Ein Topf oder mehrere Störungen?

Im neuen ICD-11 Klassifikationssystem ist die »Partielle dissoziative Identitätsstörung« (6B65) hinzugekommen.  Mit dieser Diagnose möchte man allem Anschein nach etwas konkretisieren, was überfällig scheint: nämlich die Verbindung zwischen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und einer Dissoziativen Identitätsstörung festlegen.

Jan Gysi definiert die Kriterien der »Partiellen dissoziativen Identitätsstörung« folgendermaßen:

  1. Störung der Identität, charakterisiert durch zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeitszustände (“personality states”), verbunden mit deutlichen Unterbrüchen des Selbsterlebens und der eigenen Wirksamkeit.
  2. Jeder Persönlichkeitszustand beinhaltet sein eigenes Muster von Erleben, Wahrnehmen, Erfassen und Interagieren mit sich selbst, dem eigenen Körper und der Umgebung.
  3. Ein Persönlichkeitszustand ist dominant und funktioniert normalerweise im Alltag, wird aber durch einen oder mehrere nicht-dominante Persönlichkeitszustände beeinträchtigt (dissoziative Intrusionen).
  4. Diese Intrusionen sind verbunden mit Veränderungen von Empfindungen, Wahrnehmung, Affekten, Kognitionen, Erinnerung, motorischer Kontrolle und Verhalten und werden als Beeinträchtigung des Funktionierens des dominanten Persönlichkeitszustands und typischerweise als störend erlebt.
  5. Die nicht-dominierenden Persönlichkeitszustände übernehmen nicht wiederholt die exekutive Kontrolle über das Bewusstsein und das Funktionieren, aber es kann gelegentlich limitierte vorübergehende Episoden geben, in denen ein eigenständiger Persönlichkeitsanteil die exekutive Kontrolle übernimmt, um begrenzte Handlungen zu vollziehen, z.B. als Antwort auf extreme emotionale Zustände oder während Zuständen mit Selbstverletzungen oder dem Wiedererleben von traumatischen Erinnerungen.
  6. Die Symptome können nicht durch eine andere Erkrankung oder durch Substanzen oder Medikamente erklärt werden.

Was die partielle DIS von einer kompletten DIS unterscheidet, sind unter anderem die fehlenden amnestischen Barrieren. Genau diese Amnesie untereinander sorgte aber bisher für die deutlichste Abgrenzung von der Borderline-Persönlichkeitsstörung, wenn bei dieser (BP) die Selbstzustände fragmentiert waren/sind.

Zu den Kriterien 2, 3, 4 und 5 der partiellen dissoziativen Identitätsstörung möchte ich etwas aus dem Buch zitieren, aus dem auch das Bildzitat stammt:

„In Anlehnung an Meyers (1940) unterscheiden Van der Hart et.al. (2008) bei traumatisierten Personen zwei Typen von Persönlichkeitsanteilen: Einen »anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil« (ANP) der die Aufgabe hat, das Alltagsleben und die Fortpflanzung der Spezies sicherzustellen, und »emotionale Persönlichkeitsanteile« (EPs) die dem Überleben bei Bedrohung dienen und Manifestation von Aktionssystemen darstellen, die sowohl die Verteidigung als auch die Bindung an Bindungsfiguren kontrollieren.
Emotionale Persönlichkeitsanteile sind typischerweise mit traumatischen Erfahrung verbunden.
Bezogen auf die Borderline-Störung lassen sich mithilfe dieser Theorie die dramatischen Stimmungs- und Verhaltensänderungen von Borderline-Patienten durch Wechsel zwischen ANP- und EP- Anteilen erklären (Mosquera et. Al. 2009). Je nachdem, in welchem Maße ein ANP oder EP – als Kampf, Flucht, Einfrieren oder totale Unterwerfung – aktiviert ist, werden die Borderline-Patienten unterschiedliche subjektive, verhaltensmäßige und physiologische Reaktionen auf eine wahrgenommene Bedrohung zeigen. 
Alle Reaktion gegenüber bedeutsam anderen – von Idealisierung, Kampf- oder Fluchtreaktionen, Angst- und Vermeidungsreaktionen bis zu Reaktionen der totalen Unterwerfung – beruhen auf Aktionssysteme, die wegen der anhaltenden Bedrohung durch frühe Bezugspersonen nicht ausreichend integriert werden konnten.“
Quelle: Eckhardt-Henn, Spitzer: Dissoziative Bewusstseinsstörungen, 2017, S.409

Zunächst möchte ich einwenden, dass seitens einiger Traumatherapeuten die These und/oder PowerPoint-Präsentationen verbreitet werden, es handle sich erst dann um eine DIS, wenn sich mehrere ANPs »anscheinend normale Persönlichkeitsanteilen« bilden, zu denen dann die jeweils entsprechenden »emotionalen Persönlichkeitsanteile« gehören. Als persönlich Betroffene einer DIS (mit Amnesie) erlaube ich es mir, diese These als Unsinn zu bezeichnen. Fachlich – und das unterstützt meine Bewertung – ist diese These auch durch keine Studie oder wissenschaftliche Forschung evaluiert.

Es kann durchaus unterschiedliche Sub- oder Untersysteme geben, aber selten gibt es in diesen Subsystemen jemanden, der den Alltag scheinbar normal organisiert. Es gibt zwar in diesen Subsystemen – das ist sehr individuell – mitunter sehr dominante Persönlichkeitsanteile (dominant im Sinne von mächtig) aber das bedeutet nicht gleichermaßen, dass diese den Alltag regeln.

Und es gibt, dies sei noch hinzugefügt, Betroffene, die haben nicht einmal einen – also keinen einzigen – Anteil, der es schafft, den Alltag zu regeln. Diese gelten als nicht existenzfähig. Eine dieser Betroffenen ist mir persönlich bekannt, sie war über Jahre hinweg (am Stück) in einer Klinik.

In den erwähnten PowerPoint-Präsentationen spürt man erneut die Stereotypisierung von Menschen mit einer schweren Störung. Das Individuelle hat auch hier keinen Raum und keine Entfaltungsmöglichkeiten.

Doch zurück zum Hauptthema:

Im oberen Zitat aus dem Jahre 2017 – damals gab es das neue IDC-11 noch nicht – findet man exakt das widergespiegelt, was in den Kriterien der neuen Diagnose »partielle dissoziative Identitätsstörung« aufgelistet wird.

Das ist m.E. einer der Gründe, wieso sich seit vielen Jahren Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung in der Diagnose DIS wiederfinden. Denn abgesehen von den Amnesien, die im Übrigen auch bei einer Borderlinestörung auftreten können, unterscheiden sich die Borderline-Störung und die DIS – vor allem bei einem bestimmten Borderline-Typus mit einem fragmentierten Selbst – einzig nur durch das Ausmaß der Inkohärenz zwischen den Persönlichkeitsanteilen. Siehe dazu meine Zeichnung:

Quelle: Dissoziative Identitätsstörung

Zum Abschluss ein passendes Zitat aus dem Buch »Dissoziative Bewusstseinsstörungen«, welches diesen Zusammenhang verdeutlicht:

„Durch die hohe Komorbidität und symptomatische Überlappung ergeben sich bedeutsame Ähnlichkeiten und Überschneidungen zwischen den dissoziativen Störungen und der Borderline-Störung. Gemeinsam ist beiden Störungsbildern in den meisten Fällen eine Vorgeschichte mit körperlicher, sexueller und emotionaler Gewalt oder emotionaler Vernachlässigung vor dem Hintergrund umfassender Bindungs- und bzw. Beziehungstraumatisierungen. Sie finden sich bei dissoziativen Patienten (Dutra et.al. 2009)  ebenso wie bei Patienten mit einer Borderline Störung (Zanarini et al. 2002).
Bei klinischer Betrachtung betreffen die Gemeinsamkeiten zwischen der Borderline-Störung und den dissoziativen Störung vor allem diejenigen dissoziativen Störungen, die in der DSM-5-Klassifikation als »Dissoziative Identitätsstörung« oder als »Other Specified Dissociative Disorder« klassifiziert werden.“
Quelle: Eckhardt-Henn, Spitzer: Dissoziative Bewusstseinsstörungen, 2017, S. 401

Zusatz:

Die bildgebenden Verfahren (Gehirnscans) bei Borderlinepatienten und bei Patienten mit einer DIS sind im Übrigen nahezu identisch – genauso, wie bei Patienten mit einer chronischen und/oder komplexen posttraumatischen Belastungsstörung.

Zweiter Zusatz:

In der Wissenschaft steht die Überlegung im Raum, die Borderline-Persönlichkeitsstörung dem Dissoziations-Spektrum unterzuordnen.

(Diese beiden Themenfelder können an dieser Stelle jedoch nur angerissen werden, dazu folgen weitere Artikel, die ins Detail gehen werden.)

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