Einzelfall als journalistischer Gradmesser

Autorin: Nora Sillan

Worum es im gestrigen Artikel der taz über rituelle Gewalt geht, ist dem Lead des Textes zu entnehmen: „Manche zweifeln ihre Existenz an. Doch Julia Winter nicht. Sie hat sie erlebt.“ Demgegenüber stehen – so kristallisiert sich im weiteren Verlauf des Berichts heraus – „Vereine, Journalisten und Einzelpersonen, die rituelle Gewalt für nicht existent halten.“ (ebd.)

Das, was die Autor_innen unter ritueller Gewalt subsumieren, wird gleich zu Beginn klargestellt – und dabei explizit u.a. „satanistische Gruppen“ genannt: als Faktum und ohne kritisch zu hinterfragen.

Analysiert man den Artikel der taz, soll es jedoch um keine Glaubwürdigkeitsdiskussion der Interviewpartnerin gehen, sondern um ein Grundprinzip: Die taz scheint in ihrer Argumentation etwaigen Kritikern prophylaktisch den Wind aus den Segeln nehmen zu wollen, wenn der Pressekodex mit den ethischen Standards für Journalismus verlinkt wird – und auf das Dilemma hingewiesen wird: „In diesem Text stehen also ein Stück weit journalistische Sorgfaltspflicht gegen den Schutz der Betroffenen. Die Redaktion hat sich für den Schutz der Betroffenen entschieden, denn es gibt Hinweise und Belege, die Winters Erzählung stützen.“ (ebd.) Als Hinweise und Belege sind u.a. ihr Schulzeugnis mit vielen Fehlstunden (aber guten Noten) sowie ein altes Haushaltsbüchlein genannt.

Fehlende Quellenanalyse

Der Artikel berichtet auch über die Sendungen des SRF, den vom Schweizer Kanton Thurgau in Auftrag gegebenen Untersuchungsbericht und die personellen Konsequenzen an der Klinik:

Der Oberarzt verlor darauf seinen Job. Die Chefärztin der Klinik wurde freigestellt. Im Januar 2023 strahlte das SRF die dritte Dokumentation über das Thema aus. Auch Julia Winter hat oft erlebt, dass ihr nicht geglaubt wird.“ (ebd.)

Dass die – sehr eindeutigen – Ergebnisse des Expertengutachtens mit keinem einzigen Wort erwähnt werden, fällt auf. Allerdings springt der allgemeine Aufbau des Artikels noch mehr ins Auge: Schilderungen einer Interviewten werden als Gradmesser (um nicht zu sagen: Richtschnur) gewählt, dem alles andere untergeordnet bzw. in deren Erfahrungswelt eingeordnet wird:

Der Bericht der taz ist rund um diese Einzelfallschilderung aufgebaut, die als roter Faden durch den Artikel führt und anhand derer die anderen Quellen eingeordnet werden. Nicht umsonst wird nach der Schilderung der Ereignisse in der Schweiz (mit einer Zwischenüberschrift) gleich wieder auf die Interviewpartnerin übergeleitet: Auch sie habe erlebt, dass ihr nicht geglaubt wird. Worauf bezieht sich das Adverb „auch„? Auf den vorhergehenden Satz? Die Wortbedeutung von „auch“ als Adverb liegt bei „ebenfalls“ bzw. „genauso“. Damit wären wir rein textanalytisch beim Oberarzt, der seinen Job verloren hatte. Wird hier mit dem Wort „auch“ eine bewusste Verbindung hergestellt? Oder soll es bloß eine emotionale Art der Satzverbindung sein, um den journalistischen roten Faden zu finden?

Etwas weiter unten im Text findet sich diese Art der Argumentation erneut. Wiederum werden kritische Positionen angerissen (und hier liegt die Betonung wirklich auf angerissen, denn zu einer umfassenden Würdigung der Sichtweisen kommt es nicht):

Auch in Deutschland gibt es Vereine, die erklären, rituelle Gewalt sei ein längst widerlegtes Konstrukt aus den USA, das von einigen Psychotherapeut:innen kultiviert werde. „Satanic Panic“ ist so zu einem Stichwort geworden. Das beschreibt die Angstmacherei insbesondere vor ritueller Gewalt durch Satanist:innen, für die es keine Anhaltspunkte gebe.“

Die Name der GWUP fällt – und direkt danach wird erneut die Interviewpartnerin zitiert:

Für Julia Winter ist all das schwer zu ertragen. „Es bedrückt mich, wenn rituelle Gewalt als Verschwörung abgetan wird“, sagt sie. Das sei „ein Totschlagargument“.“ (Quelle: ebd)

Alles auf eine Einzelfallschilderung rückzubeziehen, ist ebenfalls ein Totschlagargument. Und über Kritiker der Verschwörungstheorie von „ritueller Gewalt-Mind Control“ in den Raum zu stellen, sie würden Formen der organisierten Gewalt in Abrede stellen, widerspricht nicht nur den Fakten, sondern überschreitet bereits die Grenze zur Unterstellung.

Verweis an Experten

Die beiden Journalisten der taz traten im November 2022 mit einer Interviewanfrage an uns, (Marvel Stella und mich) heran, da sie sich – wie sie schrieben – nach Veröffentlichung eines Interviews mit Kritik konfrontiert sahen und einen Artikel planten , in dem es um die Kontroverse gehen soll. Wir verwiesen das Journalistenteam an die Gutachter des Schweizer Untersuchungsberichts, an den forensischen Psychiater Prof. Dr. Frank Urbaniok und an die GWUP, die allesamt Experten zu diesem Thema sind.

Ob Stellungnahmen von Experten in den Artikel eingeflossen sind, ist nicht bekannt. Zudem ist folgende Überlegung fraglich: Was möchte der Artikel der taz bezwecken? Eine Reportage über eine Betroffene, die von ritueller Gewalt berichtet? Oder ein Nachfolgeartikel zum bereits erwähnten Interview, in dem Martina Rudolph über anhaltende Tätergefahr sprach?

Wie eine ausgewogene Berichterstattung, in dem alle Meinungen zum Thema einen gleichberechtigten Platz haben, wirkt der Artikel jedoch nicht.

Birgit Schmid, Journalistin der NZZ schrieb vor einem Jahr über den journalistischen Umgang mit der Thematik satanistisch-ritueller Gewalt und die diesbezügliche Verantwortung der Medien:

Verbreiten sie unhinterfragt Geschichten über organisierte sexuelle Gewalt an Kindern, wozu auch Berichte über satanistische rituelle Gewalt gehören, kursieren diese bald in Verschwörungstheoretiker-Kreisen. (…) Der Umgang mit Erzählungen über sexuellen Missbrauch bleibt eine Gratwanderung. Niemand will das reale Leiden einer Person verleugnen. Dennoch müssen Medien auch Erinnerungen an schlimmste Verbrechen, für die es keine Belege gibt, mit einem Vorbehalt versehen. Journalisten und Journalistinnen sind keine Co-Therapeuten. Diese Rolle kommt ausschliesslich Psychologinnen und Psychiatern zu.

Quelle: „Sexueller Missbrauch: Dürfen Journalisten Opferberichte infrage stellen?“ – Neue Zürcher Zeitung, 7.2.2022

Dem bleibt nichts mehr hinzuzufügen. Außer ein dringender Appell an eine unparteiische Ausgewogenheit der Berichterstattung.

Ein weiterer Beitrag zu dem Thema wurde von Marvel Stella verfasst. Siehe:
Ist der TAZ-Artikel bereits fahrlässig?

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