Wieder einmal zirkuliert ein Interview, in dem die Behauptung aufgestellt wird, dass gravierende Traumata zwangsläufig zur Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) führen und dass Täter absichtlich die Psyche ihres Opfers „spalten“, um es gefügig zu machen. Diese Erzählung ist nicht neu – sie nutzt Elemente der Satanic Panic, die bereits in den 80er Jahren widerlegt wurde, und kombiniert sie mit Pseudowissenschaft, um ein Narrativ zu stützen, das wissenschaftlich nicht haltbar ist.
Von besonderer Brisanz: Die Interviewpartnerin ist eine IoPT-Therapeutin, die mit den längst diskreditierten Theorien von Franz Ruppert arbeitet – einer Methode, die in der Fachwelt als hochgradig unwissenschaftlich angesehen wird. Das von Markus Haintz, einem Anwalt mit Verbindungen zur Querdenker-Szene, geführte Interview zielt allem Anschein nach darauf ab, Angst zu schüren und die Menschen davon zu überzeugen, dass „der Staat“ oder „die Gesellschaft“ gegen die Wahrheit arbeitet.
Doch was steckt wirklich hinter diesen Behauptungen? Wie entstehen Traumafolgestörungen tatsächlich, und was ist reine Panikmache? In den folgenden zwei Artikeln (hier geht es zu Teil zwei) werde ich wissenschaftliche Fakten falschen Behauptungen gegenüberstellen und zeigen, warum die Rituelle-Gewalt-Erzählung mehr Schaden anrichtet, als dass sie hilft.

Aussage Birgit Assel:
„Die Psyche muss sich spalten, um nicht an Überregung und Schockzuständen zu sterben. Ein erlittenes Trauma verursacht die Gefühle von Ohnmacht, Todesangst und Hilflosigkeit. Wenn eine Flucht oder ein Kampf aussichtslos sind, dann bleibt nur noch die Erstarrung. Die ausgeschütteten Hormone Adrenalin und Noradrenalin können nicht genutzt werden, weil der Körper erstarrt und somit handlungsunfähig ist.“
Es ist nicht korrekt, dass die Psyche sich spalten muss, um nicht an Überregung und Schockzuständen zu sterben. Niemand „stirbt“ an Überregung oder Schockzuständen. Die Psyche verfügt über viele Schutzmechanismen, doch eine „Spaltung“ in Form von multiplen Persönlichkeiten ist nicht zwangsläufig eine Reaktion auf Trauma.
Die Behauptung „Die ausgeschütteten Hormone Adrenalin und Noradrenalin können nicht genutzt werden, weil der Körper erstarrt und somit handlungsunfähig ist.“ stellt eine falsche Auslegung neurobiologischer Sachverhalte dar. Adrenalin und Noradrenalin, zwei Stresshormone, bereiten den Körper auf eine Reaktion vor – selbst im Freeze-Modus. Die Hormone entfalten trotzdem ihre Wirkung, auch wenn der Körper nicht unmittelbar kämpft oder flieht. Das hat absolut nichts mit einer „Spaltung der Psyche“ zu tun.

Aussage Birgit Assel:
Als ich eine Fortbildung bei »Vielfalt« in Hamburg machte, ist ein Satz besonders bei mir „hängen“ geblieben. Er hieß: Betroffene Menschen, die den Weg in Eure Praxis finden, sind „Betriebsunfälle“. Das bedeutet, dass menschliche Gehirne nicht wie Computer funktionieren und es zu „Fehlprogrammierungen“ kommen kann.
Als Erstes zu Vielfalt.de: Meine Meinung zu diesem Verein habe ich schon im März 2024 in einem Artikel geäußert, der die Gegenüberstellungen „damals und heute“ behandelte. Siehe: Damals und heute: rituelle Gewalt.
Die Bezeichnung „Betriebsunfälle“ für Trauma-Opfer ist nicht nur fragwürdig, sondern hochgradig manipulativ. Diese Wortwahl suggeriert, dass Betroffene nicht nur Opfer von Gewalt oder Missbrauch, sondern auch Opfer eines fehlerhaften Systems wurden – ein beliebtes Narrativ innerhalb der „Rituelle-Gewalt“-Szene, das darauf abzielt, Misstrauen gegen etablierte Psychiatrie und Forschung zu säen.

Aussage Birgit Assel:
Das heißt, die sogenannte „Alltagsperson“, die nach außen hin als die normal funktionierende Person erscheint, leidet zum Beispiel unter Panikattacken, für die sie keine Erklärung hat, und sucht Hilfe in einer therapeutischen Praxis. Meine persönliche Erfahrung ist, dass Betroffene einen langen therapeutischen Weg hinter sich haben. Dazu gehören Klinik- und Psychiatrieaufenthalte, viele Fehldiagnosen bis hin zu Suizidversuchen, bis es zu einer ersten Verdachtsdiagnose bezüglich einer dissoziativen Identitätsstörung, abgekürzt bezeichnet als DIS, kommt.
Hier wird ein längst überholte DIS-Narrative aus den 90er Jahren wieder aufgewärmt. Wissenschaftlich betrachtet gibt es keine festgelegte „funktionierende Alltagsperson“ bei der Dissoziativen Identitätsstörung.
Die Vorstellung, dass Betroffene ihren eigenen psychischen Symptomen völlig unwissend gegenüberstehen, ist eine verallgemeinernde Darstellung, die stark an das Buch „Multiple Persönlichkeiten – Überlebende extremer Gewalt“ (1995) sowie dessen Neuauflage (2010) erinnert.
In der 2010er Neuauflage von Hubers Buch findet sich auf Seite 138 eine lange Auflistung an Diagnosen, die die Betroffenen angeblich zunächst erhielten, bevor die „richtige“ Diagnose DIS gestellt wurde. Huber schreibt dazu:
„Da multipel zu sein einen enormen Leidensdruck erzeugt, ist es jedenfalls wahrscheinlich, dass Sie schon mit dem psychosozialen Gesundheitssystem in Kontakt gekommen sind. Was auch immer Ihre Diagnosen waren (sie können ja allesamt auch zutreffen), wahrscheinlich hat Ihnen die Beratung oder Therapie zwar bestenfalls ein wenig Entlastung verschafft, Ihnen aber nicht fundamental geholfen. Schlimmer ist schon, wenn Sie sich gedemütigt und nicht verstanden fühlten. Und schlimmstenfalls erhielten Sie fälschlich das Etikett „Psychotikerin“ oder „Schizophrene“ oder galten als „Simulantin.“
Bei dem Zitat zeigt sich ganz deutlich das manipulative Narrativ „Wir gegen sie“ – eine bewusste Abgrenzung von der wissenschaftlichen Psychotherapie, die den Eindruck erwecken soll, dass nur bestimmte Therapeuten (nämlich diejenigen aus diesem Netzwerk) die Wahrheit erkennen. Was Assel hier beschreibt, ist nichts anderes als die Fortschreibung genau jener Mechanismen, die bereits in den 90er Jahren dazu führten, dass die sogenannte „Rituelle-Gewalt“-Szene immer weiter in eine abgeschottete, ideologisch geprägte Parallelwelt abdriftete.

Aussage Birgit Assel:
Ich kann mich erinnern, dass eine betroffene Klientin ganz erstaunt war, dass ich nur einen Kalender für meine Termine brauche, während sie fünf oder sechs Terminkalender hatte, um ihre verschiedenen Persönlichkeitsanteile zu organisieren. Die Zeitverluste, die diese Menschen erleben, gehören ebenfalls zu ihrer Normalität.
Subjektive Perspektive:
Seit 25 Jahren beobachte ich die Szene – mal als aktive Aufklärerin, mal aus der Distanz. Ich habe nahezu jede Webseite gesehen, die seit den 90er Jahren zu diesem Thema online gestellt wurde. Doch nirgendwo bin ich jemals auf den Fachbegriff „Gedächtnisstörung“ für die Amnesien gestoßen. Das ist beinahe so, als würde man an Panikattacken leiden, aber niemals über eine Angststörung reden, selbst wenn man ansonsten all sein angelesenes „Fachwissen“ rauf und runter betet.
Ebenso wenig habe ich je eine detaillierte Beschreibung darüber gelesen, welche psychische Belastung durch die „alltäglichen“ Amnesien entsteht. Wenn diese Zeitverluste tatsächlich in der Häufigkeit existieren und das Erleben von Identitätsfragmentierung so wesentlich ist – warum spricht dann niemand über den Leidensdruck, der dadurch entsteht?
Das Ganze ist in sich widersprüchlich – genauso widersprüchlich wie das, was Assel beschreibt. Wenn es Zeitverluste gibt, dann existieren sie aus einem einzigen Grund: um die Identität als solche zu schützen. Wozu sollte es dann notwendig sein, gleich fünf oder sechs Terminkalender zu führen? Es sei denn – verzeiht mir den Sarkasmus – die Informationen darüber stammen von einer „Innenperson“, die zufällig alles über jeden weiß. Womit wir wieder beim Kernproblem wären:
DIS wird in dieser Szene nicht als psychische Störung verstanden, sondern als ultimative Erklärung für alles und als perfekte Ausrede für alle Widersprüche.
Kommen wir nun zu den objektiven Fakten:
Es gibt keine festgelegte „Regel“, wie Menschen mit DIS ihren Alltag organisieren. Die Art und Weise, wie Betroffene mit ihrer Dissoziation umgehen, hängt von vielen individuellen Faktoren ab:
- Haben sie eine Therapie mit „Systemarbeit“ gemacht?
- Wie stark ist ihre Alltagsfunktionalität?
- Wie bewusst ist ihnen ihre eigene Dissoziation?
- Welche Coping-Mechanismen haben sie entwickelt?
→ Viele Betroffene nutzen gar keinen Kalender, weil sie nicht bewusst zwischen Anteilen wechseln.
→ Die Idee, dass „mehrere Kalender“ eine Art DIS-typisches Merkmal sind, ist eine nicht belegbare Verallgemeinerung.
Zeitverluste können übrigens viele Ursachen haben – sie sind kein exklusives Merkmal der DIS. Auch bei anderen Störungen, wie Depression, ADHS oder PTBS, können Zeitverzerrungen oder Erinnerungsverluste auftreten. Die Aussage „Zeitverluste gehören zur Normalität“ ist eine gefährliche Pauschalisierung. Sie suggeriert, dass Zeitlücken immer ein Indiz für eine DIS sind – dabei gibt es zahlreiche psychologische Mechanismen, die zu solchen Erlebnissen führen können.

Aussage Birgit Assel:
Die Psyche eines Menschen muss sich spalten, wenn der Betroffene oder die Betroffene unvorstellbare Gewalt erlebt hat, um das Überleben zu sichern. Diese Gewalt, oft in Form von extremem Missbrauch oder Folter, wird dann auf unterschiedliche Persönlichkeiten „aufgeteilt“.
Ein weiteres Narrativ aus den 90er Jahren, speziell von Michaela Huber: Die kindliche Psyche muss sich aufgrund schwerwiegender Gewalt aufspalten. Nein, die Psyche teilt sich nicht auf, und zwar bei keinem Kind. Die Identität aller Kinder ist inkohärent. In dieser Hinsicht wächst sie bei einer DIS gar nicht erst zusammen.

Aussage Birgit Assel:
Jeder Anteil übernimmt dann spezifische Funktionen, um mit den unterschiedlichen Aspekten des erlebten Traumas umgehen zu können, ohne dass die Alltagsperson davon vollständig betroffen ist. Dies geschieht als eine Art Überlebensmechanismus, der es dem Individuum ermöglicht, in einer äußerst belastenden und traumatischen Umgebung zu überleben. In der Regel geschieht diese Spaltung schon im frühesten Kindesalter, wenn die betroffenen Kinder körperlich und seelisch so überwältigt werden, dass ihr Gehirn die Gewalt nicht mehr in einer Einheit verarbeiten kann.
Assel schreibt, dass sich die Psyche spalten muss, um das Überleben zu sichern: Nein! Es gibt KEINE wissenschaftlichen Belege, dass „Spaltung“ der einzige oder zwangsläufige Mechanismus bei Trauma ist. Es gibt viele Wege, wie Menschen mit Trauma umgehen – Dissoziation ist nur eine davon!
Dieses Modell ist die klassische Rituelle-Gewalt-Erzählung :
- „DIS entsteht immer durch extreme Gewalt.“
- „Die Psyche kann gar nicht anders, als sich in Anteilen aufzuspalten.“
- „Jede Identität hat eine eigene Funktion, um die Gewalt zu verarbeiten.“
Die Dissoziative Identitätsstörung ist ein hochkomplexes Störungsbild mit vielen Variationen – nicht jeder Anteil hat eine festgelegte „Funktion“. Hinzu kommt: Menschen mit einem schweren Trauma entwickeln nicht zwangsläufig eine DIS – das ist eine völlig unbewiesene Behauptung!

Aussage Birgit Assel:
Bei einem erwachsenen Menschen ist diese Spaltung nicht mehr möglich, da das Gehirn ausgereift ist und sich in seiner Struktur stabilisiert hat.
Das ist falsch. Die Neuroplastizität des Gehirns endet nicht in der Kindheit – Menschen können auch im Erwachsenenalter dissoziative Störungen entwickeln. Dissoziative Symptome können sich in jeder Lebensphase manifestieren, je nach Belastungs- und Bewältigungsmechanismen.

Aussage Birgit Assel:
Die Anzahl und Vielfalt der Persönlichkeitsanteile kann sehr unterschiedlich sein. Sie hängt davon ab, wie viel Gewalt die betroffene Person erlitten hat und wie komplex die Überlebensstrategien waren, die sich im Laufe der Zeit entwickelten.
Dieses „Mehr Gewalt = Mehr Anteile“-Narrativ ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern brandgefährlich. Es erschafft einen Belohnungsmechanismus, bei dem das Schlimmste und Unvorstellbarste zum Maßstab für „echte“ Betroffenheit wird. Das führt genau zu den absurden Erzählungen, die wir seit Jahren in der Rituelle-Gewalt-Szene sehen, mit bizarr überzeichneten Schilderungen über Babyopferungen, Kannibalismus und absurde Hirngespinste wie „Kleinkinder, die mit abgeschnittenen Köpfen hantieren“.
Es ist kein Wunder, dass sich in den sozialen Medien ein regelrechtes „Trauma-Wettrennen“ entwickelt hat. Wer „nur“ häusliche Gewalt erlebt hat, wird in diesen Kreisen oft nicht ernst genommen. Wer stattdessen die „extremste“ Geschichte hat, bekommt die größte Anerkennung. Dadurch wird ein sozialer Anreiz geschaffen, die eigene Erzählung immer weiter zu steigern – bis hin zu völlig unrealistischen Geschichten.
Genau diese Darstellungen zerstören den echten Opferschutz.
Menschen, die echten Missbrauch erlebt haben, werden in den Hintergrund gedrängt, weil ihre Geschichte nicht „spektakulär“ genug ist. Dadurch rücken echte Täternetzwerke und reale Gewaltverbrechen aus dem Fokus. Auch sorgen diese Darstellungen für einen Anstieg falscher Erinnerungen. Erinnerungen sind formbar. Menschen, die ohnehin dissoziativ sind, können sich durch gezielte Suggestion wirklich „erinnern“, dass sie solche Dinge erlebt haben – obwohl es nicht passiert ist.

Aussage Birgit Assel:
Bei einem Menschen, der eine DIS entwickeln musste, gibt es immer täterloyale Innenpersonen. Die Aufspaltung der Psyche beginnt in der Regel schon im frühesten Kindesalter, und die Täter gehören somit auch zum Bindungssystem der Betroffenen.
Antwort: siehe „täterloyale Innenpersonen“.
und: siehe weiter oben

Hier geht es zum zweiten Teil. Rituelle Gewalt – Mind Control |