wie sehr dieses Denken verinnerlicht wurde, zeigt sich in typischen Handlungssträngen der Briefe, wo Opfer ausdrücklich klarstellen, dass es sich bei ihren persönlichen Erinnerungen eben nicht um wiedergewonnene Erinnerungen handle. Die Tatsache, dass sich viele Berichte von Kultopfern gleichen, wird von ihnen als Beweis angesehen, dass ritueller Missbrauch existiere (vgl. ebd., S. 112 ff.) Allerdings stellt diese Angleichung von Sprache eben keinen Beweis dar, im Gegenteil, wie eine soziokulturelle Betrachtungsweise zeigt. Dazu unten mehr.

Wahrheitsfindung und wiedergewonnene Erinnerungen

Natürlich werden in diesem Kommissionsbericht auch Therapeuten aus diesem Feld befragt, u.a. auch der Trauma-Wissenschaftler Ellert Nijenhuis. „Der Therapeut kann und sollte sich nicht auf die Wahrheitsfindung einlassen“, ist der Grundtenor (vgl. Teilbericht 3, S. 9), aber gleichsam wird auch darauf hingewiesen, dass es im therapeutischen Setting immer auch Raum für Alternativen geben sollte: Manche (Pseudo-)Erinnerungen könnten die Funktion haben, andere ernsthafte Schmerzen zu überdecken (vgl. ebd. S. 10). Die befragten Therapeuten sprechen sich dagegen aus, alle Therapeuten in einen Topf zu werfen: Es gab in den Niederlanden Einzelfälle, wo Therapeuten in Disziplinar- und Strafverfahren gerügt, suspendiert oder verurteilt wurden, die ihren Klienten gesagt hatten, dass diese Opfer sexuellen Missbrauchs mit rituellen (satanischen) Aspekten waren (vgl. ebd. S. 10f.).

Ein eigener Teilbericht widmet sich der frühkindlichen Amnesie und Gedächtnisentwicklung sowie der Repression und Dissoziation von traumatischen Erfahrungen aus neurowissenschaftlicher Perspektive. Wiedergewonnene Erinnerungen, die allmählich während einer Psychotherapie entstehen, werden als besonders anfällig für Pseudoerinnerungen beschrieben (vgl. Teilbericht 7, S. 12 f.). Der Bericht zitiert hierzu einen Patient, der seine wiedererlangte Erinnerung später widerrufen hat: „Zu meiner völligen Überraschung hörte ich mich nach mehreren Sitzungen mit einer anderen Stimme über Missbrauch sprechen, als ich drei Monate alt war …Es dauerte nicht lange, bis ich anfing, mich an satanischen Missbrauch zu erinnern und Dutzende von Persönlichkeiten traf.“ (ebd. S. 11f.)

Manche Patienten, die ihre Aussagen später widerriefen, waren zunächst froh, eine Erklärung der Ursachen ihrer Probleme zu bekommen oder wagten es nicht, am professionellen Urteilsvermögen ihrer Therapeuten zu zweifeln (vgl. ebd. S. 12). In der Niederlande vereint die Arbeitsgruppe „Fictieve Herinneringen“ Eltern, die ungerechtfertigt beschuldigt wurden und sammelt persönliche Geschichten von Familienmitgliedern, die das große Leid zeigen, welches durch Falschbeschuldigungen entsteht – auch bei Betroffenen, die frühere Anschuldigungen widerrufen (vgl. ebd. S. 14).

Tendenzen in der Medienberichterstattung

Mediale Darstellungen haben die Macht, etwas zum Thema zu machen, darum wurde auch die Berichterstattung über rituellen Missbrauch untersucht, wobei der Schwerpunkt natürlich auf der niederländischen Presse lag. In einem Längsschnitt fiel auf, dass (im Vergleich zu den Jahren vor 2010) die Zeitungen ab 2020 vermehrt Medienberichte über Einzelpersonen oder Bürgergruppen veröffentlichten, die auf das Ausmaß von rituellem Missbrauch aufmerksam machen und über vermeintliche Täternetzwerke informieren wollten (vgl. Teilbericht 8, S. 13f.).

Zudem bildeten sich in den letzten zehn Jahren (erneut) diejenigen Themen heraus wie in den 1990er Jahren, es gab erneut eine stark polarisierte Debatte um z.B. die Existenz von rituellem Missbrauch. Die Polarisierung hat sogar eher zu- als abgenommen. In alternativen Medien abseits der Massenmedien werden zunehmend Verschwörungsgeschichten von hochrangigen Kreisen, internationalen Eliten und satanistischem Missbrauch lanciert (vgl. ebd. S. 18ff.).

Keine Beweise seitens der Polizei gefunden

Die Aussagen von Opfern und Therapeuten werden im Bericht der Untersuchungskommission jenen von Polizei, Staatsanwaltschaft und Expertengruppen gegenübergestellt. Hierfür wurden die niederländischen Polizeiakten aus den Jahren 2014 bis 2021 anhand von spezifischen Schlagworten durchsucht und im Endeffekt kamen zwei Fälle dabei heraus, die im Kontext von ritueller Gewalt behandelt worden waren. Polizeiliche Ermittlungen blieben ergebnislos bzw. die Fälle wurden wieder eingestellt oder die Anzeige zurückgezogen (vgl. Teilbericht 12, S. 11f.).

In der Niederlande gibt es eine eigene Expertengruppe für komplexe Sexualstrafverfahren, die LEBZ. Diese Einrichtung untersucht seit 1999 Missbrauchsfälle mit Aspekten von rituellem Missbrauch, wiedererlangten Erinnerungen und Berichte, die auf Missbrauchserinnerungen vor dem dritten Lebensjahr basieren. Dieser Fachgruppe werden von Kriminalpolizei und Staatsanwälten diesbezügliche Sachverhalte zur Begutachtung vorgelegt, um zu beraten, ob die Ermittlungen fortgesetzt und/oder eine Strafverfolgung eingeleitet werden soll.

Diese multidisziplinäre Expertengruppen aus 20-25 Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen, die zumeist promoviert haben und Professuren innehaben, dient einerseits dem Opferschutz und dem professionellen Umgang mit Opfern seitens der Polizei, soll aber andererseits auch verhindern, dass Personen, denen derartiges vorgeworfen wird, zu leichtfertig festgenommen werden (vgl. Teilbericht 13, S. 2ff.).

In der Mehrzahl der 28 geprüften Fälle fand die LEBZ durchaus Probleme bei der Art und Herkunft der Meldung, dazu gehören Beeinflussung durch Therapeuten, Berater oder Vertrauenspersonen: Wiedergewonnene Erinnerungen scheinen in neun Fällen eine Rolle zu spielen, und sieben Fälle beinhalten die Interpretation von Symptomen, Verhaltensweisen oder Träumen, aus denen geschlossen wird, dass ein Klient ein schweres Trauma erlebt hat. Manchmal haben die Reporter selbst Zweifel an den wiedergewonnenen Erinnerungen, aber der Therapeut ist vom Missbrauch überzeugt.“ (ebd. S. 11)

In den allermeisten Fällen riet die LEBZ die Ermittlungen einzustellen. Dementsprechend war auch der Hendriks-Kommission eine umfassende Analyse der Rechtsprechung zum Thema ritueller Missbrauch nicht möglich, da zu rituell-satanischem Missbrauch keine Urteile in der niederländischen Rechtsdatenbank gefunden werden konnten. Es ging hauptsächlich um andere Themen wie Kinderpornographie, Pädophilen-Netzwerke, Inzest oder Menschenhandel (vgl. Teilbericht 14, S. 3; 16).

Der Ausschuss hat weiters die zuständigen Behörden, Polizei, Staatsanwaltschaft sowie private Einrichtungen und Journalisten in den Niederlanden befragt, ob sie im Rahmen ihrer Tätigkeit auf Kindermissbrauchsabbildungen im Internet aus einem ritualisierten oder satanischen Kontext gestoßen sind. Die klare Antwort war Nein. „Nur die Opfer selbst, einige Therapeuten und verschiedene alternative Medienquellen geben an, Aufnahmen von rituellem (satanischem) rituellem Missbrauch gesehen zu haben oder geben an, dass dies existiert.“ (Teilbericht 5, S. 19f.)

Auch Hilfs- und Krisendienste in der Niederlande berichten nur sehr vereinzelt von Meldungen über rituelle Gewalt (vgl. Teilbericht 11, S. 22f.)

Warum hält sich die Verschwörungstheorie dennoch so hartnäckig? Eine soziologische Betrachtungsweise gibt Aufschluss darüber, wie Narrative entstehen, weitergegeben und legitimiert werden:

Kollektives Geschichtenerzählen und ideologischer Diskurs

Zwangstechniken, wie sie in Sekten vorkommen, also zum Beispiel Indoktrination, rhetorische Überzeugungstechniken, emotional aufgeladene Sprache und Zwangskontrolle als eine Form des operanten Konditionierens (vgl. Teilbericht 9, S. 12) existieren, das steht außer Frage. Ein eigener Teilbericht befasst sich mit dieser Fragestellung – und zieht eine scharfe Abgrenzung: „Es werden nur Theorien und Techniken diskutiert, die wissenschaftlich fundiert und strukturiert erforscht werden können, aktuell und im Zusammenhang mit organisiertem sadistischen Missbrauchs von Minderjährigen relevant sind. Zu den wissenschaftlich nicht untersuchten Theorien gehören auch die bewusste Schaffung multipler Persönlichkeiten (dissoziative Identitätsstörung; DIS) und extreme Formen der Konditionierung. Dies sind Kontrolltechniken, die oft in den alternativen Medien und von einigen Opfern erwähnt werden.“ (ebd., S. 4)

Weiters wird klar festgehalten: „Extreme Formen der Konditionierung, bei denen Persönlichkeitsanteile und Verhaltensprogramme erzeugt und mit Codewörtern oder Lichtblitzen hervorgerufen werden können, entsprechen nicht dem wissenschaftlichen Verständnis der Möglichkeiten und Grenzen der Konditionierung.“ (Abschlussbericht, S. 26)

Genau diese absichtliche Schaffung multipler Persönlichkeiten, oft auch „absichtsvolle Spaltung der kindlichen Persönlichkeit“ und „Programmierung“ genannt, ist jedoch das, was sich in traumatherapeutischer Literatur immer wieder findet. Quellen hierzu sind jedoch lediglich Artikel in alternativen (fragwürdigen) Medien und subjektive Schilderungen von vermeintlichen Opfern. Ein wissenschaftliches Fundament ist Fehlanzeige, darum wird im Bericht für das niederländische Parlament nicht weiter darauf eingegangen – klarer könnte das Statement der Hendriks-Kommission kaum sein.

Was allerdings sehr wohl untersucht wird, ist die Art und Weise, mit welcher Wortwahl von Anhängern der rituelle-Gewalt-These gesprochen wird, vor allem auch in der Radiosendung von Argos, die den Stein ins Rollen gebracht hatte. Darin kommen eine Therapeutin und Patienten zu Wort, die von „Selbstmordprogrammen, Selbstverstümmelungsprogrammen und Rückkehrprogrammen“ sprechen. Genau diese Wortwahl ist als Beispiel für eine emotional aufgeladene Sprache und einen ideologisch gefärbten Diskurs anzusehen, der Merkmale von extremer Beeinflussung trägt. Dies führe zu einer kollektiven Art des Geschichtenerzählens: „Anschließend konstruieren sie gemeinsam eine gemeinsame Sprache und Ideologie in diesem Fall über Missbrauch und Gewalt“. (Teilbericht 10, S. 29)

Verschwörungskonstrukte, so drückt es der Bericht sehr klar aus, können das Risiko bergen, dass realer Missbrauch und Straftaten nicht angemessen bekämpft werden: „Es hilft Missbrauchsopfern weder bei einer erfolgreichen Anzeige und einem möglichen Gerichtsverfahren noch bei ihrer Genesung, wenn ihre persönlichen, wahren Geschichten in die Erzählung von QAnon oder andere extreme Erzählungen eingerahmt werden. Satanische rituelle Missbrauchserzählungen lenken an mehreren Fronten und auf verschiedene Weise die Aufmerksamkeit von der bestmöglichen Berichterstattung, Untersuchung, Verfolgung und Wiedergutmachung von Missbrauch und Ausbeutung ab.“ (ebd., S. 30)

Und genau diese Verschwörungsmythen unterminieren den Umgang mit Kinder- und Menschenhandel – von Anzeige über polizeiliche Ermittlung bis zur Genesung des Opfers: „Daher können Verschwörungstheorien im Allgemeinen und extreme Verschwörungsmythen über „satanische rituelle Missbrauchsgeschichten“ im Besonderen soziale Unsicherheit und einen Nährboden für Kindesmissbrauch, Missbrauch und Ausbeutung schaffen.“ (ebd., S.31)

Was empfiehlt dieser Teilbericht? Die Untersuchung von Desinformation mit Methoden der Fakten- und Quellenprüfung sowie linguistische Analysemethoden durch multiprofessionelle Forschungsteams:

Verschwörungsmythen können beispielsweise aus bestimmten wiederkehrenden Story-Elementen, Sprache und rhetorischen Techniken bestehen. Je mehr solche typischen Story-Elemente vorhanden sind, desto wahrscheinlicher handelt es sich um Fehlinformationen. Geschichten können immer noch teilweise auf der Wahrheit basieren, aber durch das Nacherzählen können die Fakten zunehmend verzerrt und mit neuen Elementen „angereichert“ werden.“ (ebd., S. 36).

Doch genau das scheint Argumentationslinie der Verschwörung zu sein: Weil sich Opferberichte inhaltlich gleichen, so müsste doch die Wahrheit dahinter stecken …

Zu gut, um unwahr zu sein“

Warum gerade in der heutigen Zeit diese jahrhundertealten Geschichten um Teufel und Geheimkulte ihre Renaissance erleben, erklärt sich durch ihre identitätsstiftende Funktion in der (sonst so aufgeklärten) Gesellschaft (vgl. Teilbericht 10, S. 6ff.) Diese Anschuldigungen müssen auch in Zusammenhang mit einem allgemeinen Klima des Misstrauens gegenüber staatlichen Stellen, der politischen Elite oder der Wissenschaft gesehen werden (vgl. ebd., S. 8f) – womit sich der Kreis hin zu den Erzählungen sonstiger Verschwörungstheorien schließt und das Narrativ des rituellen Missbrauchs in das kulturelle Repertoire von Geschichten über den sinnbildlichen Anderen in bösen Organisationen einbettet.

„Solche Geschichten sagen oft mehr über die Ängste aus, die in der Gesellschaft leben, als über die beschuldigte Gruppe. Indem man einer undefinierbaren Bedrohung einen Namen und ein Gesicht gibt, wird sie unter Kontrolle gebracht. Das kulturelle Repertoire dieser Geschichten ist so weit verbreitet, dass auch persönliches Leid durch die Assoziation mit solchen Geschichten an Bedeutung gewinnen kann.“ (ebd., S. 10)

Gerade diese Einbettung von persönlichem Leiden in eine größere Geschichte macht dieses weniger willkürlich, wenn das Böse, das subjektiv widerfuhr, in den Kontext einer großangelegten Verschwörung gestellt wird: Missbrauch ist nicht länger nur Einzelfall und Unglück für den Betroffenen, sondern bekommt internationale Bedeutung. Wenn ein Verbrechen als Ritual bezeichnet wird, ist der Täter nicht „nur“ ein Krimineller oder Psychopath, sondern gehört einer bösen Organisation an, was wiederum einen großen Plan hinter dem Missbrauch impliziert, gleichsam wenn von generationsübergreifenden Kulten gesprochen wird (vgl. ebd., S. 9f.).

Was folgt aus diesen kollektiven Erzählungen? „Das Genre der Geschichten über böse Andere ist so tief in unsere Kultur verwoben, dass eine solche Geschichte für Zuhörer manchmal zu gut ist, um unwahr zu sein.“ (ebd., S. 10).

Dennoch: Auch wenn eine Narrativ kulturell tief eingebrannt ist, sensationsheischend in den Medien und in suggestiven Therapien verbreitet wird – es ist und bleibt ein Narrativ. Jedoch eines, das von realen Opfern und vom Missbrauch ablenkt, der täglich um uns herum passiert. Und genau das macht das Festhalten an dieser Verschwörungstheorie so tragisch. Denn die (Online-)Verbreitung von Verschwörungsdiskursen kann reale soziale Probleme, Missbräuche und Verbrechen annektieren und zu Satanic Panic führen (vgl. Teilbericht 10, S. 30).

Da nun bereits zwei Nachbarländer, die Schweiz und die Niederlande, Konsequenzen aus der Satanic Panic gezogen haben, an dieser Stelle (noch einmal) die Frage: Wann zieht Deutschland endlich nach?

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