Spiegel-Reportage: „Im Wahn der Therapeuten“

Autorin: Nora Sillan

In einer 7-seitigen, äußerst lesenswerten Reportage berichten Beate Lakotta und Christopher Piltz im Spiegel über die Auswirkungen der Satanic Panic in Deutschland. Es ist ein umfassend recherchierter Artikel, der den sehr tragischen Fall einer jungen Frau schildert und dazu die Hintergründe der Verschwörungsszene beleuchtet.

Klarer kann man es kaum ausdrücken: Der Spiegel spricht von einer „paranoiden Scheinrealität“, einem „therapeutischen Wahngebilde“ und „psychischen Abgrund“, in den die 32-jährige Malin Weber hineingerissen wurde. Die fatalen Folgen der Suggestivtherapie könnten nicht schlimmer sein: Sie verlor ihr Kind, das nun bei einer Pflegefamilie lebt, weil Jugendamt und Amtsgericht den Ausführungen ihrer Therapeutin glaubten, dass ihre zweijährige Tochter bei einer Kult-Massenvergewaltigung gezeugt wurde und daher in Gefahr sei. Bereits vor der Geburt wurde der werdenden Mutter das Sorgerecht entzogen – basierend auf den Angaben der Traumatherapeutin Jutta Stegemann, wie der Spiegel berichtet. Eine der Begründungen für das Vorliegen einer Dissoziativen Identitätsstörung bei der jungen Mutter: der Wechsel der Augenfarbe, etwas, was absolut unmöglich ist (siehe hierzu auch folgenden Artikel).

Beschwerden an das Oberlandesgericht und auch die Psychotherapeutenkammer laufen zur Zeit. Doch bis heute darf Malin Weber ihre kleine Tochter nur alle drei Wochen für wenige Stunden unter Aufsicht sehen.

Traumatisiert durch die Traumatherapie

Wie konnte es soweit kommen? Mit der Verdachtsdiagnose DIS wurde sie, wie Weber den beiden Journalisten darlegt, an die Traumatherapeutin und psychologische Psychotherapeutin Jutta Stegemann verwiesen, die eine Beratungsstelle zu ritueller Gewalt des Bistums Münster leitet. „Es ging nur um Satanimus“, berichtet Malin Weber dem Spiegel, nicht um ihre Erfahrungen nach einer schwierigen Kindheit und Trennung von ihrem Expartner – und das Stottern der jungen Frau wurde mit einem „Redeverbot“ seitens des Kults erklärt, wie die Reportage die Entwicklung dieser Fehltherapie ausführlich nachzeichnet.

Das anschließende Interview mit Jutta Stegemann beschreiben die beiden Spiegel-Autor_innen folgendermaßen: „Drei Stunden lang doziert sie über »Mind-Control« und »Innenpersönlichkeiten«, erwähnt dabei den Auschwitz-Arzt Josef Mengele, den belgischen Kinderschänder Marc Dutroux, den Campingplatz in Lügde. Folgt man Stegemann, stecken hinter allem satanistische Täterkreise. Sie spricht von einem Chirurgen, der Chips aus den Körpern der Opfer entferne. Fragt man die Therapeutin nach ihrer ehemaligen Klientin Malin Weber, muss man ihre Antwort so verstehen, als hätten die Täter Weber auf Stegemann angesetzt, um sie zu stoppen – weil sie zu gute Arbeit leiste “. (Der Spiegel, 11.3.2023, S. 37)

Hauptdarsteller der Satanic-Panic-Szene

Neben Stegemann werden die Protagonisten der deutschen Satanic Panic Szene in dieser Reportage namentlich aufgezählt: „Involviert sind renommierte Vertreter ihres Fachs, allen voran die Traumatherapeutin Michaela Huber. Sie tritt schon seit mehr als 20 Jahren als Kennerin okkulter Sektengewalt auf – und hat in dieser Rolle vermutlich Hunderte Therapeuten geschult.“ (Der Spiegel, 11.3.2023, S. 37)

Daneben werden u.a. Psychotherapeutin Claudia Fliß, die Bistümer Münster, Osnabrück & Essen, die Webseite https://wissen-schafft-hilfe.org/ (mittlerweile im „Wartungsmodus“), das Traumainstitut Mainz unter der Leitung von Birgit Bosse, Expertenberichte an die Aufarbeitungskommission, die Einrichtung des Hilfetelefons sowie eine Broschüre über rituelle Gewalt des Bundesfamilienministeriums genannt. „Forschungsgelder flossen“, wie der Spiegel dazu festhält.

Warum die (von der Aufarbeitungskommission finanzierte) Forschung von Peer Briken, Susanne Nick, Johanna Schröder u.a. zum Thema rituelle Gewalt, die sich vornehmlich auf anonyme Onlinebefragungen vermeintlich Betroffener stützt, oft als Beleg für die Existenz ritueller Gewalt herangezogen wird – genau diese Frage stellt der Spiegel an Peer Briken. Die Antwort des Studienautors zu einem Realitätscheck: Das sei nicht das Anliegen gewesen. Wissenschaftliche Evidenz für Mind Control habe er nicht. Und: „Man habe an keiner Stelle behauptet, Fakten zu präsentieren.“ (Der Spiegel, 11.3.2023, S. 41)

Diese Aussagen von Briken wirken nach Augenauswischerei: Wozu wurden groß angelegte empirische Studien durchgeführt und deren Forschungsergebnisse auf Konferenzen sowie in diversen Fachzeitschriften auf Deutsch und Englisch (sogar in der Datenbank PubMed) publiziert, wenn man keine Fakten präsentieren wollte? Zudem: In den Studien selbst wird zwar auf Limitationen in der Interpretation der Ergebnisse hingewiesen (vgl. Studie, S. 258), dass es allerdings um gar keine Schaffung von Fakten gehen sollte, wird mit keinem Wort erwähnt. Wie vermeintliche l‘ art pour l’art aus einem „universitären Elfenbeinturm“ wirken die Publikationen absolut nicht, sondern erwecken eher den Eindruck von Grundlagenforschung, deren Datenmaterial in möglichst vielen Veröffentlichungen ausgeschlachtet werden sollte. (Zur Herangehensweise dieser Studien siehe auch folgenden Artikel).

Wer profitiert von diesem Narrativ?

„Eine Vielzahl selbst ernannter Experten profitiert so von der Erzählung des satanischen Missbrauchs“, so bringen es die beiden Journalisten auf den Punkt: „Manche Helfer verlieren dabei offenbar die professionelle Distanz und halten alles für wahr, was sie hören. Manche überhöhen ihre eigene Rolle – sie behandeln nicht nur die schlimmsten Fälle, sie kennen auch geheimste Praktiken.“ (Der Spiegel, 11.3.2023, S. 37)

Was sagt Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte des Bundes (UBSKM) zu diesen Ereignissen? Gefragt, ob sie dies alles glaube, winde sie sich um Antworten, schreibt der Spiegel. Prof. Dr. Werner Strik, Autor des Schweizer Gutachtens zu Littenheid bewerte übrigens auf Anfrage der Journalisten die Informationen, die auf den Webseiten der UBSKM (bis vor Kurzem) auffindbar waren. Fazit: Es entbehre jeglicher wissenschaftlichen Grundlage.

Mit diesem exzellent recherchierten Artikel leistet der Spiegel einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung über dieses Narrativ, ja einen Meilenstein, diese Verschwörung in all ihren Ausmaßen, Verstrickungen und Konsequenzen aufzudecken . Dass dies (leider!) nicht selbstverständlich ist, zeigen jüngst erschienene Berichte in der taz und im ARD-Radiofeature, die Verschwörungsinhalte unreflektiert und unkritisch wiederkäuen.

Der geschilderte Fall von Malin Weber wiegt schwer und es ist äußerst tragisch, wie weit es kommen musste: dass das Wort einer verschwörungsgläubigen Traumatherapeutin das Leben einer jungen Frau derart zerstören konnte. Das ist unfassbar und ein Skandal, der hoffentlich in allen Belangen (juristisch, medial und politisch) aufgearbeitet wird.

Damit so etwas nie wieder passiert.

Zum Weiterlesen (GWUP)

2 Kommentare

  1. Vielen Dank, dass auch ihr den Artikel aufgreift.

    Ob sich wirklich etwas tut, muss sich noch beweisen. Wenn man bedenkt welche Stellen in dem Zusammenhang angeschrieben wurden, grenzen die Erfahrungen mit den Ämtern ebenfalls schon an eine Verschwörungstheorie.

    Petitionsausschuss des Landtag NRW, Gesundheits-, Justiz- und Familienministerium wurden informiert. Mehr als eine Empfangsbestätigung kam dabei eigentlich nicht herum.

    Deutschland ist mal wieder Vorreiter und ich bin gespannt ob es totgeschwiegen wird, oder es das erste Land wird, was die Existenz öffentlich anerkennt. (Achtung Galgenhumor!)

    Es bleibt ebenso spannend wie sich die Geschichte auf das weitere Verfahren auswirkt, da in die sensiblen Wespennester Deutsche Familiengerichte und öffentliche Jugendhilfe gestochen wurde.

    Liebe Grüße
    Sebastian

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