Handschrift, Regression & das Switchen

Ein weiteres Mal möchte ich Kommentar-Auszüge in den Blick nehmen und sie an dieser Stelle widerlegen. Ich basiere meine Argumentation auf häufig gesehenen Äußerungen und möchte meinen Standpunkt so detailliert wie möglich erläutern.

Faktenbasierte Widerlegung:

Zunächst einmal ist es korrekt, dass unterschiedliche Handschriften kein offizielles Diagnosekriterium für die DIS sind – weder im DSM-5 noch im ICD-11. Dennoch wurde diese Vorstellung über Jahrzehnte hinweg von bestimmten Traumatherapeut:innen immer wieder als „Indiz“ für die Existenz multipler Persönlichkeiten präsentiert. Besonders in den Büchern von Michaela Huber und anderen Verfechtern der Theorie der rituellen Gewalt-Mind Control wurde die variierende Handschrift als eines von vielen vermeintlichen „Beweisen“ für multiple Persönlichkeiten dargestellt.

Viele psychische Störungen, insbesondere die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), gehen mit einer instabilen Selbstwahrnehmung und Identitätsstörungen einher (Zanarini et al., 2003). Eine instabile Identität kann sich auch in wechselnden Schreibstilen ausdrücken – ohne dass dabei verschiedene „Personen“ mit getrennten Gedächtnisinhalten existieren.

Handschrift ist außerdem keine statische Eigenschaft – sie verändert sich je nach Schreibsituation, emotionalem Zustand, motorischer Kontrolle und sogar je nach verwendetem Stift oder Schreibmedium (Schomaker, 2007). Viele Menschen zeigen spontane Variationen in ihrer Handschrift, insbesondere unter emotionalem Stress.

Menschen, die bereits eine DIS-Diagnose erhalten haben oder sich in Umfeldern bewegen, in denen die Diagnose als Erklärung für ihre Probleme angeboten wird, neigen dazu, bestimmte Symptome zu übernehmen oder zu verstärken (Merckelbach et al., 2002).

Das Konzept der „multiplen Handschriften“ wurde durch populäre Bücher und Medienberichte regelrecht in das Narrativ der DIS eingebaut. Das bedeutet, dass Betroffene (bewusst oder unbewusst) damit beginnen können, variierende Handschriften als „Beweis“ für ihre Diagnose zu interpretieren – auch wenn dies keinerlei wissenschaftliche Basis hat.

Falsche Schlussfolgerung aus alten Tagebüchern

Nur weil eine Person in der Jugend bereits wechselnde Handschriften hatte, bedeutet das nicht, dass damals bereits eine „multiple Identität“ existierte.

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Da das Konzept der variierenden Handschrift durch bestimmte Bücher und Therapeuten populär wurde, wurde es auch von Menschen übernommen, die entweder bewusst oder unbewusst eine multiple Identität ausleben wollten. Gerade in YouTube-Sendungen oder sozialen Medien sind Handschriftenvergleiche eine beliebte Art, die eigene „Vielfalt“ zu demonstrieren – doch das sagt absolut nichts über das Vorliegen einer psychischen Störung aus.

Faktenbasierte Widerlegung:

Zunächst einmal hat niemand behauptet, dass ein Switch zu einer kindlichen Identität gleichbedeutend mit einer Regression ist. Dennoch ist es falsch, die Begriffe vollständig voneinander zu trennen, denn die kindliche Identität innerhalb einer DIS ist per Definition ein regressiver Zustand.

Regression ist ein von Freud geprägter Begriff, der sich auf das psychodynamische Konzept bezieht, dass eine Person unter Stress oder emotionaler Belastung in frühere Entwicklungsstadien zurückfällt – sowohl emotional als auch verhaltensbezogen. Dies ist ein psychischer Abwehrmechanismus, der in verschiedenen Störungsbildern auftreten kann.

➡ Regression bedeutet nicht, dass tatsächlich eine frühere Version der Person existiert, sondern dass aktuelle Bewältigungsmechanismen auf frühkindliche Verhaltensmuster zurückgreifen.

Viele Betroffene – insbesondere aus der Rituelle-Gewalt-Mind-Control-Szene (RG-MC) – streiten vehement ab, dass ihre „kindlichen Anteile“ etwas mit Regression zu tun haben. Doch womit dann? Es gibt keinen neurologischen oder psychologischen Mechanismus, durch den ein „inneres Kind“ oder eine tatsächliche Parallelstruktur eines kindlichen Selbst existieren könnte. Was als „kindlicher Anteil“ beschrieben wird, ist eine extreme Form der Regression, die sich im Fall der DIS scheinbar stabilisiert hat. Ein Erwachsener, der „in ein inneres Kind switcht“, hat keine parallele kindliche Existenz, sondern ruft automatisierte, frühere emotionale und kognitive Zustände ab – genau wie es bei einer Regression passiert.

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Menschen, die sich seit Jahren mit der DIS in der VT-Szene beschäftigen und dabei den Eindruck vermitteln, über tiefgehendes Wissen zu verfügen, sollten wissen:

  • Es gibt keine Kinder, die „im Inneren wohnen“.
  • Es existiert keine parallele Realität, in der der Erwachsene und das Kind gleichzeitig existieren.
  • Betroffene einer DIS sind keine mystischen Wesen mit übernatürlichen psychischen Strukturen.

➡ Diese Vorstellung wurde durch esoterische und verschwörungstheoretische Einflüsse über Jahre hinweg aufgebaut, hat jedoch keinerlei wissenschaftliche Grundlage.

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Ein häufiger Punkt in der Abgrenzung zwischen der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und der DIS ist, dass sich die Regression bei einer BPS oft impulsiv, emotional und unkontrolliert zeigt, während sie bei einer DIS strukturierter erscheint. Doch das bedeutet nicht, dass es sich um zwei grundlegend unterschiedliche Prozesse handelt:

  • Bei der BPS tritt Regression oft situationsabhängig und reaktiv auf, meist in Verbindung mit intensiven Gefühlen der Hilflosigkeit oder Verlassenheitsangst.
  • Bei der DIS scheint die Regression statischer, weil sie über die Jahre hinweg in eine rigide Identitätsstruktur eingebaut wurde – durch therapeutische Suggestion, Selbstkonditionierung oder soziale Verstärkung.

Der Unterschied liegt also nicht in der Existenz oder Nichtexistenz der Regression, sondern in ihrer Stabilität und Ausprägung.

➡ Wer behauptet, dass Regression und kindliche Anteile in der DIS völlig unterschiedliche Dinge seien, ignoriert die Grundlagen der psychodynamischen und kognitiven Psychologie.

Faktenbasierte Widerlegung:

Die Frage ist von Grund auf falsch formuliert, weil sie von einer falschen Grundannahme ausgeht: Niemand „spielt“ Identitäten über Jahre hinweg einfach vor – sie werden gelebt.

Es gibt zahlreiche psychologische Mechanismen, die dazu führen können, dass sich eine Person mit einer bestimmten Rolle oder Identität so sehr identifiziert, dass sie selbst davon überzeugt ist, dass sie echt ist (Merckelbach et al., 2002). Besonders bei Menschen mit BPS oder ähnlichen Identitätsstörungen kann es vorkommen, dass sie sich immer stärker in eine DIS-Diagnose hineinsteigern oder diese durch therapeutische Suggestion übernehmen (Lilienfeld et al., 1999). Dabei geht es nicht um bewusstes Lügen, sondern um eine Form der selbstverstärkenden kognitiven Konstruktion.

Wenn jemand über längere Zeit in einem Umfeld lebt, das bestimmte psychische Muster verstärkt (z. B. in DIS-Foren, durch Therapeuten oder Medien), kann sich die betroffene Person so stark mit der Idee identifizieren, dass sie tatsächlich dissoziative Symptome entwickelt (Merskey, 1992). Das Gehirn ist plastisch. Wenn ein bestimmtes Muster (z. B. das „Switchen“ zwischen Identitäten) über Jahre hinweg verstärkt und ritualisiert wird, wird es für die Person zur Realität.

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Viele DIS-Diagnosen basieren auf Berichten, die eine Mischung aus echten Erfahrungen, suggestiven Verzerrungen und internalisierten Erzählungen enthalten. Dies macht es für Therapeuten extrem schwer, zwischen einer induzierten DIS und einer „echten“ Störung zu unterscheiden.

Ein interessanter Effekt ist, dass viele dieser „multiplen Identitäten“ spurlos verschwinden, wenn der Kontext, der sie verstärkt hat, wegfällt – z. B. nach dem Ende einer Therapie oder dem Austritt aus einer stark DIS-geprägten Community. Es gibt zahlreiche Berichte von ehemaligen „Multiplen“, die nach dem Ende einer Klinikzeit oder nach dem Ausstieg aus der DIS-Szene festgestellt haben, dass ihre Anteile einfach „verschwunden“ sind (u.a. Jenny Doe).

Faktenbasierte Widerlegung:

Zunächst bezieht sich dieser Kommentar auf meine Aussage:
„Wenn ein bewusstes und willentliches Switchen möglich ist, dann ist die Integration bereits derart fortgeschritten, dass eine Dissoziative Identitätsstörung nicht mehr vorliegt – wenn sie denn je vorgelegen hat!“

Um diesen Punkt korrekt einzuordnen, muss man sich ansehen, auf welchen Ursprungsannahmen diese Behauptung basiert. Nämlich die fMRT-Untersuchung von Dr. Schlumpf

In der Studie von Dr. Schlumpf wurde behauptet, dass ein als „ANP“ (anscheinend normales Persönlichkeitsfragment) bezeichneter Anteil während einer Untersuchung bewusst zu einem 6-jährigen kindlichen Anteil geswitcht sei. Anschließend wurde diesem kindlichen Anteil ein autobiografisches Trauma-Skript vorgelesen, das von der Betroffenen selbst verfasst wurde.

Hier gibt es mehrere schwerwiegende logische und psychologische Widersprüche:

  1. Kindliche Anteile werden instinktiv geschützt
    • DIS-Anteile sind statisch und funktional getrennt – das ist eine der Kernannahmen der Theorie.
    • Ein kindlicher Anteil soll per Definition nicht denselben kognitiven Zugriff auf traumatische Erlebnisse haben wie erwachsene Anteile.
    • Dass ein kindlicher Anteil willentlich nach vorne treten und sich dann einer extrem belastenden Situation aussetzen würde, widerspricht dem Grundprinzip der „dissoziativen Barriere“.
  2. Das Switchen auf Knopfdruck widerspricht der Definition der DIS
    • Eine DIS per Definition zeichnet sich dadurch aus, dass das Switchen nicht kontrollierbar ist.
    • Wenn eine Person bewusst zwischen Anteilen wechseln kann, ist das ein Zeichen für Identitätsflexibilität – nicht für eine statische, traumabedingte Identitätsstörung.
    • Dies deutet viel eher auf eine Identitätsdiffusion hin, wie sie bei einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) vorkommt.

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Wie bereits erwähnt, sind DIS-Anteile statisch und an spezifische Funktionen gebunden. In der Realität zeigen jedoch viele Personen, die als „DIS-betroffen“ diagnostiziert wurden, eine hohe kognitive Flexibilität und ein hohes Maß an Kontrolle über ihr Switchen. Das widerspricht dem eigentlichen Konzept der DIS und passt deutlich besser zu Borderline-Mustern oder selbstverstärktem Verhalten in therapeutischen Kontexten.

Konkret zum Kommentar-Auszug:

Es geht nicht darum, ob man sich bewusst einem Trigger aussetzt, sondern darum, dass man nicht bewusst und gezielt einen spezifischen Anteil anvisieren kann. Wenn ein Switch bewusst steuerbar ist, dann ist er nicht mehr per Definition ein pathologischer dissoziativer Vorgang. „Switchen auf Knopfdruck“ passt nicht zur ursprünglichen DIS-Theorie, sondern eher zu einer durch soziale oder therapeutische Einflüsse geprägten Konstruktion.

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