Die Dynamik, wie Diagnosen im sozialen Kontext genutzt werden, um Machtstrukturen oder Identitätsgruppen zu schaffen, ist ein spannendes und gleichzeitig sensibles Thema. Bisher habe ich die Überlegungen vertreten: „DIS könnte ein Subtyp der BPS sein, weil sich so viele Symptome überschneiden – vor allem die Identitätsinstabilität (Inkohärenz), die Traumabezüge und die emotionalen Schwankungen.“
Diese Gedanken fanden sich unter anderem in meinem Beitrag zur Dissoziativen Identitätsstörung wieder.
Ein Teil meiner Überlegungen wurde durch Beobachtungen im digitalen Raum gestützt. In diesem Umfeld habe ich über die letzten zwei Jahrzehnte eine Kunsthierarchie wahrgenommen, in der sich Betroffene mit DIS als „Elite“ darstellen und Borderline-Betroffene abwerten. Das Kuriose dabei war: Viele dieser Verhaltensweisen und impulsiven Reaktionen entsprachen genau den Mustern, die typischerweise bei einer Borderline-Störung auftreten. Das verstärkte meine Annahme, dass die beiden Diagnosen eng miteinander verbunden sein könnten – eine Sichtweise, die auch Fachleute wie Birger Dulz teilen.
Doch mittlerweile beginne ich zu erkennen, dass die DIS tatsächlich eine eigenständige Diagnose ist und nicht als Subtyp der BPS betrachtet werden sollte. Dies führt nun für mich persönlich zu einer Herausforderung: Wie kann ich diese Perspektive vertreten, ohne die elitäre Dynamik zu verstärken, die ich selbst als schädlich empfinde? Denn diese Hierarchien schaffen nicht nur Abgrenzung, sondern verhindern oft ein gegenseitiges Verständnis zwischen Betroffenen von Traumafolgestörungen.
DIS und BPS haben ohne Zweifel einige Gemeinsamkeiten, insbesondere im Hinblick auf die Verbindungen zu Traumata und Identitätsinstabilität. Dennoch handelt es sich um zwei eigenständige Diagnosen mit unterschiedlichen Entstehungsmechanismen und Symptomatiken. Während BPS oft durch instabile Beziehungen, starke emotionale Reaktionen und ein chronisches Gefühl von Leere geprägt ist, zeigt sich die DIS durch klar abgegrenzte Identitätszustände und teilweise Amnesien – Merkmale, die bei BPS nicht vorkommen. Es ist entscheidend, diese Unterschiede zu verstehen und beide Störungen mit der gleichen Sensibilität zu betrachten. Anstatt uns auf allgemeine Hierarchien einzulassen, sollten wir uns darauf konzentrieren, die individuellen Herausforderungen anzuerkennen, die jede Diagnose mit sich bringt.
Ein zentraler Punkt ist die unterschiedliche gesellschaftliche Wahrnehmung beider Diagnosen. Während die Borderline-Persönlichkeitsstörung seit Jahrzehnten sozial und leider auch im Fachbereich stigmatisiert wird, erfahren Menschen mit DIS oft eine andere Form der Wahrnehmung. Bereits vor 25 Jahren hörte ich von Therapeuten, dass BPS-Patienten:Innen im klinischen Setting als „schwierig“ oder gar als „Spaltpilze“ betrachtet wurden. Im Gegensatz dazu scheinen DIS-Betroffene und einige Trauma-Therapeuten eine enge symbiotische Beziehung zu haben. DIS wird von manchen Fachleuten und Betroffenen als „besondere“ Diagnose wahrgenommen, was wiederum zu einem Gefühl von Exklusivität führen kann.
Dieses Spannungsfeld verdeutlicht zwei Mechanismen, die in sozialen Kontexten häufig auftreten: Selbstwert durch Abgrenzung und Selbstschutz. Die Abgrenzung von der BPS kann für einige Betroffene ein Weg sein, den eigenen Wert zu unterstreichen und sich von der Stigmatisierung zu distanzieren. Gleichzeitig kann das Hervorheben einer Diagnose, insbesondere wie DIS, als Schutzmechanismus dienen, um mit Scham, Unsicherheit oder Schmerz umzugehen.
Vielleicht hilft es, den Fokus darauf zu legen, welche gemeinsamen Herausforderungen beide Gruppen teilen. Der Umgang mit Trauma, das Bedürfnis nach Verständnis und Unterstützung sowie die enorme innere Stärke, die erforderlich ist, um mit den Belastungen umzugehen, sind verbindende Elemente. Von dieser gemeinsamen Grundlage aus können Unterschiede in der Diagnose ohne Wertungen betrachtet werden.
Die Identitätskohärenz bleibt ein Schlüsselkonzept, um diese Unterschiede zu verstehen. Während Menschen mit BPS ein schwankendes Selbstbild haben, bleibt ihre Identität als Ganzes intakt. DIS ist hingegen gekennzeichnet durch eine Fragmentierung der Identität, bei der verschiedene Identitätszustände mit eigenen Erinnerungen und Verhaltensweisen existieren. Einige Forschende sehen BPS und DIS auf einem Spektrum traumabedingter Identitätsprobleme. Doch auch wenn diese Perspektive hilfreich sein mag, darf sie nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um zwei eigenständige Diagnosen handelt, die jeweils spezifische therapeutische Ansätze erfordern.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Dissoziative Identitätsstörung und die Borderline-Persönlichkeitsstörung weisen zwar Überschneidungen auf, basieren jedoch auf unterschiedlichen Mechanismen und Symptomen. Wichtig ist, dass wir die individuellen Bedürfnisse jeder betroffenen Person in den Mittelpunkt stellen, anstatt Diagnosen als Grundlage für soziale Hierarchien oder Wertungen zu nutzen. Nur so können wir ein Verständnis fördern, das auf Empathie und gegenseitigem Respekt basiert.
Zum Weiterlesen:
- Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und Dissoziative Identitätsstörung (DIS)
- Vorverurteilung von PatientInnen mit einer Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ nachgewiesen
Weitere Texte und Quellen zum Thema werden folgen.