ZDF »Ich bin Viele« Eine Erklärung

Autor: Marvel Stella

Große Aufregung in der DIS-Bubble, also Kreisen von Personen, die eine Dissoziative Identitätsstörung haben: Ich höre von vielen Seiten, dass die Dissoziative Identitätsstörung (im Folgenden als DIS bezeichnet) in der Sendung: Ich bin Viele Leben als multiple Persönlichkeit völlig falsch dargestellt wird.

Entweder, man findet sich darin nicht wieder oder man hat das Gefühl, es werden Sachverhalte geschildert, die dafür sorgen, in seiner Spaltung nicht ernst genommen zu werden.

Ulrich Sachsse (eine Koryphäe im Bereich der Borderline-Forschung und Dissoziation/Dissoziative Identitätsstörung) wurde von Betroffenen als  ältlicher Experte bezeichnet,  der sich nicht weiter gebildet habe. Dass ein Laie einen so großartigen Fach-Experten derart abwertet, bereitet mir buchstäblich Gehirn-Schmerzen!

Worum ging es? Ulrich Sachsse wird interviewt und sagt zum Fall Sabrina:

Wenn ich die Videos sehe mit meiner langjährigen Erfahrung auf Station, dann sage ich: Ja,  das ist eine Form der Dissoziativen Identitätsstörung. Es ist eine schwere Form. Die Dissoziative Identitätsstörung erklärt man sich so, dass es in frühester Kindheit schwere, langanhaltende traumatische Erfahrungen gegeben hat. Um Unerträgliches erträglich zu machen, haben einige Menschen die Möglichkeit, sich aufzuspalten, und sich vorzumachen als Kinder: »Dies ist ja einem anderen Kind passiert und nicht mir.«

Ulrich Sachsse im Video ab Minute 06:00

Und was wurde daraus gemacht?

Zuerst einmal kam ein emotionaler Aufschrei inklusive virtuellem Erbrechen und dann wird betont, DIS sei weitaus mehr, als die bloße Vorstellung, dass das jemand anderen passiert. Nun besteht die Angst, dass die Welt glaubt, DIS sei ja nur irgendwie eine Vorstellung mit imaginären Freunden.

Wenn ich das lese, dann weiß ich, wie mein Artikel Dissoziative Identitätsstörung aufgefasst wird. Im besten Fall wird man sagen, ich hätte keine Ahnung. Im Extremfall behauptet man, dass ich gar nicht wüsste, was DIS ist und auch nicht daran leiden könne.

Ja gut, das wäre durchaus in Ordnung. Trotzdem möchte ich hier erklärend auf das, was Ulrich Sachsse tatsächlich – rational und nüchtern – gesagt hat, eingehen.

Erst einmal ein paar Fakten (auf Grund einiger Thesen, die ich oftmals lese):

  • Persönlichkeitsanteile fallen nicht mit einem komplett fertigen neuronalen Netzwerk vom Himmel. Das ist rein biochemisch und neurologisch nicht möglich. Netzwerke entwickeln sich.
  • Grundsätzlich geht es bei der DIS darum, etwas Unerträgliches von sich zu weisen: »Das war ich nicht« oder »Das ist nicht mir zugefügt worden«.
  • Dissoziation passiert – Dissoziative Identitätsstörung aber entwickelt sich.
  • Wenn ein Kleinkind etwas schwer Traumatisches erlebt, hat es mitunter (leider nicht alle Kinder) die Chance, es abzuspalten bzw. zu dissoziieren. Dieser abgespaltene Zustand samt Trauma ist wie eingefroren.
  • Fantasie, Vorstellungsvermögen und Identifikation sind wesentliche Grundpfeiler dafür, dass sich ein abgespaltener Zustand irgendwann zu einem Identitätsanteil mit einem eigenen neuronalen Netzwerk entwickeln kann. Das kann ein Weg von Jahren sein, nicht von Minuten oder Stunden.

Letztendlich ist und bleibt die Dissoziative Identitätsstörung rein objektiv betrachtet eine »subjektive Wahrnehmung«. Ohne Fantasie ist dieses Krankheitsbild nicht möglich. Es leben keine – beispielsweise – 10 Personen parallel im Körper, sondern nur eine einzige. Und diese eine Person ist aufgespalten in unterschiedliche Zustände und Anteile, die nicht immer menschlich sein müssen. So gibt es u.a. Tier-Anteile, Wohnort-Anteile, Gegenstand-Anteile, Computer-Anteile, Software-Anteile, die Liste ist beliebig fortsetzbar. Es gibt auch eingefrorene Zustände, die sich niemals weiterentwickeln. Das ist alles sehr individuell.

Ulrich Sachsse hat sich ohne jede Dramatik sehr sachlich und fachlich korrekt ausgedrückt. Natürlich haben viele Betroffene Angst, nicht ernst genommen zu werden oder dass Anteile nicht als eigenständig anerkannt werden. Aber diese sachlich fundierte Aufklärung hilft bedeutend mehr, als u.a. die falschen Fakten einer sogenannten Expertin, dass sich die Augenfarben ändern könnten (blau zu braun, etc.).

Uns Betroffenen etwas zuzuschreiben, was rein medizinisch nicht möglich ist, macht uns zu Wesen von einem anderen Stern. Dabei muss es doch ein Anliegen sein, verstanden zu werden. Wie soll dieses Verstehen funktionieren, wenn die Dissoziative Identitätsstörung derart mystifiziert wird?

Ich habe auf meiner Seite Dissoziative Identitätsstörung von einer Gestaltungs-Krankheit geredet. Dieses Wort wird man sicher nirgendwo lesen oder sehen, weil es in der Tat falsch interpretiert werden kann. Es geht mir aber keineswegs um die bewusste Gestaltung einer Krankheit.

Um mich selbst zu zitieren:

Was anfangs nur als Zustand eingefroren wurde, wird dann im Laufe des Lebens durch Fantasie und Identifikation gestaltet, sodass die Persönlichkeitsanteile immer facettenreicher werden. Nicht die sogenannte Programmierung irgendwelcher Kult-Täter, sondern die eigene Konditionierung sorgt dafür, dass das, was einst nur ein traumatischer, dissoziierter Zustand war, irgendwann separate Netzwerke im Gehirn heraus bildet. Das geht soweit, dass die Anteile untereinander amnestisch sein können.

Viele Betroffene sagen von sich, dass sie manchmal befürchten, sie würden dies alles nur spielen. Sie meinen, sie könnten es sicherlich steuern, wenn sie nur wollen. Doch wenn sie es versuchen, klappt es nicht. Daran sieht man, wie unterschiedlich die Inkohärenz selbst unter den Betroffenen einer Dissoziativen Identitätsstörung ist. So manch einer hat noch einen teilbewussten Zugriff auf die Gestaltungs-Abläufe, während andere Betroffene von eine Amnesie in die andere gleiten.

Ich fand den Beitrag in der ZDF Mediathek sehr gelungen. Nichts wurde dramatisiert und doch kam es klar rüber, wie schlimm die Dissoziative Identitätsstörung für den Betroffenen ist.

Danke an Ulrich Sachsse!

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