Keine Aufarbeitung des Narrativs

Autorin: Nora Sillan

Wenn es um Institutionen und das Narrativ von ritueller Gewalt geht, haben wir bislang meist über die UBSKM berichtet (z.B. im Rahmen offener Briefe oder über den organisatorisch beim UBSKM-Amt angesiedelten Betroffenenrat). Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs stand hingegen verhältnismäßig weniger im Fokus der Aufmerksamkeit unserer Webseite – vom Bericht über deren Programmbeschwerde an den Fernsehrat natürlich abgesehen.

In diesen Zusammenhängen haben wir bereits folgendes Twitter-Posting geteilt, wo die Aufarbeitungskommission expressis verbis klarmacht, was sie meint, wenn sie von rituellen Strukturen spricht – man beachte die Begrifflichkeit „satanistisch„:

Im Folgenden werden wir nun in mehreren Artikeln (Fortsetzung folgt!) beleuchten, wie die Kommission das Narrativ verbreitet hat – in Gegenwart und Vergangenheit. Dazu werfen wir zu Beginn einen Blick in Richtung der Mitglieder der Aufarbeitungskommission, insbesondere zu Silke Birgitta Gahleitner, die nach Angaben der Kommissionswebseite den Themenschwerpunkt rituelle Gewalt übernommen hat. Gahleitner, die neben ihrer Tätigkeit für die Kommission eine Professur an der Alice Salomon Hochschule in Berlin innehat, spricht im InterviewDie Kommissionsmitglieder stellen sich vor“ unkritisch über rituelle Gewalt und erwähnt auch „Mind Control Phänomene“:

https://www.aufarbeitungskommission.de/service-presse/service/meldungen/die-kommissionsmitglieder-stellen-sich-vor-silke-birgitta-gahleitner/

(Update September 2024: Der Artikel wurde im April 2024 veröffentlicht. Die Passage über „Mind Control Phänomene ist inzwischen gelöscht, findet sich allerdings im Internet Archiv unverändert: Artikel im Internetarchiv)

Artikel in der DGfPI-Fachzeitschrift

Unter diesem Gesichtspunkt ist ein Bericht in der aktuellen Ausgabe (November 2023) des Journals „Kindesmisshandlung und -vernachlässigung“ besonders interessant. Diese Fachzeitschrift erscheint als 2x jährlich interdisziplinäre Fachzeitschrift und wird von der Deutschen Gesellschaft für Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung, -vernachlässigung und sexualisierter Gewalt herausgegeben, einem Zusammenschluss von 800 Fachkräften aus dem Bereich Kinderschutz. Im aktuellen Heft gibt es einen Schwerpunkt zum Thema rituelle Gewalt, wo (bereits an anderer Stelle publizierte) Reaktionen von Fachverbänden sowie ein Verweis auf die Stellungnahmen von Aufarbeitungskommission & Betroffenenrat und den Instagram-Account „Walk of DIS“ abgedruckt sind. Weiters befindet sich auch ein Text von Kommissionsmitglied Silke Birgitta Gahleitner im Heft, der nun näher beleuchtet wird.

Unter dem Titel „Missbrauch mit dem Missbrauch? Gedanken zu einer unendlichen Debatte“ schreibt Silke Birgitta Gahleitner in dieser Ausgabe über rituelle Gewalt – also genau ihren Themenschwerpunkt bei der Aufarbeitungskommission. Im Lichte des obig zitierten Interviewausschnitts verwundert es wenig, dass ihr Artikel in der Fachzeitschrift eine deutliche Bias zugunsten des Narrativs von ORG-MC aufweist.

Worum geht es nun konkret im Text?

Gahleitner ist bemüht, die aktuellen Aufklärungen rund um rituelle Gewalt als Backlash zu stilisieren und versucht Zusammenhänge zur Debatte um die Anerkennung von sexueller Gewalt in vergangenen Jahrzehnten zu ziehen: „Die momentane Diskussion über sexuellen Kindesmissbrauch in organisierten und rituellen Kontexten wirkt wie ein Déjà-vu: Betroffene von sexualisierter Gewalt hatten immer wieder mit einer massiven Infragestellung ihrer Glaubwürdigkeit zu kämpfen.“ (Fachzeitschrift, 2023/2, S. 130)

Dabei verkennt die Autorin jedoch, dass es mit der Kritik am Narrativ von ritueller Gewalt/Mind Control weder um eine etwaige Leugnung von sexueller Gewalt geht, noch darum, Missbrauchsopfer zu diskreditieren. Im Einklang mit Expertenstellungnahmen und internationalen Gutachten wird stattdessen vor gefährlichen Fehltherapien gewarnt und über eine opferschädigende Verschwörungstheorie aufgeklärt: Es geht um Therapieopfer, die leider auch in diesem Fachartikel unter den Tisch fallen (gelassen werden).

Falschbehauptung und inhaltliche Verkürzung

Gleich zu Beginn ihres Artikels bezieht sich Gahleitner auf den Spiegel-Bericht (März 2023) und die beiden Stellungnahmen der Psychologenverbände BPD und DGP und schreibt:

Am 11.3.2023 erschien im Spiegel ein Artikel mit dem Titel „Im Teufelskreis“ von Beate Lakotta und Christopher Piltz zum Thema organisierte sexualisierte und rituelle Gewalt. Als Hauptaussage des Textes ist der Zusammenfassung zu entnehmen: „Der angebliche sexuelle Missbrauch wird Patienten eingeredet.“ Kurz darauf erschienen eine Stellungnahme der Fachgruppe Rechtspsychologie in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) (2023) zu „Forschung und Beratung im Kontext ritueller sexueller Gewalt“ und eine weitere der Sektion Rechtspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) (2023) mit einem ähnlichen Tenor zu Behandlungsfehlern in diesem Feld. Beide stellten die Existenz organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt generell infrage und griffen Positionen an, die Berichte von Betroffenen über diese Form der sexuellen Gewalt ernst nehmen.“ (Zeitschrift 02/23, S. 129).

Dies ist nicht korrekt. Die DGP betonte in ihrem Schreiben vom März 2023 explizit die klare Trennung von organisierter und ritueller Gewalt: „Während Fälle organisierter sexueller Gewalt national und international mehrfach durch Strafverfolgungsbehörden dokumentiert und bestätigt wurden, gilt dies nicht für Fälle systematischer ritueller sexueller Gewalt“. (ebd.) Die Worte „organisierter“ und „ritueller“ sind im Originaltext sogar in Kursiv gesetzt, sodass Verwechslungen unmöglich sind. Auch im Conclusio bezieht sich die DGP ausschließlich auf rituelle Gewalt, wenn sie schreibt, dass „diese Veröffentlichungen (…) keinen Beleg für die Existenz ritueller sexueller Gewalt in Deutschland“ liefern .

Die Stellungnahme des BDP – der zweite von Gahleitner zitierte Text – bezieht sich ebenso nur auf rituelle Gewalt, wie bereits dessen Titel nahelegt: Stellungnahme der Sektion Rechtspsychologie im BDP im Kontext sexueller ritueller Gewalt“. Auch in seiner Aussage ähnelt er der anderen Stellungnahme: „Es ist jedoch wissenschaftlich zu konstatieren, dass es für systematische rituelle sexuelle Gewalt oder Methoden wie „Mind Control“ keine belastbaren Anhaltspunkte gibt“.

Keine dieser beiden Stellungnahmen bietet also Grund für folgenden Satz Gahleitners: „Beide stellten die Existenz organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt generell infrage“, wo linguistisch zwei Satzteile durch die Konjunktion und im Sinne einer Aufzählung verbunden werden. Demgemäß ist dies eine inhaltliche Falschbehauptung, denn mit keinem Wort wird von den genannten Akteuren organisierte sexuelle Gewalt bestritten.

Auch der mehrseitige Spiegel-Artikel, dessen Kernaussagen von Gahleitner verkürzt wiedergegeben werden, enthielt eine diesbezügliche deutliche Differenzierung und Abgrenzung: „Wohl nie verfolgte die Gesellschaft so entschlossen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs wie heute. Fortlaufend decken Ermittler erschütternde Fälle organisierter sexueller Gewalt auf, in denen Täterinnen und Täter strategisch vorgehen, Kinder für den Missbrauch weiterreichen. Staufen, Lügde, Münster, Wermelskirchen – Medien berichten detailreich über solche Tatkomplexe. Es gibt Zeugen, Spuren, Aufnahmen, manchmal sogar Geständnisse. Was es in diesen Fällen nicht gibt: Hinweise auf kultische Hintergründe.“ (Spiegel 11/11.3.2023, S. 38)

Diese klaren Differenzierungen sucht man in Gahleitners Aufsatz vergeblich, der – wie bei Verteidigern des Narrativs argumentationsüblich- rituelle Gewalt mit organisierter Gewalt in eine Schublade wirft.

Über die Forschungsprojekte der Aufarbeitungskommission

Als Untermauerung der Thesen ihres Artikels nutzt die Autorin u.a. Daten zu den vertraulichen Anhörungen der Aufarbeitungskommission, wo ca. 14% aller Berichte von ORG sprechen (darunter 118 Betroffene über „ritualisierte Gewaltformen“, wie es im Text heißt) bzw. 5 % aller Anträge beim Fonds sexueller Missbrauch einen Bezug zu diesem Kontext haben (Stand: Juli 2023). Dazu stellt Gahleitner folgende (rhetorische) Frage: „Warum also überzeugen diese oben genannten Zahlen manche Pressevertreter:innen und vor allem Fachkolleg:innen nicht?“ (Fachzeitschrift, 2023/2, S. 130)

Einige Zeilen später findet sich eine plausible Antwort darauf, wenn Gahleitner schreibt: „(…) es ist nicht Auftrag der Kommission, die Glaubhaftigkeit von Betroffenen zu überprüfen.“ (Fachzeitschrift, 2023/2, S. 130)

Und genau das ist der springender Punkt: Weder anonyme und vertrauliche Anhörungen noch vom BMFSFJ geförderte Forschungsprojekte der Aufarbeitungskommission, wie z.B. von Nick/Schröder/Briken et. al, die auf anonymen Internetbefragungen basieren, können belastbare empirische Daten liefern. Diesbezüglich ist die Kommission selbst in ihrem Statement sehr klar: „Die Forschungsarbeiten an anonymen Teilnehmenden haben die Glaubwürdigkeit der Angaben nicht infrage gestellt, diese aber auch nicht überprüfen können. Sie beinhalteten auch keine Befragung zur Häufigkeit des Vorkommens des Phänomens.“

Auch Studienleiter Peer Briken scheint (mittlerweile ?) dieser Meinung zu sein und wurde vom Spiegel mit folgenden Worten zitiert: „Man habe an keiner Stelle behauptet, Fakten zu präsentieren“ (für einen Detailbericht siehe hier, wo auch deutlich wird, dass das Wording in der Originalstudie 2018 noch ein ganz anderes war).

Doch zurück zur Gegenwart: Nach Veröffentlichung eines Fachartikels von Prof. Susanna Niehaus und Prof. Andreas Krause (gefolgt von einem „Brief an die Redaktion“ seitens des Studien-Teams) ist die Diskussion mittlerweile um einiges weiter. Sogar Briken, Schröder & Co. haben darin explizit festgehalten (zugegeben?), „dass es nicht das Ziel der Studie war, die Glaubhaftigkeit der Teilnehmenden zu untersuchen oder die Existenz des Phänomens zu beweisen; beides wäre basierend auf anonymen Selbstberichten selbstverständlich nicht möglich.“ (ebd. S. 2) Details hierzu, auch zur Replik von Niehaus/Krause, hat Bernd Harder im GWUP-Blog aufgeschlüsselt.

Wenn Gahleitner nun also in der aktuellen Ausgabe der DgfPl-Fachzeitschrift diese im November 2023 – also parallel zur Heftveröffentlichung – publizierte Kritik mit keinem Wort erwähnt, sondern lediglich festhält, dass die „methodischen Vorgehensweisen und Ergebnisdarstellungen dieser Projekte (…) der gängigen wissenschaftlichen Qualitätssicherung unterzogen“ wurden und werden, (Fachzeitschrift, 2023/2, S. 130), dann ist dies mehr als eine unvollständige Darstellung. Vor allem deswegen, weil der Fachartikel von Niehaus/Krause in englischer Sprache bereits im August 2023 erschienen ist – also Monate vor der Veröffentlichung von Gahleitners Text. Für das Einarbeiten dieser fundierten Kritikpunkte wäre also allemal genug Zeit gewesen.

Statt einer fachlichen Auseinandersetzungen mit diesen Aspekten wird von Gahleitner in Zusammenhang mit „Gegendiskursen“ jedoch lediglich eine unzulässige Verallgemeinerung beklagt: „Die Aussage, es gäbe keine Belege für die Existenz von organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt in Deutschland, ist unzulässig verallgemeinernd. In der Gesamtschau sind die Ergebnisse der explorativen Studie der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (vgl. Nick et al., 2019) neben den bereits erwähnten anderen Meldungen und Berichten von Betroffenen und Fachpersonen ein weiterer Hinweis, dass eine Auseinandersetzung mit dieser Gewaltform dringend erforderlich ist (…)“ (Fachzeitschrift, 2023/2, S. 132)

Eigentlich sollte mittlerweile endgültig klar(gestellt) sein, dass die Ergebnisse der „explorativen Studie“ eben keine belastbaren Daten hergeben. Diesbezüglich hilft auch folgender Vergleich mit der Sekte Colonia Dignidad nicht weiter, da dies – um es unwissenschaftlich auszudrücken – ein Vergleich zwischen Äpfel und Birnen ist: „(…) zumal verschiedene Fälle organisierter sexualisierter Gewalt, bei denen eine ideologische Rechtfertigung und Sinngebung erfolgte – z. B. bei Colonia Dignidad oder im Kontext der Mühl-Sekte –, bereits öffentlich bekannt sind. Warum all diese Angaben negiert werden, bleibt schwer nachvollziehbar. Ein so undifferenziertes Urteil widerspricht dem selbst formulierten wissenschaftlichen Anspruch der Kritiker:innen.“ (Fachzeitschrift, 2023/2, S. 132)

Dass der abschließende Pauschalvorwurf von Undifferenziertheit und Unwissenschaftlichkeit an die Kritiker ins Leere läuft, dürfte angesichts der umfangreichen Aufklärungsarbeiten und wissenschaftlichen Untersuchungen offensichtlich sein. Insofern kann man es nicht besser ausdrücken, als es der jüngst erschienene Fachartikel der Professorinnen Silvia Gubi-Kelm und Luise Greuel in Worte fasst:

https://www.researchgate.net/publication/377975173_Rituelle_sexuelle_Gewalt, S. 24

sowie:

https://www.researchgate.net/publication/377975173_Rituelle_sexuelle_Gewalt, S. 24

Damit sollte nun endgültig außer Diskussion stehen, dass das Forschungsprojekt der Aufarbeitungskommission von Nick/Schröder/Briken et. al. über subjektive, nicht verifizierbare Narrative nicht hinausgeht – und zwar weder in „Gesamtschau“ noch in Einzelbetrachtung.

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