Verschwörung im Fachbuch Teil I

Erster Teil

Programmierung und Mind-Control – Verschwörungstheorien im Fachbuch

Autorin: Nora

Martin Sack | Ulrich Sachsse | Julia Schellong
Komplexe Traumafolgestörungen
Diagnostik und Behandlung von Folgen schwerer Gewalt und Vernachlässigung
Neuauflage Juli 2022

In der aktuellen Neuauflage des Fachbuchs „Komplexe Traumafolgestörungen“ von Martin Sack, Ulrich Sachsse und Julia Schellong finden sich zwei Kapitel über Rituelle Gewalt und Programmierung bei Dissoziativer Identitätsstörung von der Psychologin Claudia Fliß.

Die von Claudia Fliß verwendete Definition von Ritueller Gewalt stützt sich auf die Ausführungen vom UBSKM, der die ideologische Begründung oder Rechtfertigung der Gewalt u.a. im Kontext von Sekten und Kulten betont (https://beauftragte-missbrauch.de/themen/definition/organisierte-sexualisierte-und-rituelle-gewalt).

Weiters wiederholt Claudia Fliß ihre eigene Definition aus ihrem Handbuch, dass bei Ritueller Gewalt männlich dominierte, oft generationsübergreifende Strukturen mit langer Tradition agieren, die in ein echtes oder vorgetäuschtes Glaubenssystem eingebettet sind (vgl. Fliß / Igney 2010, Handbuch Rituelle Gewalt, S 11f.).

Ein Schweigegebot sowie lebenslange Konditionierungen von Opfern und – ultima ratio – die Tötung von Ausstiegswilligen sind in diesen Kulten und Sekten an der Tagesordnung, von denen wir alle (sprich: Außenstehende) keine Ahnung haben (können), eben weil sie geheim sind.

Aber – und das sei nun als offene Frage in den Raum gestellt – genügen allein Schilderungen von Betroffenen für die Aufstellungen von Thesen und im Endeffekt für die Herstellung von Fakten? Sind diese – per definitionem subjektiv gefärbten – Erfahrungsberichte Grundlage genug, um daraus Schlussfolgerungen abzuleiten, die als allgemeingültig in Fachbüchern publiziert, reproduziert und generalisiert werden?

Claudia Fliß, die bereits im Jahr 2000 unter dem Namen Claudia Bommert einen Beitrag mit dem Titel „Konditionierung“ im populärwissenschaftlichen Werk „Satanismus, die unterschätzte Gefahr“ von Guido und Michael Grandt veröffentlicht hatte, betont die Wichtigkeit, dass von therapeutischer Seite den Opfern geglaubt wird: „Nach eigenen Erfahrungen ist es, unabhängig von traumatherapeutischen Kenntnissen und Erfahrungen, für Betroffene jedoch wichtiger, dass ihnen ihre Erlebnisse geglaubt und sie empathisch sowie konsequent unterstützt und begleitet werden.“ (Fliß 2022, Behandlung von Opfern organisierter Gewalt. In: Sack et al. Komplexe Traumafolgestörungen, S. 435)

Das heißt also, Fliß’ Ausarbeitungen stützen sich einzig und allein auf die Schilderungen von Patienten mit einer Dissoziativen Identitätsstörung, die sie ins Zentrum ihrer Recherchen stellt. „Folgt man Berichten Betroffener“, wie die Autorin selbst schreibt, wird eine DIS im Setting von Kulten meist ab Geburt oder bereits vorgeburtlich absichtlich von den Tätern erzeugt.

Es werden hierfür aber keinerlei Belege angegeben, wie diese gezielte Programmierung einer DIS bei Säuglingen oder gar bei bei Föten im Mutterleib konkret vonstatten gehen soll. – Folgt man den Berichten Betroffenen, dann sind schließlich keine weiteren Beweise oder Quellen, die eine objektive und intersubjektive Nachprüfbarkeit dieser Thesen ermöglichen, notwendig, oder?

Fliß definiert Programme lediglich insofern, als dass diese „zusammengesetzte konditionierte Verhaltensweisen und durch Trigger aneinander gebundene Persönlichkeitsanteile einer dissoziativen Identitätsstruktur“ enthalten, die diese unter hohem Traumastress und in Flashbacks umsetzen. Sie bestehen aus Unterprogrammen und werden durch „konditionierte Auslöser in Gang gesetzt oder gestoppt“ (Fliß 2022, Psychotherapie bei noch bestehendem Täterkontakt. In: Sack et al. Komplexe Traumafolgestörungen, S. 442)

Wie diese Programme im Detail aussehen, wie es konkret abläuft, eine derartige Fernsteuerung über Menschen zu schaffen, um deren Gehirn quasi zum Roboter zu programmieren, diese Antworten bleibt Fliß schuldig. Doch um genau diese Art von Gehirnwäsche scheint es zu gehen, denn „wenn ein Rückholprogramm vorliegt, kann eine Betroffene nicht eigenständig entscheiden, den Kontakt zu den Tätern abzubrechen“ (Fliß 2022, ebd. S. 442).

Funktionieren diese Rückholprogramme nicht, da die Betroffenen ausreichenden äußeren Schutz haben, „lösen die Täter gnadenlos Autoagressions- und Suizidprogramme aus.“ (Fliß 2022, Behandlung von Opfern organisierter Gewalt. In: Sack et al. Komplexe Traumafolgestörungen, S. 434) Wie derartige Suizidprogramme psychologisch konstruiert sind bevor sie „gnadenlos“ durch Triggerreiz ausgelöst werden, bleibt jedoch ebenfalls offen.

Um es zusammenzufassen: Thesen über eine derartige Programmierbarkeit von Menschen, die unter dem Stichwort Mind Control von Alison Miller und Co. verbreitet werden, haben hiermit Eingang in ein aktuelles Fachbuch über komplexe Traumafolgestörungen gefunden und werden in einer Selbstverständlichkeit neben Kapiteln über neurobiologische Grundlagen oder verschiedene Therapiemethoden angeführt, als gäbe es für sie ähnlich wissenschaftlich haltbare Beweise wie z.B. MRT-Schnittbilder des Gehirns. Oder anders formuliert: als gäbe es überhaupt irgendwelche Beweise.

Diese Thesen stützen sich jedoch, wie bereits dargelegt, ausschließlich und explizit auf die subjektiven Erfahrungsberichte Betroffener, die hiermit 1:1 anerkannt werden.

Was anerkannt ist, ist legitim und was legitim ist, ist wahr und findet in Folge aus dem Fachbuch heraus den direkten Weg in die therapeutische Aus- und Weiterbildung und in die Behandlungszimmer von Kliniken und Praxen. Subjektive Erfahrungsberichte werden also zur therapeutischen Realität anhand derer in Diagnostik und Therapie Menschen mit Traumafolgestörungen behandelt werden und die Verschwörungstheorie von Mind Control erhält durch ihre Aufnahme in ein Fachbuch über Traumafolgestörungen eine neue Bühne in ihrer Legitimität.

Es stellt sich zusammenfassend also folgende Frage: Sind umfassende Publikationen über Traumafolgestörungen heutzutage überhaupt noch möglich ohne dem Narrativ von Programmierung und Mind Control bei einer Dissoziativen Identitätsstörung anzuhaften bzw. ohne es in seiner Weiterverbreitung zu fördern? Oder hat diese Verschwörungstheorie trotz fehlender wissenschaftlicher Basis bereits alle Fachdisziplinen unterwandert?

Zum Weiterlesen:

4 Kommentare

  1. Vielen Dank für den Artikel!
    Das Buch habe ich ebenfalls zuhause und bin über die gleichen Stellen gestolpert, wobei ich bisher nur zu Mind Control recherchiert habe.

    Jan Gysi hat in seinem Buch “Diagnostik von Traumafolgestörungen – Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11” ebenfalls den Begriff Mind Control genannt und auf die ältere Ausgabe des Buchs “Komplexe Traumafolgestörungen” verwiesen.

    Durch Rückwärtsrecherche habe ich versucht herauszufinden woher dieser Begriff kommt. Miller und Fliß geben, soweit ich das sehen konnte, keine weiteren Quellen an, sondern verwenden den Begriff als Selbstverständlichkeit.
    Eine weitere Quelle verweist auf einen älteren Artikel, der die Folter von Kriegsgefangenen nennt, um deren Willen zu brechen. Einen Zusammenhang zur Diagnose DIS, schafft dieser Artikel allerdings nicht.

    Auf Nachfrage hat Herr Gysi mir mitgeteilt, dass Mind Control oft von Betroffenen genannt wird und noch viele Fragen offen sind.
    Er nannte noch die folgenden Quellen:
    – Walther/Brieken: Sexueller Missbrauch – Die Perspektive der Betroffenen, Psychotherapie im Dialog 2022
    – Nick/Schröder/Briken/Richter-Appelt: Organisierte und rituelle Gewalt in Deutschland; DOI 10.21706/TG-12-3-244

    Um die Schlussfrage für mich zu beantworten: Ja, verwandte Fachdisziplinen sind bereits unterwandert.

  2. Hallo Sebastian, vielen Dank für das ausführliche Feedback und die weiterführenden Links!

    Ja, wie in dem von dir angeführten Artikel aus „Trauma und Gewalt“ von Nick/Schröder et. al. auf S. 256 festgehalten wird: „Sowohl zur absichtsvollen Aufspaltung als auch zu den erwähnten Ideologien gibt es bisher keine uns bekannten Studien (…)“.

    Es wäre wirklich interessant herauszuarbeiten, wann die Begriffe Programmierung/ Mind Control erstmals in den Kontext von DIS gebracht wurden – abgesehen davon, dass sie inzwischen fast reflexartig genannt werden, wann immer von Ritueller Gewalt die Rede ist.

    Liebe Grüße
    Nora

    1. Hallo Nora,
      laut dem englischen Wikipedia-Artikel zur Satanic Panic war dies ein D. Corydon Hammond.

      Abschnitt “Conspiracy theories”
      “In the 1990s, psychologist D. Corydon Hammond publicized a detailed theory of ritual abuse drawn from hypnotherapy sessions with his patients, alleging they were victims of a worldwide conspiracy of organized, secretive clandestine cells who used torture, mind control and ritual abuse to create alternate personalities that could be “activated” with code words; the victims were allegedly trained as assassins, prostitutes, drug traffickers, and child sex workers (to create child pornography).”

      Das ganze Buch von Michelle Remembers habe ich nicht gelesen, kann daher nicht sagen ob dort ebenfalls von mehreren Identitäten die Rede war. Jedenfalls war es bisher die älteste Quelle, die ich im Zusammenhang mit der Satanic Panic gefunden habe, und wo “mind-control” Verwendung findet.

      (Chapter 20, S. 173)
      “Dr. Pazder knew that the Satanists had used sophisticated techniques of psychological manipulation to try to inhibit Michelle—not merely to make her forget but, if she should remember, to make her
      not tell. Michelle had found the strength to talk—despite them, she was telling. But their manipulations had made it extremely difficult for her. It was undoubtedly this extreme difliculty that she was reflecting in her refusal to continue.
      And perhaps there was more to it than that. A dreadful memory was coming up, he sensed, undoubtedly the unbearably horrible memory that had impelled Michelle to seek spiritual armor from the Church. It was forcing its way past the dire admonitions of the Satanists, causing a tremendous emotional battle. It seemed quite possible, he thought, that her very sanity could be at stake. Such mind-control techniques had unbelievable power, he knew. ”

      Werde langfristig die Quellen noch aufarbeiten, komme gerade nur zeitlich schlecht dazu. Auf jeden Fall ein Thema, das mehr in die Öffentlichkeit gehört – besonders in den Fokus der Fachwelt.

      Vielen Dank für euer Engagement!

      Viele Grüße
      Sebastian

  3. Hallo Sebastian,
    vielen Dank für das Material zu den Quellen des Begriffs.

    Ja, dieses Thema müsste dringend mehr Raum sowohl in den Medien als auch in der Fachwelt bekommen.

    Liebe Grüße
    Nora

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert