Autorinnen: Marvel Stella und Nora Sillan
In einem jüngst veröffentlichten Fachartikel ordnen Prof. Jörg M. Fegert (Universitätsklinikum Ulm und u.a. Fachbeirat der UBSKM) und Prof. Frank Urbaniok (deutsch-schweizerischer forensischer Psychiater) die polarisierte Debatte rund um rituelle Gewalt ein. Der Text orientiert sich am Patientenwohl, plädiert für Evidenzbasierung in Wissenschaft und Praxis und versucht die entstandenen Gräben zu überbrücken. Denn: „Solche Lagerbildungen und vorschnellen Zuordnungen verhindern die notwendige fachliche Debatte und machen gleichzeitig aus einzelnen Aspekten im Opferschutz fast schon „Glaubenskriege“. Das schadet allen.“ (S. 1)
Aus diesem Grund positionieren sich die beiden Experten gemeinsam, die nach eigenen Angaben „in der aktuellen Debatte um das schlecht definierte Phänomen ritueller Missbrauch möglicherweise unterschiedlichen Lagern zugeordnet werden“ (S. 2). Ihr Ziel ist es, dieses Thema umfassend und differenziert jenseits von Lagerbildungen einzuordnen: ein überaus notwendiges und lange überfälliges Ziel, was jedoch, so unsere Befürchtung, nicht gelingen wird.
Wir stimmen den Autoren teilweise zu, wenn sie beim Thema rituelle Gewalt eine hoch emotional geführte Debatte und eine extreme Polarisierung orten (vgl. S. 3.) Wir stimmen ihnen jedoch nicht zu, wenn sie schreiben, dass „auch Beratungsangebote der UBSKM infrage gestellt und Projekte des BMSFJ angegriffen“ werden (vgl. ebd.). Um diese Aussage zu unterstreichen, ist ein Fußnotenverweis zu folgendem aktuellen Fachtext hinzugefügt: „Rituelle sexuelle Gewalt“ von Prof. Silvia Gubi-Kelm und Prof. Luise Greuel. In diesem Artikel aus dem Februar 2024 erfolgt eine sachliche Darstellung erwiesener Fakten und Vorfällen, die man auf Grund der Stellung beider Institutionen (UBSKM, Aufarbeitungskommission) inklusive Informationsseiten und Beratungsstellen ansprechen muss. Es schadet der wissenschaftlichen Debatte, wenn wir nicht bereit sind, die wesentlichen Sachverhalte offen auf den Tisch zu legen.
Im Laufe der letzten Jahre haben stichhaltige Belegen aufgezeigt, inwieweit die UBSKM und das BMSFJ das Narrativ der rituellen (satanistischen) Gewalt verbreiten und unterstützen. Dies zu benennen ist kein Angriff, ganz im Gegenteil: Mehrmals wurde vor allem die UBSKM – auch von Betroffenen einer Dissoziativen Identitätsstörung – gebeten, sich nicht daran zu beteiligen, eine Verschwörungstheorie inhaltlich zu untermauern.
Natürlich muss man auch Kompromisse eingehen, wenn man Brücken bauen möchte. Der Kompromiss darf aber nicht in einen „Kuhhandel“ ausarten. Stellt man stichhaltige und faktenbasierte Kritik an einflussreichen Institutionen als Angriff dar, wird deren Beteiligung verschleiert, was nicht etwaige Lagerbildungen auflöst, sondern die derzeitigen Hauptprobleme in Deutschland umschifft.
Wir betonen immer wieder: Es geht um Opferschutz und Opfer sind nicht „nur“ die Opfer von Falschtherapien. Fegert/Urbaniok beschreiben ebenfalls exakt dieses Spannungsfeld zwischen einerseits Menschen, die über rituelle Gewalt berichten bzw. Fachkräften, die mit solchen arbeiten, und andererseits der Position, dass es sich hierbei um induzierte, suggestiv erzeugte Falscherinnerungen handle, die zu Falschbeschuldigungen führen (vgl. S. 3). Es dürfte also nicht verwundern, dass wir uns vollumfänglich anschließen, wenn die beiden Autoren festhalten, dass die aktuellen Aufdeckungen von Fehlbehandlungen keine Gefahr für Missbrauchsopfer, Therapien oder Unterstützungsangebote darstellen – so wie in Fachkreisen öfters geäußert -, sondern dass die Gefahr vielmehr darin liegt, Problematiken zu tabuisieren. Diesbezüglich warnen Urbaniok und Fegert vor den Risiken einer mangelnden Aufarbeitung, die das Potenzial birgt, zu einem Rückschritt hinsichtlich wirksamer Therapien und Unterstützungsangebote zu werden (vgl. S. 3).
Lagerbildungen
Als abschließender „Ausblick“ schreiben Urbaniok und Fegert, es sei ihnen wichtig, dass man sich als Therapeut:in nicht Lagern zuordnen lässt, sondern unvoreingenommen das Anvertraute aufnimmt. „Wenn dabei“, so deren Worte, „von einer Verschwörung, einer mächtigen Elite und deren obskurer Praktiken berichtet wird, sollte die psychiatrische Anamnese sich auch intensiv mit dem Medienkonsum und der Infiltration über soziale Netzwerke beschäftigen“ (vgl. S.6).
Das wäre tatsächlich ein wünschenswertes Ziel. Wir haben allerdings massive Zweifel, dass dieses Ziel erreicht werden kann, denn seit Jahrzehnten sind vor allem (aber nicht nur) in Deutschland Therapeuten und Patienten gemeinsam in einem immer größeren Netzwerk aktiv, das die These der rituellen Gewalt stützt und verbreitet. Schon Ende der 1990er Jahre hat sich eine toxische Symbiose und Abhängigkeit zwischen den Beteiligten gebildet: ein lautloses Bündnis, das sich im Laufe der Jahre immer weiter festigte.
Mit Hilfe von Web Archive lässt sich – neben den eigenen Erfahrungen und Erinnerungen innerhalb der DIS-Szene – eine ganze Menge rekonstruieren. Oder um es mit den Worten von Tanja Schmidt zu sagen (Bericht über den ersten MPS-Kongress in Bielefeld vom Oktober 1994):
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„Hier waren sämtliche bekennenden »Multiplen« in Begleitung ihrer Therapeutinnen angereist und inszenierten vor Ort ein spontanes offensives coming out, dessen Aussprache vor einem Publikum von über 200 Frauen darin mündete, dass sich die Frauen einzeln bei ihren Therapeutinnen bedankten, dass sie von ihnen identifiziert worden waren.
Es drängte sich der Eindruck auf, dass jene den »sekundären Krankheitsgewinn« (Freud) hier mit ihren Klientinnen teilten bzw. um diesen konkurrierten, anstatt ihn aufzuklären.“„Der Gewinn auf TherapeutInnen-Seite schien – neben dem unmittelbaren Machterleben – die Erfüllung von Größenphantasien zu sein (sich als eine der wenigen zu erleben, die diese faszinierende Störung zu behandeln bereit sind) bzw. in dem Ausleben von – verblüffend patriarchal konzipierten – Mütterlichkeitsidealen, in deren Rahmen mit der Hingabe an die Versorgung (=Bemutterung) der vernachlässigten Kind-Persönlichkeiten in den Klientinnen nahezu sämtliche Axiome therapeutischer Ethik mit hinweggespült wurden.[…]“
„Das Symptom nicht mehr zu haben, sondern es zu sein, vermag die eingangs genannte Phantasie – gemeinsam – in Wirklichkeit umzuschaffen:
MPS – eine neue Frauenkrankheit aus dem Jahr 1997
wer daran teilhat, ist eine von vielen, ist Teil des Kollektivleibs. Die Massivität, mit der diejenigen, die einzeln bleiben, bekehrt werden oder abgewiesen werden müssen, gemahnt an Glaubenskriege.“
Es haben sich keine Lager gebildet, vielmehr wurden diese bereits vor Jahrzehnten festgelegt. Und jeder, der versuchte, diplomatisch Zweifel zu äußern, wurde in ein Lager gepresst, was oftmals mit psychischer Gewalt verbunden war.
Mittlerweile – und da schließt sich der Kreis – sind Anhänger der Verschwörungstheorie fest im Betroffenenrat der UBSKM verankert, nicht nur auf Bundes-, sondern auch auf Landesebene. Darum appellieren wir hier an dieser Stelle insbesondere an Prof. Jörg M. Fegert, sachliche Kritik an Tätigkeiten der Institutionen nicht als Angriff zu bewerten. Nur dann, wenn wir uns ehrlich und transparent begegnen, können wir die Lagerbildung vielleicht doch noch ein Stück weit auflösen.
Zum Weiterlesen:
Erster Gedanke zum Papier von Urbaniok und Fegert
Zu Beginn des Artikels steht: „Der fachliche Austausch und ethische Grundprinzipien in der Krankenbehandlung werden beschädigt und die epistemische testimoniale Ungerechtigkeit im Umgang mit Aussagen von Betroffenen, insbesondere wenn sie sich aufgrund psychischer Probleme in Behandlung begeben haben, wird verschärft (Tab. 1). „
Womit gemeint ist, dass manches aus Sicht der Beteiligten und Betroffenen oftmals anders ausschaut, als es allgemein wahrgenommen wird. Gleichwohl bleibt die andere Perspektive ihrerseits auch nur eine von möglichen Perspektiven. Dennoch geht es explizit darum, diese Perspektive überhaupt als eine gültige anzuerkennen. Was sich allerdings solange von selbst ausschließt, solange der Grund für einen gültigen Standpunkt fehlt, und der ist und bleibt der harte Fakt.
Kurz gefasst bedeutet das, dass dem Opfer im Zweifel geglaubt werden sollte. Dieser Grundsatz begegnet einem im Text wiederholt offen oder verdeckt. Demnach wären die Fakten weniger bedeutend, als die Gläubigkeit der Therapeuten an die Geschichte ihrer Klienten. – Nur ist es so, dass diese Geschichten weitgehend von den Therapeuten induziert wurden; diese folglich eigentlich ihrem eigenen Narrativ glauben schenken.
Zweiter Gedanken
Durch ein Gespräch mit Angelika Oetken auf X wurde ich wieder an die Ursprünge der Satanic Panic erinnert, bei denen neben korrupten Therapeuten vor allem christliche Sektierer treibende Kräfte waren, die sich großteils in der QAnon-Bewegung sammelten. Das bedeutet hinter der Erzählung vom rituellen-satanischen Missbrauch stecken ebenso rechts-links-radikale Weltverschwörer, die sich ebenso aus der Nie-Wieder-Bewegung als auch dem mit dem Gazakrieg aufflammenden Antisemitismus nähren; denn in beiden Blasen wird das Narrativ vom Kinder schlachtenden Juden verbreitet.
Faszit
In diesem Sinn ist das Papier von Urbaniok und Fegert noch bedenklicher. Es mutet zwar an, als sollte eine Brücke zu einer faktenbasierten Diagnostik und Therapie geschlagen werden, doch indem man um der Sache willen eine Aussöhnung verfolgt, bestätigt man den Beelzebub und nimmt ihn mit an Bord.
Der zu benennende Fakt wäre, die UBSKM und der UKASK (dem Fegert zugehört) irren; womit das Leiden der Betroffenen verfestigt wird: Es besteht keine faktische „epistemische testimoniale Ungerechtigkeit“.