Berechtigte Zweifel an der DIS

Ich persönlich denke durchaus, dass es eine Form der Dissoziativen Identitätsstörung gibt. Nicht zuletzt, weil ich die Fragmentierung meiner eigenen Person kenne und weiß, wie stark diese vor ca. 20 Jahren ausgeprägt war. Wobei ich vorsichtig sein muss: Abgesehen von der Diagnose MPS/DIS, die ich zwei Mal bekommen habe, ist meine Wahrnehmung subjektiv. Vielleicht habe auch ich lediglich (ohne Wertung!) eine sehr dissoziative Form von Borderline oder das, was im DSM-5 unter OSDD-1 aufgeführt wird. Wenn es die klassische, voll ausgeprägte Dissoziative Identitätsstörung tatsächlich geben sollte, dann ist sie, so meine Überzeugung, sehr selten.

Am besten schauen wir uns als Erstes die allgemeinen DIS-Kriterien im ICD-11 und DSM-5 einmal genauer an:

KriteriumICD-11 (6B64 – Dissoziative Identitätsstörung)DSM-5 (300.14 – Dissoziative Identitätsstörung)
DefinitionBesitz von zwei oder mehr IdentitätenBesitz von zwei oder mehr Identitäten
IdentitätsswechselKlar definiert, inkl. Verhaltens-, Wahrnehmungs- und GedächtnisunterschiedeKlar definiert, Identitätswechsel beobachtbar oder berichtet
AmnesieUmfassender: betroffene Alltagsereignisse und persönliche InformationenBetrifft traumatische und alltägliche Ereignisse
Fremdsteuerung/KontrollverlustIdentitäten übernehmen Kontrolle über VerhaltenSubjektives Gefühl des Kontrollverlusts
Dissoziation und DepersonalisierungTeil der Diagnose (oft begleitend)Stärkerer Fokus auf Depersonalisation und Derealisation
Unterformen der DISPartielle DIS (6B65) erfasste mildere FälleOSDD-1 (Other Specified Dissociative Disorder) für mildere Fälle

Was versteht man unter OSDD-1?

OSDD-1 beschreibt Menschen, die dissoziative Symptome und Identitätsfragmentierungen erleben, aber nicht die vollständigen Kriterien der DIS erfüllen.

Es gibt zwei Untertypen:

  • OSDD-1a : Es gibt deutliche Identitätswechsel, aber keinen oder nur begrenzten Gedächtnisverlust (Amnesie) zwischen den Persönlichkeitsanteilen.
  • OSDD-1b : Es gibt Amnesie, aber die verschiedenen Identitäten sind weniger ausgeprägt oder nicht so stark voneinander getrennt wie bei der klassischen DIS.

Im ICD-11 gibt es die Diagnose „Partielle dissoziative Identitätsstörung (6B65)“, die ähnliche Kriterien wie OSDD-1 erfüllt.


Wissenschaftliche Debatte:

Es gibt eine laufende Debatte darüber, ob die Dissoziative Identitätsstörung wirklich existiert, wie sie entsteht und ob sie nicht teilweise durch Therapie, Medien oder gesellschaftliche Erwartungen „verstärkt“ oder sogar „geschaffen“ wird. Die „Pro-DIS“-Seite argumentiert, dass neurowissenschaftliche Studien veränderte Hirnaktivitäten bei Menschen mit DIS im Vergleich zu gesunden Menschen oder anderen psychischen Störungen zeigen. Tatsächlich aber wurden diese veränderten Hirnaktivitäten auch bei der chronifizierten PTBS und bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung nachgewiesen. Im Folgenden zeige ich die Gemeinsamkeiten im Gehirn von DIS, BPS und kPTBS (früher chronische PTBS):

  • Verkleinerte Amygdala und Hippocampus: Diese Regionen sind für Angst und Gedächtnis wichtig. Menschen mit kPTBS, BPS und DIS haben oft einen kleineren Hippocampus, was mit Dissoziation und Trauma verbunden sein könnte.
  • Hyperaktive Amygdala: Emotionale Reize werden außerordentlich intensiv verarbeitet – das erklärt die extremen Emotionen und Flashbacks.
  • Schwächere Verbindungen zwischen Amygdala und präfrontalem Kortex: Die Fähigkeit, Emotionen zu regulieren, ist bei allen drei Störungen beeinträchtigt.

Das bedeutet: Man sieht Unterschiede im Gehirn – aber sie sind sich so ähnlich, dass es nicht klar ist, ob DIS wirklich eine eigene Störung ist oder nur eine extreme Form von Borderline oder kPTBS.

Die Hauptschwierigkeit, die ich bei der Diagnostik einer DIS ausmache, ist, dass sie vor allem auf der Selbstwahrnehmung und den Schilderungen der betroffenen Person sowie auf Verhaltensbeobachtungen von Therapeuten beruht. Es existiert kein objektiver biologischer Test (wie ein Bluttest oder Hirnscan), der das Vorhandensein der Störung eindeutig nachweisen könnte. Die neurologischen Überschneidungen von DIS mit PTBS und BPS deuten darauf hin, dass die Störung möglicherweise kein eigenständiges Krankheitsbild darstellt, sondern eine extreme Form von Trauma-Dissoziation sein könnte. Die Unterschiede zwischen EEG- und fMRT-Studien sind zwar interessant, aber nicht hinreichend eindeutig, um als Beweis für die Existenz mehrerer Identitäten zu gelten. Auch neurologische Veränderungen reichen nicht aus, um eine DIS von PTBS mit stärkerer Dissoziation oder BPS zu differenzieren.

Selbstauskunft und Verhalten sind ebenfalls die Grundlagen neuropsychologischer Tests. Es ist möglich, dass Personen, die sich intensiv mit der Diagnose auseinandersetzen, die Testergebnisse gezielt beeinflussen.

Ich bin im Laufe der Jahre bereits auf die Studie von Yolanda Schlumpf eingegangen. Diese Studie stammt aus dem Jahr 2014 und untersuchte die Hirnaktivität von DIS-Betroffenen mittels funktioneller Magnetresonanztomografie. Damals schrieb ich:

Es gibt durchaus Möglichkeiten der bewussten Manipulation. Im Folgenden gehe ich auf einige davon ein:

Manipulationsmöglichkeiten
1. Gedächtnistests:
→ Die betroffene Person könnte gezielt „vergessen“, was sie zuvor gelernt hat, um Amnesie zu simulieren.
→ Sie könnten bewusst inkonsistente Antworten geben, um den Eindruck getrennter Identitäten zu verstärken.
2. Handschrift-Tests:
→ Eine Person könnte ihre Handschrift bewusst verändern, um verschiedene Identitäten vorzutäuschen.
3. EEG- und fMRT-Untersuchungen:
→ Da diese Tests auf mentalen Zuständen basieren, könnte sich eine Person gezielt in einen anderen Zustand versetzen (z. B. sich entspannen oder innerlich eine andere Stimmung annehmen), um unterschiedliche Gehirnaktivitäten zu erzeugen.
4. Psychophysiologische Tests (Herzrate, Hautleitfähigkeit):
→ Eine Person kann sich bewusst emotional in eine andere Lage versetzen, um physiologische Reaktionen zu verändern.

Zusätzlich zur gezielten Manipulation kann es auch zu einer unbewussten Verstärkung der Symptome kommen – häufig aufgrund jahrelanger Auseinandersetzung mit der Diagnose. Dasselbe beobachten wir bei den meisten Betroffenen, die sich online präsentieren. Es ist tatsächlich bewiesen, dass Betroffene, die sich intensiv mit DIS auseinandersetzen, sich auf eine Rolle festlegen und so konditionieren können, dass sie in Tests „glaubhaft“ unterschiedliche Identitäten zeigen.

Es existiert auch eine soziale Verstärkung: Je mehr Aufmerksamkeit und Bestätigung eine Person für ihre Symptome bekommt, desto wahrscheinlicher ist eine Intensivierung (dies ist besonders in Online-Communitys belegt). Schließlich sind auch die Erwartungshaltungen vieler Trauma-Therapeuten nicht zu unterschätzen, da sie dazu führen können, dass Betroffene sich in ihr Krankheitsbild hineinsteigern, um die Anerkennung der Therapeut:Innen zu erhalten.

Einige Therapeut:Innen verwenden Methoden wie gezielte Fragen nach „anderen Persönlichkeiten“ oder Traumaregression. Dies kann dazu führen, dass Betroffene dissoziative Symptome entwickeln. In einigen Fällen entwickeln Menschen nach jahrelanger Therapie plötzlich DIS-Symptome, obwohl sie zuvor keine hatten. Das Problem wird durch soziale Medien verstärkt. Stereotypen über DIS verbreiten sich durch TikTok, YouTube und Foren, und Betroffene können diese übernehmen.

Bedeutet das, dass es die Dissoziative Identitätsstörung nicht gibt?

Nein. Einige Menschen leiden tatsächlich unter schweren Dissoziationen und Identitätsstörungen. Aber: Die üblichen Diagnosekriterien sind nicht ausreichend eindeutig, um echte potenzielle Fälle von Fehldiagnosen oder Manipulationen zu unterscheiden. Da es derzeit keine klaren neurologischen Tests gibt, bleibt die Diagnose umstritten und kann leicht zu Fehldiagnosen oder absichtlicher Manipulation führen.


Fazit:

Ob DIS tatsächlich als eigenständige Störung oder eher als eine schwere Form von traumainduzierter Dissoziation zu betrachten ist, ist unter den Wissenschaftlern umstritten. Zukünftige Studien sollten größere Stichproben einbeziehen, um zu bestimmen, ob die Unterschiede zwischen den Identitäten auch in unbewussten Hirnprozessen bestehen oder eher durch bewusste Kontrolle beeinflusst werden.

Es sei nicht vergessen:

Die Dissoziative Identitätsstörung ist nicht nur ein wissenschaftlich umstrittenes Krankheitsbild, sondern auch Teil eines problematischen Kontexts (RG-MC), in dem einige Therapeuten und Organisationen von ihr profitieren – oft zum Nachteil der tatsächlich Betroffenen.
In meinem folgenden Artikel werde ich das behandeln.


Zum Weiterlesen:

2 Kommentare

  1. Liebe Stella,
    vielen Dank für diesen sehr interessanten Artikel.

    Du schreibst, dass deiner Meinung nach, gestützt durch deine eigenen Erfahrungen, eine Form der DIS existiert – aber auch, dass dies nur eine subjektive Einschätzung ist.
    Ich schätze deine Arbeit sehr, frage mich an dieser Stelle aber, ob „Ich weiß, wie ich vor 20 Jahren war, das passt zur DIS“ nicht als anekdotische Evidenz gewertet werden müsste.

    In gewissen Kreisen hört man ja immer wieder von „struktureller Dissoziation“. Ich muss feststellen, dass deine Gedanken zu den Zusammenhängen zwischen BPS, kPTBS und DIS in eine sehr ähnliche Richtung gehen.
    (Der entsprechende Wikipedia-Artikel sortiert die Erkrankungen sogar in einzelne „Stufen“ von Dissoziation. Vertreter dieser Theorie würden eine DIS also vermutlich auch als Extremform der kPTBS klassifizieren.)
    Die eigentliche Frage ist ja aber, ob eine DIS wirklich traumatogen ist. Die von dir zitierte Studie, die ähnliche Hirnaktivitäten aufzeigt, scheint das in Kombination mit der beschriebenen Theorie nahe zu legen? Was ist deine Einschätzung dazu? Was hältst du von der Implikation, dass kPTBS und BPS auch „Traumafolgestörungen“ sind?

    Die Punkte, dass eine Differenzierung erschwert und die Diagnostik nur über Selbstwahrnehmung/Außenwahrnehmung möglich ist, sind definitiv wichtig. Das könnte man als DEN Knackpunkt der Psychologie bezeichnen, der sich nicht nur in Sachen DIS zeigt: welche psychiatrische Diagnose wird denn nicht über Schilderungen der Patienten und Einschätzung der Behandler gestellt? Warum den Fokus hier nur auf die DIS legen und nicht „weiter verbreitete“ Erkrankungen wie Depressionen o.Ä. betrachten? Oder die Borderline-Störung?
    Denn wenn wir einmal festgestellt haben, dass Selbst- und Außenwahrnehmung keine validen Kriterien darstellen, wäre es nur sinnvoll, im nächsten Schritt den ganzen DSM und wie das alles heißt abzuschaffen.
    Ansonsten wäre die Frage, wie man valide Diagnosekriterien definiert – die von dir beschriebenen Hirnscans scheinen ja leider nicht ausreichend zu differenzieren und wären für alle psychiatrischen Erkrankungen auch nicht wirtschaftlich.

    Du schreibst, dass es bewiesen ist, dass die intensive Auseinandersetzung mit diesen Themen zu einer Selbstkonditionierung und glaubhaften Präsentation führen. Hier wäre ich sehr erfreut, wenn du mir eine Quelle zukommen lassen könntest!
    Was ich persönlich auch interessant finde: das Verbreiten von Symptomen und Stereotypen über das Internet ist ja ein Phänomen, das auch in anderen Themenfeldern präsent ist. Siehst du diese Gefahr auch in der transgender-Debatte und den steigenden Zahlen von selbsternannten Betroffenen?

    Mit besten Grüßen!

    1. Hallo Peter,

      Du fragst mich:

      Ich schätze deine Arbeit sehr, frage mich an dieser Stelle aber, ob „Ich weiß, wie ich vor 20 Jahren war, das passt zur DIS“ nicht als anekdotische Evidenz gewertet werden müsste.

      Ja, natürlich. Das ist der Vorteil an einer rein privaten Seite: Hier dürfen auch solche Aussagen getätigt werden. Ich schreibe sehr oft über meine rein persönlichen Ansichten und Erfahrungen.

      Trotzdem hast du natürlich recht, wenn du in genau dem Moment Quellen forderst, wenn ich über etwas Erwiesenes schreibe. Ich bin vorhin auch dabei gewesen, Quellen herauszusuchen. Möchte aber lieber einen extra Artikel darüber schreiben (mit Quellen) – das ist nämlich ein wirklich hochspannendes und sehr komplexes Thema. Ich werde in dem Artikel dann auf deinen Kommentar hinweisen.

      Das Konzept der strukturellen Dissoziation ist im Übrigen nicht so schlecht. Schlecht ist, was die Traumatherapeuten aus dem Netzwerk daraus machen und wofür es eingesetzt wird.

      Und jetzt noch zum Thema Trauma:

      Du stellst in Frage, ob die DIS wirklich traumatogen ist. Nicht grundsätzlich. Zumindest muss die Ursache nicht immer aus sexuellem Missbrauch bestehen. Ansonsten muss man sich fragen, was man unter Trauma versteht. Auch Vernachlässigung kann traumatisch erlebt werden. Es hat auf jeden Fall Gründe, wieso sich keine identitäre Kohärenz entwickeln kann. Das Selbe trifft auch auf BPS zu.

      Bei den Betroffenen aber, wo Traumata vorliegen, sind die Unterschiede im Gehirn sehr ähnlich: bei der PTBS, bei BPS und bei DIS.

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