Ein Exorzist und die DIS

Autorin: Marvel Stella; Mitarbeit Nora Silan

Der folgende Artikel stellt keine Kritik an der bisher erfolgten Aufklärung dar, sondern ist in erster Linie als Ergänzung zu verstehen.

Werbung und Reichweite

Dieses berühmte Zitat aus Goethes Faust bringt mein Dilemma präzise auf den Punkt. Einerseits möchte ich dem YouTuber „Nature23“ nicht noch mehr Reichweite einbringen, anderseits aber habe ich den dringenden Wunsch, die aufklärerischen Aktivitäten mit bestimmten Informationen zu ergänzen.

Mir ist bewusst, dass ich mich hiermit an einer Form der Publicity beteilige, die „Nature23“, alias Marcus B., in die Hände spielt. Genau das ist nämlich seit Mitte 2022 geschehen. 13 Jahren nach der Erstellung des Kanals verzeichnete der YouTuber „Nature23“ ca. 15 000 Abonnenten, diese sind in den letzten eineinhalb Jahren auf ca. 23.900 angestiegen.

Marcus B. hat jede einzelne Warnung, die von sehr großen und reichweitenstarken YouTubern – wie u.a. Kyzer (206 000 Abonnenten), Mazdako (198 000 Abonnenten) und DoktorFroid Reacts (472 000 Abonnenten) – ausgesprochen wurde, für seine Zwecke genutzt, sodass seine Bekanntheit massiv angestiegen ist. Diesen Warnungen und Aufklärungen haben sich einige Medienberichte angeschlossen, die Marcus B. die Möglichkeiten gaben, sich in endlosen Monologen manipulativ zu erklären, Sachverhalte zu verzerren – und im Endeffekt neue Abonnenten zu generieren.

Ich möchte damit nicht zum Ausdruck bringen, dass die Aufklärungsaktion kontraproduktiv ist. Nur würde ich mir wünschen, dass wir diese fatale Nebenwirkung im Auge behalten und „Nature23“ nicht mehr Bedeutung einräumen, als er tatsächlich hat.

Ist Nature23 ungefährlich?

Wenn ich nun sage, dass man diesem YouTuber nicht mehr Bedeutung einräumen sollte, als er tatsächlich hat, so beziehe ich mich damit auf gar keinen Fall auf das, was er Minderjährigen antut. Ich sehe hier eine sehr große Gefahr, vor allem auch, weil er sich oftmals in einer Grauzone bewegt, die man juristisch nur schwer belangen kann.

So berichtet u.a. Marvin Xin Ku in seinem SZ-Artikel „Teuflische Angst“ über die 15-jährige Amelie (Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert). Die umfangreiche Schilderung dessen, was Amelie zugestoßen ist, macht deutlich, warum Marcus B. vor allem für junge Mädchen eine so große Bedrohung darstellt.

Als überaus hilfreich betrachte ich in diesem Zusammenhang die Bemühungen der Hackeraktivistin Nella, die mit gezielten Aktivitäten herausgefunden hat, dass der YouTuber „Nature23“ Minderjährige kontaktiert und mit einem offensichtlich sexuell motivierten Interesse manipuliert. Mit dieser Aktion ermöglichte es die Hackerin, dass sich seit August 2022 die Staatsanwaltschaft Berlin mit dem Sachverhalt (Tatvorwurf u.a.: sexueller Missbrauch von Kindern) befasst.

Warum reihe ich mich nun in die Schlange der Aufklärer ein?

Marcus B. führt seine Exorzismen vorzugsweise bei Menschen durch, die an einer psychischen Erkrankung leiden. Ganz besonders scheint er an Personen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung interessiert zu sein, weil er der Meinung ist, die unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile seien „unreine Geister“ bzw. „Dämonen“, die man durch Exorzismus aus dem Körper austreiben müsse. Er scheint Betroffene als Forschungs- und Übungsprojekte zu betrachten, nicht nur, um zu beweisen, dass es Dämonen gibt, sondern auch, um sich selbst allem Anschein nach eine Art Expertise im Bereich der Teufelsaustreibung aufzubauen.

Da ich seit Jahren daran interessiert bin, das Störungsbild der DIS zu entmystifizieren, ist mir aufgefallen, dass die breite Aufklärungskampagne teilweise in eine regressive Richtung im Sinne eines Rollback verläuft. Wie „Nature23“ dieses Störungsbild betrachtet, hat für mich keine Bedeutung, anders verhält es sich jedoch, wenn Öffentlichkeit und Gesellschaft auf Grund seiner erfolgten Experimente und der Aufklärungskampagnen den Eindruck gewinnen, DIS-Betroffene seien unzurechnungsfähig.

So sagt u.a. eine Betroffene selbst, sie sei, als sie der schmerzhaften Behandlung zugestimmt hat, nicht zurechnungsfähig gewesen. (Quelle, Minute 4:12)

Auch im aktuellen Skeptiker-Artikel zum Thema, den ich als überaus wichtig und informativ empfinde, steht:

Skeptiker 04/23, Der Exorzist, Bernd Harder, S. 181

Richtig ist – und darum stimme ich GWUP-Chefreporter Bernd Harder durchaus zu – dass diese Frage bei jeder Art von Behandlung eine sehr große Relevanz hat. Doch in Zusammenhang mit all den anderen Mediendarstellungen wird damit ggf. der Eindruck verstärkt, Betroffene mit einer Dissoziativen Identitätsstörung wären nicht in der Lage, für die eigene Sicherheit zu sorgen.

So schreibt Marvin Xin Ku zum Beispiel in seinem SZ Artikel: „Teuflische Angst“:

Vor allem die zweite Aussage stellt das Krankheitsbild leider verzerrt dar, weswegen ich noch einmal separat auf den Aspekt der Einwilligungsfähigkeit eingehen möchte.

Einwilligungsfähigkeit

GWUP-Chefreporter Bernd Harder fügt zu seinem Absatz eine Fußnote hinzu und verlinkt darunter eine Seite, die Auskunft darüber gibt, was unter Einwilligungsfähigkeit verstanden wird:

Skeptiker 04/23, Der Exorzist, Bernd Harder, S. 192, Fußnote 11

Selbstverständlich können auch Betroffene einer Dissoziativen Identitätsstörung – so wie Betroffene anderer schwerer Erkrankungen – vor allem in einer Krisenzeit psychotische oder psychoseähnliche Zustände entwickeln, die es erschweren, Entscheidungen zu treffen oder die Tragweite einer Situation/Handlung einzuschätzen. In der Regel aber sind das Personen (unabhängig von den Krankheitsbildern), die einen Betreuer haben oder anderweitige Hilfsnetzwerke, wie man es u.a. auch von einer schweren psychotischen Erkrankung kennt.

Ansonsten, und das möchte ich hier wirklich mit Nachdruck betonen, sind Menschen mit einer PTBS oder auch Dissoziativen Identitätsstörung – sofern sie erwachsen sind – mündige, eigenverantwortliche und voll zurechnungsfähige Menschen, die durchaus in der Lage sind, derartige, hier thematisierte Gefahrensituationen zu erkennen. Vor allem in der heutigen Zeit. Anders war es noch vor 20, 30 Jahren, denn damals gab es noch kein Internet und vor allem keine so umfangreichen Aufklärungen und Selbsthilfegruppen für Betroffene. Vor 30 Jahren wusste man nicht, woran man leidet, man konnte es sich auch nicht denken, hatte nichts zum Recherchieren und keinen, den man fragen konnte. Betroffene waren in Folge also sehr viel manipulierbarer als heute, wo man mit wenigen Klicks zahlreiche Informationen bekommt.

Zum Thema Eigenverantwortung sollte zudem zwischen den Aktivitäten einer Einzelperson und exorzistischen Handlungen in z.B. christlichen Freikirchen oder Splittergruppen unterschieden werden. So wird teilweise in evangelikalen Gemeinden der Pfingstbewegung eine Art Exorzismus durch „Freibeten“ praktiziert: Im Rahmen von Befreiungsgottesdiensten oder Einzelsitzungen werden mitunter psychische Krankheiten als von Dämonen verursacht angesehen, die durch Handauflegen seitens der Pastoren geheilt werden sollen. Im Rahmen dieses Freibetens – was durchaus in einem Festhalten der erkrankten Person resultieren kann, wenn den Dämonen „befohlen“ wird, im Namen Jesu den Körper zu verlassen – ist von einer geminderten Eigenverantwortung auszugehen. Denn im Regelfall geht derartigen „Befreiungen“ monate- bzw. jahrelange Indoktrination mit den (biblischen) Lehren der Gemeinschaft voraus, bis die betreffenden Personen wirklich überzeugt sind, durch exorzistische Handlungen geheilt zu werden. Ganz anders stellt sich die Lage bei Nature23 dar, wo es um über das Internet geschlossene Kontakte geht, die mutmaßlich in kein länger andauerndes und manipulatives Glaubenssystem eingebettet waren.

Vergleich mit der Satanic Panic

Betrifft das Thema Eigenverantwortung nicht auch im selben Ausmaß die Betroffenen der Satanic Panic, über die wir hier seit 2022 umfangreich aufklären? Nein, dieser Vergleich ist nicht angemessen, denn bei der Satanic Panic geht es um Betroffene, die eine staatlich anerkannte Therapie aufsuchen, welche von der Krankenkasse getragen wird. Kein Betroffener kann damit rechnen, Opfer einer suggestiven und überaus schädlichen Fehltherapie zu werden, weil Traumatherapeuten an eine Verschwörungstheorie glauben.

Das ist in keiner Weise damit zu vergleichen, dass ein YouTuber das Blaue vom Himmel verspricht und mit irgendeinem Befreiungsdienst um die Ecke kommt. Gerade auch bei sensitiven Menschen, wie man sie unter DIS-Betroffenen zuhauf findet, sollten in so einem Moment alle Alarmglocken läuten.

Ich nehme die Not der Betroffenen durchaus ernst. Aber keinem Betroffenen ist damit geholfen, wenn man den Anschein erweckt, sie wären ein Leben lang und generell potenzielle Opfer. Damit macht man sie klein, was sich vor allem dann schädlich auswirkt, wenn Betroffene ihre Ansprüche geltend machen wollen oder aber in brisanten Konfliktsituationen um Glaubwürdigkeit ringen.

Erlernte Strategien

Bedeutet das jetzt, dass erwachsene Personen, die sich auf Marcus B. einlassen, selber schuld sind? Nein! Sie sind zwar verantwortlich für ihr Tun, aber mit dem Schuldbegriff hantiere ich nicht so gerne. Ich glaube, dass Menschen in solche Situationen geraten, liegt u.a. (auch?) an erlernten Strategien. Um zu verdeutlichen, worauf ich hinaus möchte, muss ich nun ein wenig ausholen.

In meinem Artikel „Dissoziative Identitätsstörung“ schrieb ich:

„Dissoziative Identitätsstörung“ Absatz: „Einfluss der Therapeuten“

Oder in einem anderen Artikel:

„DIS gibt es nicht“

Und genau dieses Problem sehe ich auch beim Thema Exorzismus:

Bei Durchsicht der Videos, die u.a. der YouTuber „Nature23“ ins Netz stellt (ein Beispiel), erinnert man sich unwillkürlich an den sehr bekannten und erfolgreichen Blockbuster „Der Exorzist“ aus dem Jahr 1973 oder an andere Filme dieser Art: Verzerrte Stimmen, ein Fauchen, ein sich Hin- und Herwerfen und Schreien … diese Muster lassen sich in all den sogenannten Exorzismus-Sessions beobachten, die Marcus B. jemals eingestellt hat. Das sind keine Symptome oder Kriterien einer Dissoziativen Identitätsstörung, sondern genau das, was Betroffene in der Regel glauben zeigen zu müssen, um den Ansprüchen zu genügen.

Ich schrieb bereits in meinen anderen Artikeln, dass es hierbei nicht um Schauspielerei geht. Es ist eine Strategie, die es in der frühen Kindheit ermöglicht hat, der Gewalt auszuweichen und in die identitäre Dissoziation zu flüchten. Es werden Facetten präsentiert, die so sind, wie der Gegenüber sie braucht, während Teile des Ichs „verschwinden“ und/oder sich zurückziehen. So schafft es ein Kind den Missbrauch und die Gewalt zu überleben – und das trifft nicht nur auf Betroffene einer Dissoziativen Identitätsstörung zu, sondern auch auf viele andere (PTBS-) Personen, die Missbrauch in ihrer Kindheit erlebt haben.

Die hier beschriebene Strategie zieht sich bei den meisten Betroffenen durch ihr ganzes Leben, selbst dann, wenn keine Gefahr mehr droht. Erkennt man diese erlernten Strategien nicht, oder hält man sogar daran fest, weil man sich davon einen sogenannten Krankheitsgewinn erhofft, dann besteht durchaus das Risiko, in die Hände irgendeines dubiosen Gurus zu geraten, bei dem man mit nur einem Klick auf seinen Kanal dessen Fragwürdigkeit erkennen kann.

Schlusswort

Mein Appell an YouTuber mit großer Reichweite, an Medien und an Vereine ist: Wenn ihr psychisch kranken Menschen wirklich helfen wollt, und davon gehe ich zu 100% aus, dann helft ihnen, dass sie einen Weg finden, sich generell ernst zu nehmen und ihre Eigenverantwortung zu stärken. Ich finde, man sollte es vermeiden, einen dubiosen Heilsversprecher, der sich selbst gerne reden hört, groß zu machen, sondern stattdessen Menschen, die auf Grund vieler gesellschaftlicher Stigmata viel zu oft klein gemacht werden.

Natürlich tut es auch gut, dass Menschen hinsehen und nicht wegschauen. Wichtig ist nur, ein klein wenig zu differenzieren: Es ist durchaus ein Unterschied, ob ein fast 40-Jähriger mit offensichtlich größenwahnsinnigen Anwandlungen Minderjährige manipuliert, sexuell belästigt – sogar der Vorwurf einer Vergewaltigung steht im Raum – oder ob dieser selbsternannte Exorzist mit erwachsenen, zurechnungsfähigen Personen sein Unwesen treibt, wozu diese ihr Einverständnis gegeben haben. Ohne das Risiko für Personen mit psychischen Erkrankungen in Frage stellen zu wollen, geht man damit die Gefahr ein, den sexuellen Übergriff an Minderjährigen zu verharmlosen, wenn man beides durch die Art der Berichterstattung vermischt und – sicherlich nicht mutwillig – auf dieselbe Stufe stellt.

Wenn wir hier von vulnerablen Gruppen sprechen, dann sind es die minderjährigen Mädchen, die den Schutz und das beherzte Eingreifen erwachsener Menschen brauchen. Alle anderen benötigen eher die Stärkung ihrer vorhandenen Ressourcen und Fähigkeiten.

Weiterführende Links zum aktuellen Thema:

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