Autorin: Marvel Stella
In einem kürzlich veröffentlichen Artikel ging ich auf einen PDF-Auszug der deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) ein, in dem es heißt:
„Die Behauptung, dass die Dissoziative Identitätsstörung durch Suggestion, durch Therapie, durch Medienberichte oder übertriebene Fantasie psychisch erkrankter Menschen ausgelöst werden kann, gilt heute als wissenschaftlich veraltet. Das Fantasie Modell kann jedoch für Menschen zutreffen, die fälschlicherweise glauben, an einer DIS zu leiden („imitierte DIS“). Dies ist in der Regel ein Hinweis auf eine andere psychische Störung.“
Quelle: PDF Broschüre der DeGPT
Die DeGPT bezieht sich auf den Artikel von Reinders und Veltman „Dissociative identity disorder: out of the shadows at last?“, der das Trauma-Modell und das Fantasie-Modell gegenüberstellt und sich somit an der Debatte über die Ätiologie der Störung beteiligt.
Ich zitiere das Wesentliche aus diesem Artikel, damit ich zu der heutigen – etwas anderen – Abhandlung kommen kann:
„Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) wurde erstmals im Jahr 1980 als multiple Persönlichkeitsstörung im DSM inkludiert (DSM III) und ist eine kontroverse psychiatrische Diagnose. Die Kontroverse findet ihre Wurzeln in einer Debatte, welche die Ätiologie der Störung betrifft. Unterstützer der beiden diametral entgegengesetzten Ansichten haben sich seit Dekaden in leidenschaftlichen Debatten engagiert: Das Trauma Model besagt, dass DIS eine schwere Form der posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ist, welche ihren Ursprung in schwer und chronischer (Kindheits-) Traumatisierung hat, wohingegen das Fantasie-Modell postuliert, dass DIS hauptsächlich auf Suggestion und Inszenierung zurückgeht und durch hohe Level an Fantasieneigung und Suggestibilität gefördert wird. |
Es kann sein, dass der Betrachter – ich zähle mich dazu – beim ersten Hinschauen einem Missverständnis unterlag, welches aber weniger vom Empfänger, als vielmehr vom Sender ausging. Der Fehler liegt in folgender Beschreibung:
>> „Das Fantasie-Modell postuliert, dass DIS hauptsächlich auf Suggestion und Inszenierung zurückgeht und durch hohe Level an Fantasieneigung und Suggestibilität gefördert wird.“ (vgl. Reinders, A.A. and D.J. Veltman) <<
Drei wesentliche Dinge fallen mir hierbei auf:
- Der Artikel von Reinders, A.A. and D.J. Veltman differenziert nicht – auch nicht im weiteren Verlauf: Er stellt die Traumathese einfach nur der Fantasiethese durch Suggestibilität und Inszenierung gegenüber, ohne die Unterschiede zwischen Suggestibilität und Inszenierung zu erwähnen, so auch die Mischversionen zu beachten.
- Die DeGPT übernimmt das – außer, dass sie anstelle der Inszenierung von Imitation spricht.
- Zusätzlich suggeriert der Reinders/Veltmans Artikel, dass eine hohe Fantasieneigung eher auf eine inszenierte und/oder suggerierte DIS schließen lässt. Ansonsten wird nirgendwo erwähnt – auch nicht in der PDF Broschüre der DeGPT – dass DIS-Betroffene, wie sie vom Trauma-Modell beschrieben werden, auch ein sehr hohes Maß an Fantasiefähigkeit und Beeinflussbarkeit aufbringen.
Es gibt klare Unterschiede zwischen Suggestibilität und Inszenierung. In dem einem Fall wird einem Patienten etwas suggeriert, was er – wenn er sehr suggestibel ist – in einem gesundheitlich gefährlichen Ausmaß verinnerlichen kann. Im Falle einer Inszenierung aber sprechen wir von Artefakten und von Simulation. Wieso wirf man beides in einem Topf? Damit wird den Betroffene, denen eine DIS suggeriert wird, in einem sehr großen Ausmaß Schaden zugefügt!
Vielleicht sollte man auch nicht immer wieder neue Begrifflichkeiten wählen, wenn man aufklärt. Bisher sprach man von iatrogener Dissoziativer Identitätsstörung (vgl. Fiedler2013; Putman 2003), wenn man sich auf die suggestiv entstandene DIS bezog.
Plötzlich von einem Fantasiemodell zu sprechen, ist eine grobe Irreführung.
Über ein hohes Maß an Fantasie – man nennt es auch: Fantasy Prone Personality ( FPP ) – verfügen Betroffene beider Modelle. DIS-Trauma-Betroffene sogar noch mehr, als die, die hier dem Fantasie-Modell zugeschrieben werden.
Und ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Die, bei denen man eine DIS iatrogen – also suggestiv – erzeugt, hatten fast ausnahmslos (genauso wie DIS-Betroffene) eine traumatische Kindheit. Vor allem zähle ich dazu die Betroffenen einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, die inzwischen – genauso wie DIS – zu den Traumafolgestörungen gezählt wird.
DAS sind die Menschen, die in der Therapie gefährdet sind und bei denen Therapeuten mit Leichtigkeit eine DIS iatrogen erzeugen können. Mit Imitation im Sinne einer Inszenierung/ Simulation hat das nicht das geringste zu tun.
Vorübergehender Themenwechsel
Ich habe überlegt, warum ich mich so in die Irre leiten ließ und auf die verlinkten – suggestiven -Ursprünge missverständlich reagierte. Soeben beim Rekonstruieren erinnerte ich mich an den Moment auf Twitter:
„Und jetzt alle: #DIS hat nichts mit einer imaginären Fantasiewelt zu tun! Dissoziation manifestiert sich neurobiologisch, eine zusammenhängende Persönlichkeit konnte sich durch Gewalt/Vernachlässigung in der frühen Kindheit nicht entwickeln. Wir sitzen nicht da und denken uns als Kinder in eine lustige Einhornwelt. Anteile repräsentieren die Zustände, die wir damals brauchten, um mit den Umständen zurecht zu kommen. Es ist ein Überlebensmechanismus, keine Fantasie. Gut zum Verständnis; die Forschungen von Yolanda Schlumpf aus CH.“
Diese Person A hat etwas von sich selbst zitiert, als sie etwas von Person C kommentierte, was Person B von Person D verlinkte. So weit klar? Wahrscheinlich gibt es noch Probleme, A,B,C,D zuzuordnen? Keine Sorge, auch Nora musste erst einmal kapitulieren. 😉
Was ich oben einfügte, war nämlich nicht der Beginn der Twitter-Konversation. Diese beginnt hier:
Person D verlinkt werbend unsere Webseite.
Person B geht positiv darauf ein.
Person A zitiert aus unserer Webseite etwas, was ich – Person C – geschrieben habe und bezeichnet das als Quark.
Sie darf gerne meine Zeilen als Quark bezeichnen, das nächste Mal aber bitte Quark-mit-Quelle!
Erklärend möchte ich meinem Satz, den sie zitierte, hinzufügen, dass jede/r DIS-Betroffene – ausnahmslos jede/r – eine innere Welt hat, die imaginär ist. Es gibt nämlich ansonsten – unter anderem – keine Möglichkeit, mit den anderen inneren „Personen“ zu interagieren. Ich habe das nicht deswegen mit Kindern verglichen, weil ich die DIS Betroffenen damit auf die Stufe eines Kindes (herab-)setzen wollte, sondern weil auch Kinder genau diese Fähigkeit haben. Kinder kommen nicht als Einheit zur Welt. Sie dissoziieren ähnlich wie es Betroffene einer Dissoziativen Identitätsstörung tun. Das ist bei Kleinkindern vollkommen normal und gesund. Entsprechend haben sie auch ihre imaginierten Welten und Freunde. Im Laufe der Kindheit geht diese Fähigkeit verloren, es sei denn, sie erleben viel Gewalt. In diesem Fall wird die Dissoziation zu einer Störung und in Folge können sie keine kohärente Identität entwickeln – bleiben also gespalten. Siehe dazu Huber, die es auch irgendwann mal erkannte, dass die Persönlichkeit nicht gespalten wird, sondern gar nicht erst kohärent zusammen wachsen kann (vgl. Spektrum).
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Das ist also der Ursprung gewesen.
Im Dezember fand Person A dann die Broschüre von der DeGPT, in der sie ihre Thesen bestätigt sah.
Person A schreibt:
„Unter dem Link finden sich evidenzbasierte Antworten der deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) zur #DIS. Sehr aktuell und lesenswert. Klärt auch auf, dass Fantasie-Modell überholt ist und wenn es gezeigt wird, es auf imitierte DIS hinweist.“
… und hier schließt sich nun der Kreis.
Zurück zum Thema:
Werte DeGPT (deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie),
was Sie in ihrer Broschüre publizierten, verursacht unfassbare Irritationen. Wie ich hier aufgezeigt habe, geschieht dies vor allem bei DIS-Betroffenen. Mich würde an der Stelle interessieren, wer aus Ihrem Verein diese Broschüre ins Leben gerufen hat. Ursula Gast, die zu den Gründungsmitgliedern der DeGPT gehört, kann es nicht sein, denn sie schrieb einst über die DIS:
„Die individuelle Phantasiefähigkeit und Vorstellungskraft des Kindes, insbesondere die Schaffung von Projektionsfiguren, geben den verschiedenen Persönlichkeits- bzw. Selbst-Zuständen schließlich ihr individuelles Gepräge (ebd.). Unter enormem psychischem Druck bei gleichzeitig hoher Kreativität bilden sie verschiedene Selbstbilder heraus, häufig als verzerrtes Abbild der erlebten Beziehungserfahrungen, überformt und ausgestaltet mit Phantasie und Vorstellungskraft. Sie schaffen Projektionsfiguren, z.B. in Form von bedrohlichen Ungeheuern, imaginären Spielkameraden, hilfreichen Beschützern oder Märchenfiguren. Sie identifizieren sich mit externen Heldenfiguren wie Lady Di oder bezaubernde Jeanny, Jim Knopf, Batman oder einem wilden Löwen. Traumatisierende Familienumstände, in denen es nicht gelingt, die Phantasie des Kindes immer wieder behutsam mit der Realität zu konfrontieren, fördern diese dissoziativen Bewältigungsstrategien (siehe auch Putnam, 2003).“
Quelle: Ursula Gast: Dissoziation zwischen Störung und Heilung, S. 6
Genauso schreibt Michaela Huber in ihrem Buch:
„Multiple Persönlichkeiten leben mit einer reichhaltigen inneren Imagination(sfähigkeit): Die »Personen« in ihnen sind ja im Grunde reine Fantasiegebilde bzw. in bestimmten Zeiten »eingefrorene« Erinnerungen, auch wenn sie im Laufe der Jahre eine eindeutige Gestalt und ein mehr oder weniger starkes Eigenleben entwickelt haben.“
Quelle: Michaela Huber: Multiple Persönlichkeiten: Seelische Zersplitterung nach Gewalt, 2011, S. 206
Ich sehe beide Autoren – Gast und Huber – sehr kritisch, aber diese Aussagen stimmen erwiesenermaßen zu 100%.
Genauso bringen auch Frank Putnam (vgl. 2003), auf den sich Ursula Gast im obigen Zitat sogar bezogen hat, und Peter Fiedler (vgl. 2008/2013) diese außergewöhnliche Suggestibilität und Hypnotisierbarkeit bei DIS-Betroffenen UND bei einer iatrogen erzeugten DIS zur Sprache.
Das heißt, selbst bei einer Patientin, die ganz klar eine Dissoziative Identitätsstörung hat, besteht die Gefahr, durch Suggestion weitere Persönlichkeitsanteile zu erzeugen. Diese sind abschließend genauso echt und wahr, wie die bisher vorhandenen Anteile. Fiedler schreibt auch genau aus dem Grund, dass man die iatrogen erzeugte DIS genauso behandeln muss, wie eine „übliche“ DIS:
Ich glaube zu verstehen, dass hier ein Echtheits-Wettbewerb zu laufen scheint? Geht es darum, herauszuarbeiten, welche Art der Dissoziativen Identitätsstörung am Wahrhaftigsten ist? Wenn ja:
Unter den Borderline-Betroffenen, deren Kennzeichen auch eine inkohärente Identität ist, gibt es zahlreiche Personen, die sich komplett zerrissen fühlen, sich vor allem in Krisen Teil-Identitäten (unbewusst) erschaffen und/oder von Anteil zu Anteil hin und herspringen.
Da auch Borderline-Patienten hochgradig suggestibel sind, genauso wie die Betroffenen mit einer DIS, sind diese Patienten in einer Traumatherapie mit suggestivem Einfluss am meisten gefährdet. Die Betroffenen fangen in dem Fall nicht bei Null an – der suggestive Einfluss in der Therapie ist nur noch das Pünktchen auf dem i, das zur kompletten Spaltung führt.
Bei der Betroffenen, deren Twitter-Verlauf ich weiter oben eingefügt habe, bekam ich den Eindruck, sie möchte gerne ernst genommen werden. Das kann ich gut verstehen. Aber wir – ich beziehe mich da mit ein – werden nicht ernst genommen, wenn wir das Krankheitsbild verzerren. Die Fantasie-Begabung macht aus uns keine Menschen, die irgendetwas spielen. Nur weil wir Fantasie haben, suggestibel und hypnotisierbar sind, wird unser Krankheitsbild nicht harmloser!
Yolanda Schlumpf über neurowissenschaftlichen Befunde
Weiter oben im ersten Twitter-Screen habe ich Person A zitiert, die u.a. schrieb:
„Dissoziation manifestiert sich neurobiologisch, eine zusammenhängende Persönlichkeit konnte sich durch Gewalt/Vernachlässigung in der frühen Kindheit nicht entwickeln. Wir sitzen nicht da und denken uns als Kinder in eine lustige Einhornwelt. Anteile repräsentieren die Zustände, die wir damals brauchten, um mit den Umständen zurecht zu kommen. Es ist ein Überlebensmechanismus, keine Fantasie. Gut zum Verständnis; die Forschungen von Yolanda Schlumpf aus CH.“
Yolanda Schlumpf konnte aufzeigen, dass man bei DIS-Betroffenen Veränderungen im Gehirn feststellen kann. Das ist vollkommen richtig. Allerdings hätte sie hinzufügen müssen, dass sich diese Veränderungen ganz genauso bei Betroffenen mit Borderline und kPTBS finden lassen, das sind nämlich Veränderungen, die auf Grund lang anhaltender Traumata entstanden sind.
Und damit möchte ich meinen Artikel auch beenden:
Es gibt bis heute im Gehirn eines Menschen keinen einzigen klaren Beweis, dass man eine Dissoziative Identitätsstörung hat. Wäre das so – das wäre schön! – dann wäre das längst in die Diagnostik eingebunden worden und viele Probleme, die wir hier wälzen, wären gelöst!
Zum, Weiterlesen:
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