Dritter Teil
Die Bedeutsamkeit zu wissen, wer was schreibt
Autorin: Marvel Stella
Martin Sack | Ulrich Sachsse | Julia Schellong Komplexe Traumafolgestörungen Diagnostik und Behandlung von Folgen schwerer Gewalt und Vernachlässigung Neuauflage Juli 2022 |
Der Themenkomplex im Kapitel 36 zum Thema Normierung ist sehr relevant und hätte durchaus Potenzial gehabt, Kritikwürdiges zu dokumentieren. Stellenweise wurden meine Erwartungen an eine so derart überfällige Thematik auch erfüllt. Unter anderem, dass
- die Suche nach mehrsprachigen Psychotherapeut:innen zu wünschen übrig lässt,
- die Versorgungssituation für komplex traumatisierte, männliche und nicht-binäre Menschen und Menschen mit Behinderung noch prekärer ist, als für Menschen, die der üblichen Norm entsprechen
- im Gegensatz zu psychiatrischen Angeboten, keine Physiotherapie bei komplexen Traumafolgestörungen in der ambulanten Regelfinanzierung vorgesehenen ist
- nur begrenzte Therapiekontingente für komplex traumatisierte Patient:innen vorhanden sind
… obwohl man beim Letzteren bereits abwägen muss: Ein Zuviel an Therapie ist gerade auch bei schwer Traumatisierten – konkret den Patient:innen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung – hinderlich, weil es die Gefahr der malignen Regression fördert.
Insgesamt hat mich dieses Kapitel allerdings enttäuscht.
Es ist – wie ich auf der Seite Fehlende Transparenz bereits geschildert habe – völlig legitim, wenn sich auch Missbrauchs-Betroffene einbringen. Um jedoch den Inhalt korrekt deuten und zuordnen zu können, ist es elementar wichtig, hinzuzufügen, wer diese Betroffenen sind. Da reicht es ganz und gar nicht, wenn man die Betroffenen verschleiert, indem man zwar ihre Namen nennt, sie jedoch lediglich als Mitglieder des Betroffenenrats kennzeichnet.
Zwar steht auf Seite 696:
Die normierungskritische Perspektive des Beitrags beruht neben den beruflichen Erfahrungen der Autor:innen auf der ehrenamtlichen Arbeit als Gewalterfahrene für Gewalterfahrene.
Martin Sack | Ulrich Sachsse | Julia Schellong Komplexe Traumafolgestörungen, S. 696
… aber es ist ein Unterschied, ob jemand, der beispielsweise von den Eltern (oder Sekten) misshandelt und/oder missbraucht wurde, davon redet, als Gewaltopfer Victim Blaming (vgl. ebd., S. 697) zu erfahren, oder ob das Betroffene einer Dissoziativen Identitätsstörung äußern, die überzeugt sind, satanisch in einem internationalen Kult missbraucht worden zu sein.
Wir reden hier von einer Straftat, die in all den Jahrzehnten trotz intensiver Bemühungen niemals aufgedeckt und/oder kriminaltechnisch erfasst werden konnte. Wenn man da Zweifel äußert und wenn man daran appelliert, auch an die zu Unrecht angezeigten Personen (Opfer!) zu denken, dann ist das kein Victim Blaming, sondern eine berechtigte Kritik!
Genauso verhält es sich mit dieser Aussage:
„Für das Verhalten, die persönlichen Eigenschaften, die Art der erlebten Gewalt und deren Bewertung, den Umgang mit Täter:innen und die Gewaltfolgen bestehen Stereotype. Von deren (Nicht-)Erfüllung kann die Glaubwürdigkeit Gewalterfahrener, die An- oder Aberkennung von Unterstützungs- oder Schutzbedarfen und die Bewertung der erlebten Gewalt abhängen.“ |
Diese Aussage bekommt einen schalen Beigeschmack, wenn man weiß, dass hinter den Verfassern der Zeilen auch Personen stehen, die einer Verschwörungstheorie – ähnlich wie QAnon – angehören.
Es geht hier nicht darum, dass Stereotype bedient werden, sondern dass wir uns durch die Brisanz der Missbrauchsthemen nicht emotionalisieren lassen dürfen. Natürlich ist es gut und wichtig, Opfern zu glauben. Aber wenn auf der anderen Seite immer mehr Menschen eines Verbrechens angezeigt oder bezichtigt werden, was niemals erwiesen werden konnte und kann, und wenn diese bezichtigten Menschen trotz erwiesener Unschuld ihre gesamte Existenz und Lebensgrundlage verlieren, dann ist das kein Kavaliersdelikt!
Wer legt denn fest, wessen Leben zerstört werden darf? Wer darf denn entscheiden, welche Opfer sich Opfer nennen dürfen? Und wer darf sich auf Grund dessen eine Lobby aufbauen?
Ein weiteres Beispiel:
„Beim grundsätzlichen Normierungsmoment der Diagnostik stellt sich in Verbindungen mit den Normalitätsvorstellungen zu Gewalt und Gewaltopfern auch die Frage, was als traumatisch anerkannt und was als bagatellisiert oder als phantastisch abgetan wird: Rassismus, Feindseligkeit gegenüber trans*-Personen und Behindertenfeindlichkeit von Einzelpersonen oder Strukturen können beispielsweise in psychischer oder physischer Gewalt oder extremer Vernachlässigung gipfeln. Umgekehrt führen schwere Gewalterfahrungen besonders in Verbindung mit dissoziativen Besonderheiten schnell zu Fehldiagnosen und/oder Unglauben.“ |
Rassismus und Behindertenfeindlichkeit gibt es zuhauf, auch in ganz vielen Institutionen.
Wenn wir hier aber darüber sprechen, was Menschen mit einer DIS erleben, die sagen, sie seien satanisch in einem groß angelegten internationalen Kult missbraucht worden…
… das ist eben der Punkt, der das Thematisierte so problematisch macht:
Was hatte man konkret vor Augen, als man diese Zeilen verfasste? Worauf bezieht man sich? Darauf, dass der genannte satanische Missbrauch hinterfragt oder gar als Fantasie abgetan wird? Der Verdacht liegt nahe, denn immerhin beteiligt sich an dem Kapitel mindestens eine Person mit einer Dissoziativen Identitätsstörung, die überzeugt ist, in einem satanischen Kult missbraucht worden zu sein.
Worüber also wird hier kritisch debattiert? Über objektive Missstände oder über subjektive Wirklichkeiten?
Ich selbst leide an einer Dissoziativen Identitätsstörung und ich glaube sagen zu können, dass ich sehr viel Gewalt, sehr viel Missbrauch und sehr viel Vernachlässigung erlebt habe. Was ich noch nie erlebte, ist allerdings, dass man mir nicht geglaubt hätte. Ich bin 55 Jahre alt. Die einzige Institution, die meine Darstellung je in Zweifel zog, war in DDR-Zeiten die Jugendhilfe, die meinen staatsloyalen Vater gerne dabei unterstützt hätte, mich in einen Jugendwerkhof abzuschieben.
Woran also liegt es, dass meine erlebte Gewalt noch nie von Therapeut:innen in Zweifel gezogen wurde? Bediene ich damit etwa Stereotype? Was bedeutet Normalität eigentlich im Zusammenhang mit erlebtem Missbrauch? Inzest durch den Vater? Oder durch eine Institution? Oder durch Onkels, Opas, Brüder, Mütter? Was betrachtet der Betroffenenrat als stereotypisch, als Normalitätsvorstellungen und als Normierungsmomente, wenn wir über Diagnosen, so auch über die erlebte Gewalt und den Missbrauch reden?
Als letztes Beispiel dafür, dass es durchaus wichtig ist, zu wissen, wer hinter den Texten steht, möchte ich das Folgende zitieren:
„Der Beschreibung von Gewalterfahrungen werden traditionell der private Raum und (Selbst-)Hilfestrukturen zugewiesen und auch dort bestehen oftmals Erwartungshaltungen dahingehend, wo und wie Personen sich äußern oder ausschweigen sollen.“ |
Ich – und ich bin da mitnichten die Einzige – erlebe eher das Gegenteil dessen, was hier beschrieben wurde. Es ist unter anderem auf Instagram, einer öffentlichen Plattform, geradezu chic geworden, blutrünstige Praktiken mit abgesäbelten Köpfen, spritzendem Blut, Mord, Kannibalismus und Vergewaltigung detailliert zu beschreiben und der lesenden Opfergemeinde ohne jede Triggerwarnung zu servieren.
Das Kapitel 36 umfasst ohne Literaturangabe 10 Seiten. Ich könnte noch viele weitere Beispiele nennen, die verdeutlichen, wie wichtig es ist, zu wissen, wer was schreibt, möchte es aber hierbei belassen.
Zum Weiterlesen: