Heute möchte ich auf ein Thema eingehen, auf das ich mich gefreut habe. Der Grund meiner Freude war bzw. ist, dass ich das Thema für sehr interessant halte. Offenbar betrifft dies nicht nur mich, sondern auch Psychologen und Neurowissenschaftler.
In meinem Artikel „Berechtigte Zweifel an der DIS“ schrieb ich:
Zusätzlich zur gezielten Manipulation kann es auch zu einer unbewussten Verstärkung der Symptome kommen – häufig aufgrund jahrelanger Auseinandersetzung mit der Diagnose. Dasselbe beobachten wir bei den meisten Betroffenen, die sich online präsentieren. Es ist tatsächlich bewiesen, dass Betroffene, die sich intensiv mit DIS auseinandersetzen, sich auf eine Rolle festlegen und so konditionieren können, dass sie in Tests „glaubhaft“ unterschiedliche Identitäten zeigen.
In einem Kommentar unter dem Artikel erbat man eine Quelle für den Beweis, und dieser Bitte möchte ich hier nun gerne nachkommen. Ich greife in diesem Beitrag konkret auf das Tulpa-Phänomen zurück, denn es ist ein gutes Beispiel dafür, wie durch mentale Praktiken eigenständige Persönlichkeiten oder Entitäten im eigenen Bewusstsein erschaffen werden können.
Was ist eine Tulpa?
Zunächst möchte ich erklären, was eine Tulpa ist, da die meisten sich darunter nichts vorstellen können. Vor etwa zwei Jahren haben Nora und ich dieses Phänomen entdeckt. Wir haben uns intensiv damit beschäftigt, da wir viele Parallelen zu dem erkennen konnten, was in der DIS-Subkultur zu beobachten ist.
Das Konzept der Tulpas stammt ursprünglich aus dem tibetischen Buddhismus, wo es sich auf „Gedankengeschöpfe“ oder Manifestationen des Geistes bezieht. In der westlichen Welt tauchte der Begriff erstmals durch die französische Forscherin Alexandra David-Néel auf, die in den 1920er Jahren Tibet bereiste. In ihrem Buch „Magic and Mystery in Tibet“ (1929) beschreibt sie, wie tibetische Mönche in der Lage waren, durch Meditation und Visualisierung Tulpas zu erschaffen – also Wesen, die zunächst als mentale Konstrukte entstehen, sich aber für den Erschaffer zunehmend real anfühlen.
David-Néel berichtete sogar, dass sie selbst einen kleinen, freundlichen Mönch als Tulpa erschaffen habe. Mit der Zeit wurde die Tulpa jedoch zunehmend eigenständiger und zeigte unerwartetes Verhalten. Sie schrieb, dass sie die Tulpa schließlich „zurückziehen“ musste, was sich als schwierig erwies. Diese Darstellung machte das Konzept für westliche Esoteriker und Okkultisten interessant, die es als eine Form von Gedankenmagie oder Manifestation sahen.
In den folgenden Jahrzehnten tauchte das Konzept der Tulpas immer wieder in okkulten Kreisen, der New-Age-Bewegung und parapsychologischen Studien auf, aber erst mit dem Internetzeitalter bekam es eine völlig neue Dynamik.

Das Tulpa-Phänomen im Westen
In den frühen 2000er Jahren verbreitete sich das Konzept durch Internetforen, insbesondere auf 4chan, Reddit (r/Tulpas) und Tulpa-spezifischen Webseiten. Die moderne „Tulpamancer“-Community (Menschen, die Tulpas bewusst erschaffen) sieht die Praxis nicht mehr als spirituelle Magie, sondern als eine Mischung aus Autosuggestion, Meditation und psychologischer Konditionierung.
Psychologische Faszination & Eskapismus
Viele Menschen fühlen sich von der Vorstellung angezogen, eine „eigene Stimme“ oder einen treuen Begleiter im Kopf zu haben. Besonders für einsame oder sozial isolierte Menschen kann eine Tulpa eine Form von Gesellschaft sein. Manche berichten, dass ihre Tulpa ihnen in schwierigen Zeiten als eine Art innerer Coach oder Freund hilft.
Das Phänomen wurde auch von Psychologen und Neurowissenschaftlern aufgegriffen, die interessiert daran sind, wie das Gehirn „unabhängige“ Identitäten innerhalb des eigenen Bewusstseins generieren kann. Die Tulpa-Community selbst betrachtet ihre Praxis oft als eine Mischung aus Neurowissenschaft und spirituellem Experiment.
Psychologische Prädispositionen
Es gibt einige psychologische Faktoren, die Menschen anfälliger dafür machen, sich mit dem Konzept der Tulpas auseinanderzusetzen oder es aktiv zu praktizieren:
- Menschen, die besonders intensiv visualisieren oder sich stark in Fantasiewelten vertiefen können, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine „eigenständige“ innere Stimme zu erschaffen.
- Dissoziative Tendenzen (z. B. Tagträumerei, Depersonalisation) können das Gefühl verstärken, dass die Tulpa tatsächlich autonom ist.
- Viele Tulpamancer berichten, dass sie in Phasen von Einsamkeit oder Depression begannen, eine Tulpa zu erschaffen.
- Tulpas werden oft als emotionale Stütze oder sogar als eine Art „Therapie ohne Therapeuten“ gesehen.
- Menschen, die leicht hypnotisierbar sind oder besonders stark auf Placebo-Effekte reagieren, scheinen ebenfalls empfänglicher für das Konzept der Tulpas zu sein.
- Ihre Fähigkeit, sich auf eine mentale Realität einzulassen, erleichtert es ihnen, die Tulpa als real wahrzunehmen.
All die genannten Faktoren treffen auch auf die meisten derer zu, bei denen eine Dissoziative Identitätsstörung festgestellt wird.

In der wissenschaftlichen Literatur gibt es Studien, die sich mit diesem Phänomen auseinandersetzen. Eine bemerkenswerte Arbeit ist die von Samuel Veissière mit dem Titel „Varieties of Tulpa Experiences: The Hypnotic Nature of Human Sociality, Personality, and Interphenomenality“. In dieser Studie untersuchte Veissière, wie durch meditative Praktiken und fokussierte Vorstellungskraft sogenannte Tulpas entstehen können, die von ihren Schöpfern als eigenständige, fühlende Wesen wahrgenommen werden. Dieses Phänomen zeigt, dass intensive mentale Beschäftigung und spezifische Techniken zur bewussten Erschaffung von Persönlichkeitsanteilen führen können.
Ein weiteres Beispiel für die bewusste Erschaffung von Persönlichkeitsanteilen findet sich in der Tulpamancer-Subkultur. Dabei handelt es sich um eine Internet-Community, in der die Mitglieder durch intensive Vorstellungskraft und Meditation eigenständige Wesen in ihrem Geist erschaffen. Diese Praxis verdeutlicht, wie durch gezielte mentale Übungen neue Identitäten oder Persönlichkeitsanteile entstehen können.
Auch gibt es Studien zur kognitiven Suggestibilität, die zeigen, dass Menschen durch bestimmte Reize und Überzeugungssysteme falsche Erinnerungen oder alternative Identitäten entwickeln können. Insbesondere Experimente mit dem False Memory Syndrome (Loftus, 1997) belegen, dass sich Menschen stark mit fiktiven Erlebnissen identifizieren können, wenn sie wiederholt damit konfrontiert werden. Quelle
Wichtig: Mir ist bewusst, dass sich DIS-Betroffene getriggert fühlen, kaum dass der Begriff „False Memory“ auftaucht. Aus diesem Grund weise ich darauf hin, dass ich nicht von einem Verein, sondern von dem besagten False-Memory-Syndrom rede. Dass dieses Syndrom existiert, ist in der Wissenschaft zweifelsfrei bewiesen. |
Es gibt also mehrere wissenschaftliche Ansätze, die zeigen, dass:
- Bewusst erschaffene mentale Konstrukte (z.B. Tulpas) real wirken können.
- Falsche Erinnerungen & Rollenspiel tiefgehende Veränderungen in Identität und Verhalten bewirken können.
- Autosuggestion & soziale Dynamiken die Wahrnehmung der eigenen Identität verändern können.

Was hat das alles mit der Dissoziativen Identitätsstörung und RG-MC zu tun?
(persönliche Einordnung)
Dissoziative Identitätsstörung
Ich habe keinen Zweifel an der Existenz der dissoziativen Identitätsstörung. Diese Störung existiert in ihren wesentlichen Aspekten nicht erst seit den 80er Jahren, als zahlreiche Bestseller auf den Markt kamen. Bedauerlich finde ich, dass diese schwere Störung niemals die Chance hatte, in der modernen Medizin oder Psychologie objektiv und neutral untersucht zu werden. Sie wurde von Beginn an in einen verschwörungstheoretischen Rahmen eingeordnet und dadurch nach Belieben geformt.
Nicht nur, weil es mich persönlich betrifft, versuche mich daran zu beteiligen, das Krankheitsbild der „Dissoziativen Identitätsstörung“ aus dem Sumpf der Verschwörungstheorien zu befreien. Es handelt sich hierbei um eine ausgeprägte Identitätsstörung, deren Ursache vor allem physische und/oder psychische Traumata sind. Die dissoziative Erkrankung geht meist mit gravierenden Ängsten, Panikstörungen, Zwängen, Depressionen, Suchterkrankungen und zahlreichen weiteren Symptomen und Symptomkomplexen einher.
Borderline-Persönlichkeitsstörung
Doch – und nun zum Kern der Sache – verhält es sich ganz ähnlich u.a. bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Die betroffenen Personen sind ständig auf der Suche nach ihrer eigenen Mitte. Auf diesem sehr beschwerlichen Weg brauchen sie dringend professionelle und kompetente Unterstützungsangebote in der Traumatherapie. Diese ist jedoch mit dem Narrativ RG-MC buchstäblich durchzogen.
Die größte Schwachstelle von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) liegt in ihrer Identitätsinstabilität und ihrem intensiven Bedürfnis nach Sicherheit und Bestätigung. Genau diese Faktoren machen sie extrem anfällig für Manipulation – insbesondere durch sogenannte Traumatherapeuten, die ihnen eine neue, scheinbar kohärente Identität in Form einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) oder eines Mind-Control-Opfers „anbieten“.
Viele Menschen mit BPS leiden unter chronischer Identitätsverwirrung („Wer bin ich wirklich?“). Die Diagnose DIS kann ihnen das Gefühl geben, endlich eine klare, strukturierte Erklärung für ihr psychisches Leiden zu haben. Statt diffuser, unerklärlicher emotionaler Schwankungen gibt es nun eine „logische“ Ursache: verschiedene Persönlichkeitsanteile. → „Ich wusste schon immer, dass etwas nicht stimmt – jetzt macht alles Sinn!“
Hinzu kommt: Menschen mit BPS haben oft große Schwierigkeiten, ihre Impulsivität, destruktiven Verhaltensweisen oder emotionalen Achterbahnfahrten zu akzeptieren. Eine DIS-Diagnose kann die eigene Verantwortung verschieben: → „Das war nicht ich, das war ein anderer Anteil!“ Dadurch können Schamgefühle und Selbstverachtung reduziert werden – was anfangs entlastend sein kann, langfristig aber das eigene Wachstum behindert.
Paradoxerweise kann die Diagnose DIS für Menschen mit Identitätsinstabilität vor allem in der Anfangszeit zu einer Art stabilisierender Struktur werden. Die Idee „Ich bin nicht chaotisch, sondern habe verschiedene, klar unterscheidbare Anteile“ schafft Ordnung im inneren Chaos. Viele Betroffene beginnen, ihren „Anteilen“ Namen, Eigenschaften und klare Rollen zu geben, was eine neue Form von Identitätsgefühl erzeugt. → „Ich habe nicht einfach wechselnde Gefühle – ich habe verschiedene Innens, die für unterschiedliche Dinge zuständig sind.“
Problematische Folgen sind unter anderem:
- Verstärkung der Spaltung statt Integration
- Therapeutische Sackgasse
- Selbsterfüllende Prophezeiung & False-Memory-Effekte
- Opferrolle statt Eigenverantwortung
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Wieso ist es mir wichtig, das Phänomen der Tulpa aufzuzeigen?
In der DIS-Subkultur betonen viele Betroffene und Unterstützer, dass DIS nicht durch Suggestion oder Autosuggestion erzeugt werden kann. Sie argumentieren, dass DIS eine ernsthafte psychische Störung ist, die auf realen traumatischen Erfahrungen basiert und nicht das Ergebnis äußerer Beeinflussung ist. Das mag auf einige zutreffen, doch ich persönlich denke, beim überwiegenden Teil der Betroffenen ist die DIS iatrogen entstanden. Siehe dazu u.a. Spanos, NP (1986). Multiple Persönlichkeitsstörung: Eine empirische Demonstration der Kraft der Suggestion. Journal of Abnormal Psychology, 95(2), 158–164.
Es freut mich sehr, dass der Wikipedia-Artikel zur „Dissoziativen Identitätsstörung“ sich mittlerweile positiv entwickelt, auch wenn es noch einige Holpersteine zu geben scheint. Im Juni 2024 haben Vertreter von RG-MC der wissenschaftlichen These widersprochen, dass eine DIS iatrogen erzeugt werden könne. Seit September 2024 gibt der Wikipedia-Artikel nun zu meiner Erleichterung korrekte Auskunft.
Das Tulpa-Phänomen verdeutlicht die tatsächliche Gefahr der (Auto-)Suggestion noch deutlicher als der Fall von Billy Milligan, dessen Geschichte zu intensiven Diskussionen über die Authentizität von DIS und den Einfluss von Suggestion auf sie führte. In einem weiteren Artikel werde ich demnächst die verschiedenen Suggestionsebenen (extern/intern) noch detailliert beleuchten.
Es ist extrem wichtig, die wissenschaftliche Debatte anzuregen, um zu einem psychologisch fundierten Ergebnis zu gelangen, das dazu beiträgt, die Gefährdung aller Personen mit inkohärenter Identität abzuwenden und einer destruktiven Spaltung sowie deren Erscheinungsformen entgegenzuwirken.

Zum Weiterlesen:
- Gefährliche Vorbilder (intern)