Erst einmal etwas ganz Allgemeines zum Thema Dissoziation. Später komme ich dann konkret zur Dissoziativen Identitätsstörung.
Ich fand eine gute Zusammenfassung, was die Störung allgemein umfasst:
Der Begriff Dissoziation beschreibt laut Definition des DSM-IV die Unterbrechung der normalerweise integrativen Funktionen · → des Bewusstseins, · → des Gedächtnisses, · → der Identität oder · → der Wahrnehmung der Umwelt. Dissoziation im psychiatrischen und/oder psychotherapeutischen Sinne kann als ein Defekt der mentalen Integration verstanden werden, bei der eine oder mehrere Bereiche mentaler Prozesse vom Bewusstsein getrennt werden und unabhängig voneinander ablaufen (Abspaltung von Bewusstsein). Demgegenüber umfasst · → Konversion somatische, also sensorische und motorische Phänomene. Der französische Psychiater Pierre Janet verwendete als erster den Begriff Dissoziation, um psychische Prozesse zu beschreiben, die mit einem Auseinanderdriften und sich Trennen von Bewusstseinsinhalten einhergehen. (Stangl, 2022). Verwendete Literatur Stangl, W. (2022, 29. Mai). Dissoziation . Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. https://lexikon.stangl.eu/872/dissoziation. |
Dissoziation an sich ist keine Störung. Im Gehirn laufen ständige Prozesse der Dissoziation, aber auch der Assoziation ab. Die Frage ist also nicht, ob oder ob nicht, sondern in welchem Ausmaß sie stattfindet. Nur das Ausmaß und die Häufigkeit der Dissoziation entscheidet am Ende, ob wir es mit einem normalen Vorgang, mit einer Krisenreaktion, mit einer Störung oder auch mit einer formvollendeten Krankheit zu tun haben.
Ich vergleiche das immer gerne mit der Angst, die sehr viele Menschen kennen. 12 Millionen Menschen haben in Deutschland eine Angststörung. In Europa sind es 60 Millionen.
Angst ist ein normales und sogar überaus notwendiges Gefühl. Siehe: Angst und Angststörung. Ohne Angst wäre der Mensch einer potentiellen Gefahr ausgesetzt, in Folge ist die Angst überlebensnotwendig. Es ist erwiesen, dass Menschen, denen die Angst aus gesundheitlichen Gründen fehlt, nur mit Mühe das 30. Lebensjahr überschreiten.
Wann also ist Angst nun konkret eine Störung? Wenn man ein ZU davor setzen kann. ZU wenig Angst, aber auch ZU viel Angst. Wann ist Traurigkeit eine Störung? Wenn man ein ZU davor setzen kann. ZU wenig Traurigkeit, aber auch ZU viel Traurigkeit. Wann ist Wut eine Störung. Wenn man ein ZU davor setzen kann. ZU wenig Wut, aber auch ZU viel Wut. Wann ist Misstrauen eine Störung? Wenn man ein ZU davor setzen kann. ZU wenig Misstrauen, aber auch ZU viel Misstrauen. Die Liste ist beliebig fortsetzbar… |
Ganz genauso ist es bei den Dissoziationen. Wenn man unentwegt über einen langen Zeitraum und/oder in einem besonders starken Ausmaß dissoziiert, gilt es als Störung. Besitzt man zu wenig Fähigkeiten, zu dissoziieren, so ist auch das fatal für die Gesundheit. Hätten wir keine dissoziativen Prozesse im Gehirn, wären wir einer ständigen Überflutung ausgesetzt.
Bei Kindern bis zum 3./4. Lebensjahr ist es völlig normal, dass sie zwischen realer Wahrnehmung und Dissoziation hin und her springen. Deswegen ist die bisherige Annahme, Kinder würden sich durch Traumata explizit aufspalten, nicht ganz korrekt. Stattdessen muss man davon ausgehen, dass das, was im Laufe der Entwicklung zusammen gehört, (das Ich, das Selbst) inkohärent bleibt. Die Häufigkeit, mit der ein Mensch in einer normalen Form dissoziiert, nimmt erst mit dem Erwachsenwerden ab.
Bei der Frage, ob die Dissoziative Identitätsstörung eine Krankheit ist, erhitzen sich oftmals die Gemüter der Betroffenen. Sie benennen ein Problem, was wohl alle kennen, die (auch) an einer Persönlichkeitsstörung leiden, unter anderem Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS). Keiner der Betroffenen möchte seine Identität als Störung oder gar Krankheit verstanden wissen, denn das bedeutet im Selbstverständnis, man sei als Person eine Krankheit. Hinzu kommt bei der Borderlinestörung, dass sie inzwischen als Stigma gilt und für enorme Vorurteile sorgt.
Das Problem der Abwertung findet sich bei der Dissoziativen Identitätsstörung (noch) nicht. Hier haben wir ein anderes Problem. Nämlich das der Aufwertung. Es bilden sich mysteriöse Zuschreibungen, die ich fatal finde, wenn man bedenkt, dass Menschen mit DIS (und auch BPS) kein kohärentes »Ich« besitzen. Sich als Krankheit oder auch Mysterium zu definieren, kann nicht zu einem Prozess beitragen, der die Identität stabilisiert. Darum ist es nachvollziehbar, dass Betroffene mitunter eine Grenze ziehen und sich vom Begriff der Krankheit distanzieren.
Trotzdem kann man das Thema Krankheit bei der Dissoziativen Identitätsstörung nicht ganz ausklammern. Krank ist man nicht, wenn man eine dissoziative Identität hat, sondern wenn man darunter leidet.
Wie meine ich das?
Man muss unterscheiden zwischen einer Störung und einer Krankheit.
Störung | Krankheit |
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Grundsätzlich werden als psychische Störung alle Erkrankungen bezeichnet, die erhebliche Abweichungen vom Erleben oder Verhalten psychisch (seelisch) gesunder Menschen zeigen und sich auf das Denken, das Fühlen und das Handeln auswirken können. Quelle: Was ist eine psychische Störung | Eine Krankheit wird all das bezeichnet, was als behandlungsbedürftig gilt, was einen Leidensdruck erzeugt bzw. womit man sich und/oder anderen dauerhaften Schaden zufügt. |
Im Fachbereich wird eine Krankheit synonym als Störung verstanden. Ich selbst mache da allerdings einen kleinen Unterschied. Es gibt viele Menschen, die so viel Therapie erhalten haben, dass sie nicht mehr leiden. Sie sind nicht mehr krank und somit nicht behandlungsbedürftig. Trotzdem weist die identitäre Dissoziation eine Störung auf, wenn man das Zitat in der oberen Tabelle betrachtet.
Im Folgenden noch einige Verlinkungen, die die Begriffe der Dissoziation im ICD erläutern.
ICD-10 | ICD-11 |
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1. Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung) 2. Dissoziative Amnesie 3. Dissoziative Krampfanfälle 4. Dissoziative Fugue 5. Depersonalisations- und Derealisationssyndrom 6. Dissoziativer Stupor 7. Dissoziative Bewegungsstörungen 8. Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen 9. Trance- und Besessenheitszustände 10 Ganser-Syndrom | 6B60 Dissoziative neurologische Symptomstörung 6B61 Dissoziative Amnesie 6B62 Trance-Störung 6B63 Trance- und Besessenheitszustände 6B64 Dissoziative Identitätsstörung 6B65 Partielle dissoziative Identitätsstörung 6B66 Depersonalisierungs- und Derealisationsstörung 6E65 Sekundäres dissoziatives Syndrom 6B6Y Andere spezifizierte dissoziative Störungen 6B6Z Dissoziative Störungen, nicht spezifiziert |