Thema verfehlt! Teil IV

Vierter Teil

Das eigentliche Thema wurde verfehlt – Hauptsache man bleibt besonders

Autorinnen: Marvel Stella & Nora

Martin Sack | Ulrich Sachsse | Julia Schellong
Komplexe Traumafolgestörungen
Diagnostik und Behandlung von Folgen schwerer Gewalt und Vernachlässigung
Neuauflage Juli 2022

Beim Lesen des 36. Kapitels, in dem es um »eine kritische Perspektive auf Normierungspraktiken der Versorgung Gewalterfahrener« geht, begleitete mich großteils das Gefühl, dass die Autor:innen ein Machtproblem haben. Wie ich bereits im dritten Artikel schrieb, hätte dieses Thema durchaus Potenzial gehabt, Kritikwürdiges zu dokumentieren. Es scheiterte meines Erachtens daran, dass da jemand – fast schon offensichtlich – ganz persönliche Autoritäts-Befindlichkeiten aufzuarbeiten versucht. Das meine ich ganz und gar nicht despektierlich. Nicht umsonst fügte ich hinzu, dass es »fast schon offensichtlich« sei. Die Tatsache, dass das Kapitel sehr philosophisch aufbereitet und Michel Foucault entsprechend oft zitiert wurde, täuscht nicht darüber hinweg, dass Probleme kreiert wurden, die in so einem Fachbuch definitiv nicht hinein gehören.

So heißt es zum Beispiel:

„Patient:innen, die eine Behandlung in Anspruch nehmen müssen, müssen sich diagnostizieren lassen. Psychiatrische Diagnostik ist eine Machtausübung, in der die Deutungshoheit über das (Selbst-)Erleben der Patient:innen nicht mehr bei den Patient:innen liegt. Sie markiert die Diagnostizierten als anders.“
Martin Sack | Ulrich Sachsse | Julia Schellong Komplexe Traumafolgestörungen, S. 699

Ich übertreibe nicht, wenn ich den Leser:innen verrate, dass ich sehr lange über diesen Absatz nachgedacht habe. Irritiert hat mich, dass ich die Erörterung einer solchen Problematik nicht in einem Fachbuch von Martin Sack, Ulrich Sachsse und Julia Schellong zu Traumafolgestörungen erwartet hätte. Ich kann durchaus verstehen, wenn ein:e Gewalterfahrene:r im diagnostischen Verfahren eine Machtausübung sieht, objektiv betrachtet ist die Diagnostik aber nur dann ein Problem, wenn ein Machtmissbrauch vorliegt!

In erster Linie haben Diagnosen den Sinn, Patient:innen effektiv zu behandeln. Natürlich ist das erst einmal alles andere als individuell. Natürlich haben wir hier eine Form der Normierung. Aber genau dieser Grundrahmen ist nötig, um ein Konzept zu erstellen. Das Individuelle wird üblicherweise in diesem Rahmen untergeordnet.

Als die Aussage dann noch mit den folgenden Zeilen ergänzt wurde:

„Mit dem Einsatz standardisierter Instrumente kann sich das Gefühl verstärken, direkt zu Beginn als Individuum denn als zu kategorisierendes Objekt wahrgenommen zu werden.“
Martin Sack | Ulrich Sachsse | Julia Schellong Komplexe Traumafolgestörungen, S. 699

… empfand ich sogar ein wenig Ärger.

Da haben Gewalterfahrene die Chance, tatsächliche Probleme in einem begehrten und allseits populären Fachbuch zu erörtern und debattieren stattdessen über standardisierte Instrumente, die irgendwelche schizoid-gefärbte Gefühle verstärken können? Unter Umständen? In Einzelfällen?

Man kann den Autor:innen nicht einmal vorwerfen, sie wüssten nichts von den katastrophalen Zuständen in der psychiatrischen Versorgung, denn sie kommen durchaus darauf zu sprechen. Allerdings gehen sie in einem zehn Buchseiten umfassenden Text lediglich in wenigen Absätzen, die in ihrer Gesamtheit nur geringfügig mehr als eine Seite umfassen, auf die wirklichen Probleme in der Psychiatrie ein. Dadurch laufen diese legitimen und wichtigen Kritikpunkte Gefahr, in ihrer Brisanz verkannt zu werden, wenn sie nur unter ferner liefen im Rahmen der allgemeinen Normierungskritik aufgezählt werden.

Widersprüche

Woran man im Weiteren merkt, dass sich hier Betroffene mit einer sehr subjektiven Sichtweise einbringen, sind die Widersprüche, die sich im Laufe des Kapitels zeigen.

„Dass psychiatrische Diagnosen handlungsleitende Konstrukte sind, die situative Aufnahmen ohne Endgültigkeitsanspruch darstellen, ist Patient:innen unter Umständen ebenso wenig bekannt, wie der Umstand, dass individuelle Abweichungen von allgemeinen Beschreibungen möglich sind. (Helmchen 2017; Trachsel 2018)
Wissen Patient:innen davon nichts und werden innerhalb des Machtgefälles der professionellen Beziehung lediglich über die Diagnose informiert, besteht die Möglichkeit, dass Patient:innen sich an die Diagnosen als vermeintliche implizierte Erwartung anzupassen versuchen.“
Martin Sack | Ulrich Sachsse | Julia Schellong Komplexe Traumafolgestörungen, S. 699

Bevor ich inhaltlich auf dieses Zitat eingehe, möchte ich anmerken, dass sich Abhängigkeit und Autonomie immer die Waage halten sollten. Man kann nicht einerseits beklagen, dass man auf Grund von Diagnosen die Deutungshoheit über das (Selbst-)Erleben verliert und anderseits den Anspruch erheben, ähnlich wie ein unmündiges und hilfloses Individuum aufgeklärt zu werden. Damit macht man es den Behandler:innen schlicht unmöglich, effektiv zu helfen.

Wer in die Psychiatrie kommt, braucht in erster Linie eine Behandlung, in der Ärzt:innen diagnostizieren, entscheiden und helfen. Lange Aufklärungsarbeiten sind in den allermeisten Fällen nicht möglich, denn wer Patient:in in der Psychiatrie ist, ist zu 99,9% in einem akut hilfebedürftigen Stadium.

Wie ich bereits erwähnte, ist die Psychiatrie unbedingt kritikwürdig, doch das Zitierte ist – ich sage es mal ganz salopp – Jammern auf hohem Niveau! Gerade in der heutigen Zeit gehört es dank Google und den sozialen Medien u.a. zum Allgemeinwissen, dass Diagnosen nicht in Stein gemeißelt sind.

Hinzu kommt, dass jede:r Patient:in spätestens am Ende der Klinikzeit, wenn er:sie die Diagnose erfährt, die Möglichkeit hat, mit den Ärzt:innen zu sprechen. Die Fragen, die die jeweiligen Patient:innen zu ihren Diagnosen haben, sind so unterschiedlich, wie die Patient:innen selbst. Es ist realitätsfern, zu erwarten, die Ärzt:innen müssen vorweg Aufklärungsarbeit leisten, womit jede:r Patient:in zufrieden gestellt wird.

Medikamente

„Informationen zu Risiken und Nebenwirkungen einzelner Behandlungsverfahren sind ebenso Teil der Kenntnisse, auf Basis derer sich Patient:innen für oder gegen eine Behandlung entscheiden können. Das kann nur begrenzt möglich sein, wenn die notwendigen Informationen für die umfassende Aufklärung oft nicht, nur anteilig oder nur in zweifelhafter Qualität vorliegen. Das betrifft die medikamentöse Behandlung vor allem da, wo unerwünschte Langzeitfolgen von Psychopharmaka oder ihre spezifische Wirkung bei komplexen Traumafolgestörung nicht bekannt sind.“
Martin Sack | Ulrich Sachsse | Julia Schellong Komplexe Traumafolgestörungen, S. 700

Wenn wir schon bei Individualitäten und Normierungspraktiken sind, dann muss erwähnt werden, dass gerade Psychopharmaka sehr individuell wirken. Das hat nichts mit Traumafolgestörungen zu tun. Wie Psychopharmaka wirken, hängt u.a. (auch) mit der Genetik, mit angeborenen Dispositionen und mit der Ausprägung der Sensibilität zusammen.

Fairerweise muss auch hier beachtet werden, dass Patient:innen, welche in der Akutpsychiatrie aufgenommen werden, nicht in der Verfassung sind, die Liste aller möglichen Nebenwirkungen und Gegenanzeigen zu verinnerlichen.

Viel interessanter wäre es in dem Zusammenhang gewesen, zu erwähnen, dass in den meisten Fällen im Rahmen eines Psychiatrieaufenthaltes eine Überdosierung stattfindet, ohne, dass Medikamente eingeschlichen werden. Wenn Menschen auf Grund einer viel zu hohen Dosis nicht mehr in der Lage sind, sich überhaupt noch in irgendeiner Weise zu artikulieren und bereits froh sein können, wenn sie – gerade in den ersten Tagen – nicht sabbernd im Bett liegen, dann ist das im höchsten Maße kritikwürdig.

Besonderheit

Im gesamten Kapitel lässt sich verfolgen, dass Menschen mit komplexen Traumatisierungen einen ganz besonderen Bedarf haben:

  • Sie müssen besonders berücksichtigt werden.
  • Um sie in Psychiatrien adäquat behandeln zu können, braucht es besondere Weiterbildungen.
  • Es muss eine besondere Art und ein besonderer Umfang der Aufklärung erfolgen.
  • Eine Diagnostik darf nicht und wenn, dann nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen
  • uvm…

Durch die ständige Hervorhebung und die daraus resultierende Besonderung von Menschen mit Traumafolgestörung und ihren speziellen Bedürfnissen wird eine Hierarchie und eine Wertung in der Psychiatrie geschaffen, wo diese aber keinen Platz haben sollte. Die Bedürfnisse von Menschen, die »nur« wegen Schizophrenie (und vieler anderer Krankheiten) psychiatrisch behandelt werden, sind vielleicht anders, aber deswegen genauso besonders wie diejenigen von Menschen mit Traumafolgestörungen. Wenn eine Wertigkeit unter den Patient:innengruppen entsteht, dann konterkariert dies jegliche Bemühungen des Aufbrechens von Machtmissbrauch in der Psychiatrie!

Und genau dieses Problem, womit ich zum Ende der Abhandlungen komme, ist das eigentliche – ganz reale – Problem der heutigen Zeit:

Viele Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung bzw. einer komplexen Traumafolgestörung scheinen sich auf der Leiter des Schlimmen (natürlich im Superlativ) ganz oben anzusiedeln. Das beginnt mit der Störung an sich, die angeblich nur dann entsteht, wenn man langanhaltende extreme – nein, – extremste und brutalste Gewalt erlebt hat und es geht weiter mit der Art der Gewalt, mit der man sich gegenseitig zu übertreffen versucht. Der Leidwettbewerb, der im Internet stattfindet, setzt sich in einem Fachbuch, was für Lehre und Fortbildung konzipiert ist und den aktuellen Stand in der Traumaforschung zusammenträgt, fort.

Alle anderen Opfer scheinen – samt erlebter Gewalt – Stereotypen zu sein (siehe dazu auch der Artikel: Wer schreibt was).

Opfer, die überzeugt sind, satanisch-rituell missbraucht worden zu sein, legen Wert auf ihre Deutungshoheit und wollen damit so lange und in einer so starken Form gehört werden, bis es keine anderen Opfer mehr gibt, die gehört werden können, weil alle verstummt sind.

Das Fachbuch von Martin Sack, Ulrich Sachsse und Julia Schellong ist mit Verschwörungen und der Forderung nach Deutungshoheit durchsetzt.

Für mich und Nora ist diese Tatsache außerordentlich bedauerlich!

Zum Weiterlesen:

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