Peter Fiedler bringt in seinem Buch »Dissoziative Störungen und Konversion« die Kerneigenschaft der Dissoziativen Identitätsstörung zum Ausdruck. Zum einem beschreibt er den Übergang zur Normalität (Bild 1), denn – was auch ich oftmals ansprach – DIS-Betroffene sind keine Menschen von einem anderen Stern. Aus diesem Krankheitsbild ein faszinierendes Phänomen zu machen stammt aus der Fantasie gewisser Therapeuten, die allgemein gerne mystifizieren. Jeder Mensch kennt unterschiedliche Anteile seiner selbst. Der Unterschied zwischen normal und Störung liegt nur in der Kohärenz bzw. Inkohärenz und natürlich in den damit verbundenen Fähigkeiten oder auch Problemen.
Genauso verhält es sich beim Übergang zur Borderline-Persönlichkeitsstörung. (Bild 2) Hier ist das Ausmaß der Kohärenz bei den Persönlichkeitsanteilen sehr viel geringer als bei gesunden Menschen. Das bedeutet: Die Borderline-Persönlichkeitsstörung und Dissoziative Identitätsstörung liegen sehr nahe beieinander.
Zusätzlich spricht er etwas ganz Wesentliches an: nämlich die Verstärkung der Inkohärenz nach der Namensgebung der einzelnen Anteile. Diese findet meistens erst im Austausch mit anderen Personen – unter anderem in den sozialen Netzwerken – oder auch erst in der laufenden Therapie statt. Und hier geschieht etwas, was ich sehr kritisch betrachte.
Die meisten Traumatherapeuten betrachten die Symptomatik der Dissoziativen Identitätsstörung nicht als Symptom/e, sondern als „Sein“, und damit werden die Anteile in der Therapie nicht integriert, sondern im dissoziierten Zustand einzementiert. Mitunter werden auf diese Weise sogar extra Zustände iatrogen erzeugt.
Dr. Judyth Box sagte bereits in den 80er Jahren:
Dr. Caul gab einen Workshop und er meinte, man müsse alle Persönlichkeiten identifizieren, katalogisieren und herausfinden, was ihre Rollen sind. Ich begann damit und fand heraus, dass man immer mehr Persönlichkeiten findet, wenn man sich intensiv damit beschäftigt. Die meisten von uns haben ziemlich schnell damit aufgehört.«
Netflix-Dokumentation „Monsters Inside: Die 24 Gesichter des Billy Milligan“
Es ist leider ein Fakt, der sich in all den Jahrzehnten durchgängig immer wieder neu bestätigt hat: Je mehr die Therapeuten nach Persönlichkeitsanteilen suchen, desto mehr werden Betroffene diese erzeugen und/oder präsentieren. Die Frage: »Mit wem spreche ich?« sollte m.E. strikt verboten werden. Genauso die Aufforderung, dieser/jener Anteil möge bitte »nach vorne kommen«, damit man mit ihm reden könne.
Leider gibt es diesbezüglich keinerlei Kontrollinstanzen. Ein Medikament wird erst umfassend geprüft und jahrelang getestet, bis es auf den Markt kommt. Zuvor muss es die genauen Vorgaben der zulassenden Behörden auf nationaler und internationaler Ebene erfüllen. Therapeutisch aber kann man wild drauflos jonglieren, wonach – um es salopp zu formulieren – kein Hahn kräht. Es geht ja „nur“ um die Psyche eines Menschen, mit der man anscheinend subjektiv und frei nach Gutdünken herumexperimentieren kann.