Es ist schon sehr lange geplant über das Thema Regression im Allgemeinen und maligne Regression im Besonderen zu schreiben, also eine psychische Reaktion und/oder Störung, die in der DIS-Gemeinschaft weit von sich gewiesen wird.
Bisher kamen stets andere Themen dazwischen, die mir wichtiger erschienen, nun aber, nachdem die GWUP über die tragischen Vorfälle in der Schweizer Klinik berichtete, siehe:
… ist es mittlerweile dringend notwendig, neben dem Thema der therapeutischen Suggestion auch das Thema der Regression aufzugreifen. Konkret im Zusammenhang mit der Dissoziativen Identitätsstörung und Satanic Panic.
Wie man dem Artikel der GWUP entnehmen kann, wurde auf Grund der Vorfälle im Schweizer Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) ein Gutachten beantragt. Dieses Gutachten – erstellt von PD Dr. med. Thomas Maier, ärztlicher Direktor der Psychiatrie St. Gallen Nord – liegt nun vor:
Ich zitiere folgende Aussage, die bereits zum Ausdruck bringt, wie sehr die Geschehnisse auf den Stationen 26 und 27 außer Kontrolle gerieten:
„Nach der Eröffnung der KDA-Ambulanz kamen ab 2018 allmählich immer mehr, immer
schwierigere Borderline-Patientinnen (darunter viele mit der Diagnose DID, vgl. oben sowie
unten 4.3.4) mit hochsuizidalen Krisen auf diese beiden Stationen. In der Zeit von 2018 bis
heute haben sich auf diesen beiden Stationen Dutzende, teils schwere Suizidversuche und
Selbstverletzungen ereignet. Zwei junge Patientinnen sind seit 2019 durch Suizid auf der
Station 26 verstorben, eine weitere Patientin mit einer schweren Anorexie verstarb ebenfalls auf der Abteilung. Es gab zeltweise praktisch täglich Notfallsituationen mit schweren suizidalen Handlungen, entweichenden hochsuizidalen Patientinnen, die dann in letzter Sekunde von Brücken, Bahngeleisen oder Baukranen geholt werden mussten,
Pflegefach-Personen angriffen und teilweise erheblich verletzten.Diese Behandlungen waren fachlich außer Kontrolle und es fehlte an kompetenten Vorgesetzten, die erkannten, welche dysfunktionalen Mechanismen sich um diese Patientinnen abspielten.
Am xxxxx verübte z.B. eine der DID-Patientinnen einen Tötungsversuch an der Sitzwache. Die Patientin selbst bestätigte ihre Tötungsabsicht ausdrücklich.“
Gutachten, ebd., S. 23
Der Gutachter beschrieb im Folgenden, dass es stellenweise bis zu 6/7 Fixierungen pro Nachtschicht gab und dass die Teams der beiden Stationen in sinnlose „Suizid-Grabenkämpfe“ geschickt wurden, bei dem es nur Verlierer gab. Laut all dieser Beschreibungen war der Ablauf auf diesen Stationen jahrelang ein Desaster für Patienten und Pflegepersonal. Den Patienten, so schrieb Dr. Thomas Maier weiter, wurde ein Agierfeld für schwere Regressionen geboten, und damit komme ich zum Haupt-Thema meines Artikels:
Regressionen im Allgemeinen und die Förderung von maligner Regression
Eingangs habe ich erwähnt, dass sich die DIS-Gemeinschaft, also die Betroffenen, die überzeugt sind, satanisch missbraucht worden zu sein, von der Regression resolut distanzieren. Vor allem wegen einer oft gebräuchlichen Definition, in der es heißt, dass man durch Regression als Erwachsener in eine bereits überwundene kindliche Entwicklungsphase zurückfalle.
So schrieb eine Betroffene u.a., dass die Innenkinder bei einer DIS genauso alt seien, wie sie auch damals waren, als ihnen das Trauma passierte. Sie betonte, dass diese Innenkinder niemals älter gewesen sind. Wenn sie im Außen sichtbar auftauchen, fallen weder sie, noch die erwachsene Außenperson irgendwohin zurück. Siehe Absatz:
Ihre Wortwahl am Ende ihres Beitrages und auch die Wortwahl der KommentatorInnen lässt vermuten, dass sie bereits sehr oft von Therapeuten auf das Thema Regression angesprochen worden sind. Leider werden genau diese Therapeuten von allen Diskussions-Beteiligten als unwissend, inkompetent und unfähig betrachtet. Das Bild, was bestimmte Traumtherapeuten über die Dissoziative Identitätsstörung gezeichnet haben, hat Wurzeln geschlagen. Siehe: Wissenschaft auf Irrwegen
Es ist für die Betroffenen glaubwürdiger, wenn jemand sagt, Multiple können Augenfarbe, Hautfarbe und schwere Krankheiten wie Krebs je nach Persönlichkeitsanteil wechseln, als wenn man sagt, man fällt in eine bereits überwundene kindliche Entwicklungsphase zurück?
Ich möchte kritisch anmerken, dass ich leise Zweifel hege. Es sind keine Newbies, die sich gegen Regression auflehnen und behaupten, es gäbe kein Zurückfallen. Es sind Personen, die sich seit etlichen Jahren intensiv mit sich selbst und dem Thema rund um die Dissoziative Identitätsstörung befassen. Und vor allem: es sind keineswegs dumme Menschen, im Gegenteil. Den meisten Betroffenen würde ich durchaus einen hohen IQ bescheinigen.
Wenn ich die Betroffenen wörtlich nehme, dann muss man tatsächlich annehmen, im Körper leben viele Personen. Wie sonst könnte es sein, dass Kinder immer und jederzeit Kinder sind, auch dann, wenn die Erwachsenen erwachsen auftauchen.
Zu Gunsten der Betroffenen nehme ich an, dass hier eine Form der Leugnung vorliegt, weil man befürchtet, nicht ernst genommen zu werden. Unter einer Alters-Regression verstehen die allermeisten Menschen einen Zustand, in dem man sich kindisch fühlt und entsprechend auftritt. Sie unterschätzen die Macht der Regression, die es selbstverständlich auch in einer unterschiedlichen Form und Abstufung gibt.
Ein konkretes Beispiel für eine klassische Altersregression sind Kleinkinder, die es bereits gelernt haben, die Ausscheidungen unter Kontrolle zu behalten. Kommt ein Geschwisterchen dazu, kann es passieren, dass das erste Kind regrediert und erneut damit beginnt, einzunässen oder am Daumen zu lutschen. Diese Kinder tun dies nicht bewusst und willentlich. Es ist eine Flucht aus einer Situation, die als überfordernd und angstmachend erlebt wird.
Und genauso ist es auch bei Menschen, die rein biologisch erwachsen sind. Regredieren sie, kann es passieren, dass sie auf das, was sie als Erwachsene gelernt haben, nur sehr bedingt zugreifen können.
Auch können sich motorische oder gar dermatologische Erscheinungsformen dem Alter anpassen, in welches man geflüchtet ist. Ich kenne persönlich eine Betroffene, die sich lange Zeit in einem Pubertätsalter befand, woraufhin sie Pubertätspickel und stellenweise sogar eine Pubertätsakne entwickelte. Diese ging zurück, nachdem sie wieder aus der Regression fand. Leider ist sie unmittelbar danach in eine neue – dieses Mal kindliche – Regression gerutscht und verlor somit auch den Zugang zu den erwachsenen Fähigkeiten.
Was sie in den Jahren der stationären Therapie durchlebte, war eine überaus schädliche, also maligne Regression, die die zugrundeliegende identitäre Inkohärenz und Dissoziation verstärkte und tatsächlich eine formvollendete Dissoziative Identitätsstörung erzeugte / manifestierte!
Der Erfahrungsbericht der Betroffenen liegt mir vor. Ich komme zu einem anderen Zeitpunkt und in einem anderen Artikel darauf zurück.
Um noch einmal auf den oben verlinkten Blogartikel einzugehen, so schrieb eine Kommentatorin unter anderem, dass sich die Innenkinder, die zuvor nicht mal für sie selbst erlebbar gewesen waren, bei ihr erst in der Therapie gezeigt hätten. Sie schrieb weiter, dass die Therapeutin die Kinder willkommen hieß, und diese sie dafür liebten, dass sie den nächsten Termin kaum abwarten konnten und jeder Therapiestunde entgegenfieberten (Quelle).
Auch hier möchte ich erneut den Bogen zum Gutachten von Thomas Maier spannen und zitiere:
„Bei den Patientinnen dieser Gruppe handelt es sich allesamt um schwer kranke, jüngere
Frauen….… Alle haben schwierige Lebensgeschichten mit Vernachlässigung, emotionaler Deprivation und Traumatisierung. Auf diesem Hintergrund haben alle diese Patientinnen tiefgreifende Bindungsstörungen, d.h. sie können sich nicht gut auf vertrauensvolle Beziehungen einlassen, was wiederum die therapeutischen Möglichkeiten einschränkt. So sind alle diese Frauen zwar mehr oder weniger ständig und intensiv mit Therapeutinnen und Institutionen des Gesundheitswesens im Kontakt, dennoch finden eigentlich überweite Strecken keine wirksamen und hilfreichen Therapien statt.
Das hat damit zu tun, dass sie sich — wegen Ihres Misstrauens und Ihrer Beziehungsstörung— nicht gut auf längere, tragende Beziehungen einlassen können, sondern typischerweise vor allem im Krisen-/Notfallmodus In Beziehung treten oder in starke Abhängigkeitsverhältnisse geraten…
… Sie «lernen» so, durch dysfunktionalen Handlungen intensiv in Beziehung mit Fachpersonen zu treten und jeweils innerhalb kurzer Zeit höchste Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen. Das stabilisiert sie kurzzeitig, blockiert aber zugleich eine therapeutische Entwicklung. Da stets nur auf die momentane Dramatik reagiert wird, bleibt eine tiefere Bearbeitung der Probleme auf der Strecke.“
Gutachten, ebd., S. 23
Man könnte fast meinen, Dr. Thomas Maier beziehe sich auf die Betroffene, auf deren Kommentar ich zuvor einging, denn diese Betroffene schrieb im Weiteren: »Ein wie auch immer gearteter Abbruch der Therapie wäre gefühlt einer totalen Vernichtung einiger Innens gleichgekommen.« (Quelle)
Fazit:
Auch hier in Deutschland werden PatientInnen offensichtlich in schwere Regressionen und Abhängigkeiten hinein geleitet. Ziel einer Therapie sollte allerdings genau das Gegenteil sein: nämlich die Stabilität, alleine in der realen Welt zurecht zu kommen. Das Problem ist, dass die Therapeuten und Kliniken, die die Regressionen und Spaltungen fördern, explizit von den PatientInnen gesucht und andere seriöse Therapeuten abgelehnt werden.
Ian Hacking nennt diesen geschlossenen Kreis von TherapeutInnen und PatientInnen „Subkultur“. Dr. Thomas Maier schreibt über diesen Kreis (und den satanischen Kult-Erlebnissen):
„Zwar existieren ohne Zweifel schwere sexuelle Missbräuche in und außerhalb von Familien, Menschenhandel, Entführungen, Stalking, Überwachungstechniken, kriminelle Organisationen etc, und zahlreiche Menschen werden Opfer solcher Phänomene. Aber die Geschichten dieser Patientinnen muten an wie Requisiten, die aus obskuren Quellen des Internets, aus schlechten Filmen und anderen Schauergeschichten zusammengemixt wurden. Zu ähnlich sind sich auch die Angaben der Patientinnen und zu schematisch erscheinen die Profile der unfassbaren Täter. Einige dieser Patientinnen des PZM sind mitunter auch in anderen Kliniken hospitalisiert worden, wo man statt «dissoziative Identitätsstörung» jeweils «Pseudologia phantastica» diagnostizierte», was wohl die angemessenere Einschätzung darstellt. Es entsteht der Eindruck, dass der Glaube an raffinierte Tätergruppen die feste Überzeugung einer «Schule» von Therapeutinnen ist…“
Gutachten, ebd., S. 30
Eine harte Einschätzung … scheint es auf den ersten Blick zu sein. Auf den zweiten Blick aber eine traurige Realität.
Was ich sehe ist das, was auch Dr. Maier beschreibt: Die involvierten Therapeuten und Kliniken sind nicht in der Lage, die Verläufe als «negative therapeutische Reaktion» oder «maligne Regression» zu durchschauen und aufzufangen (ebd., S. 24).
In der Schweiz ist die Blase geplatzt. Was passiert in Deutschland, wenn sich die Blase öffnet? Was kommt dann zum Vorschein?
Auf dem oben verlinkten privaten Blog schrieb eine Kommentatorin, dass der Blog für alle Therapeuten Pflichtlektüre sein sollte (Quelle).
Genau das ist die Realität in Deutschland: Therapeuten behandeln nicht die PatientInnen, sondern sie werden von PatientInnen geschult, wie sie – die PatientInnen – gerne behandelt werden möchten. Wo und bei wem – bzw. bei welcher Ursprungstherapeutin – diese destruktive Spirale ihren Anfang nahm, wurde hier auf unserer Webseite bereits sehr oft thematisiert.
Im Gutachten von Dr. Maier kann man lesen, dass nicht nur die PatientInnen in (Lebens-)Gefahr gewesen sind, sondern auch die Fachleute, u.a. auch das Pflegepersonal der Kliniken. Die Gefahr ging aber nicht etwa von irgendwelchen Kult-Täterkreisen aus, sondern von PatientInnen, die mit unseriösen Therapien derart destabilisiert wurden, dass für alle Beteiligten Gefahr für Leib und Leben bestand.
Den Regressions-Artikel von der Betroffenen habe ich bereits vor knapp einem halben Jahr gesehen. Ich habe die Inhalte niemals öffentlich thematisiert, weil ich keinen verletzen wollte. Hier in dem speziellen Fall muss ich sogar hinzufügen, dass ich die Autorin eigentlich – ganz allgemein – gerne lese.
Nun aber ist mir endgültig bewusst geworden, dass die Rücksichtnahme eine Form der Mittäterschaft ist, wenn man genau weiß, wohin das Ganze führen kann. Es geht nicht „nur“ um die Gesundheit, sondern um Menschenleben.
Zum Weiterlesen:
- Wie sieht es mit der Verbreitung der These um Mind Control in Deutschland in Kliniken, Publikationen etc. aus? Welche Lehren müssten aus der Tragödie in der Schweiz gezogen werden? Nora hat dazu einen Beitrag verfasst.
Zum Informieren:
- Theorien über Altersregression und Trauma (engl.)
- Maligne Regression bei Jugendlichen in der geschlossenen stationären Arbeit (die Psychiatrie in Schwerin beschreibt die Regression und auch die maligne Regression sehr präzise – dies auch im Klinikalltag = Gefahren und Lösungen)
- Mathias Lohmer, Borderline-Therapie: Psychodynamik, Behandlungstechnik und therapeutische Settings, S. 155 – siehe folgender Bild-Auszug:
- Insgesamt ist das soeben erwähnte Buch von Lohmer empfehlenswert, weil er in mehreren Kapiteln sehr ausführlich auf die Vorteile einer Regression und die Gefahren – vor allem bei schwertraumatisierten Patienten – einer malignen Regression eingeht.
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