Autorin: Nora
Kaum ein Name ist derart eng verbunden mit der epidemieartigen Diagnostik der Dissoziativen Identitätsstörung ab den 1980ern wie Colin Ross, der mittlerweile 72-jährige kanadische Psychiater und ehemalige Präsident der International Society for the Study of Trauma and Dissociation (ISSTD). Auch das Narrativ des satanisch-rituellen Missbrauchs als Auslöser für eine DIS erfuhr durch Ross eine entscheidende Bestärkung. 1995, also einige Jahre nachdem die Satanic Panic in den USA bereits als „moral panic“ dekonstruiert worden war, veröffentlichte Ross ein Buch mit dem Titel „Satanic Ritual Abuse – Principles of Treatment“, in dem er sich eingehend mit der Therapie für satanistisch-missbrauchte DIS-Patienten beschäftigte.
Dieses Buch gilt in einschlägigen Therapeutenkreisen bis heute als Klassiker, darum lohnt eine Beschäftigung mit diesem bald 30 Jahre alten Werk: Wie konnte es derartig einflussreich werden und vor allem wie argumentierte Colin Ross darin, um das Verschwörungsnarrativ aufrechtzuerhalten?
Was Colin Ross in seinem Buch fordert ist eine wissenschaftlich-intellektuelle Beschäftigung mit dem Thema abseits einer „hysterischen Hexenjagd“ und die Erwartung, ein komplexes, flukturierendes Feld aus Fakt und Fantasie zu finden (vgl. Satanic Ritual Abuse, 1995, S. 99). Hierbei stellt Ross vermeintliche Objektivität her, indem er beiden Positionen zu satanistisch-rituellem Missbrauch Raum gibt, sowohl denen, die ihm skeptisch gegenüber stehen als auch jenen, die diesen Missbrauch 1:1 als Tatsache ansehen.
Ross bringt einige Argumente wie jenes der massenmedialen Beeinflussung oder der iatrogenen Herstellungen von Pseudo-Erinnerungen (vgl. ebd. Kapitel 7). Doch diese scheinbare Objektivität täuscht, denn spätestens ein paar Buchseiten später wird klar, dass Ross als „True Believer“ zwar durchaus die Argumente der „Gegenseite“ bemüht, jedoch nur um diese dann wenige Zeilen später zu entkräften und eigenen Thesen zu bringen. Es erweckt über weite Strecken den Anschein, dass der Hauptzweck seiner Argumente-Aneinanderreihung darin besteht, kritisch-skeptischer Forschung prophylaktisch allen Wind aus den Segeln zu nehmen.
Um das zu erreichen, versucht Colin Ross den satanistischen Kult-Missbrauch in historische Zusammenhänge einzubetten, um dessen Plausibilität argumentativ stützen zu können: Er spannt also den Bogen von den Geheimgesellschaften der Assassinen zu den Illuminaten bis hin zur katholischen Inquisition als Beispiel für einen „religiösen Menschenopferkult“ (ebd. S. 6). Damit benutzt er den Malleus Maleficarum, besser bekannt als Hexenhammer im wahrsten Sinne des Wortes als Totschlagargument für alle kritischen Stimmen: Siehe wozu der Mensch fähig ist. Homo homini lupus.
Diese Aufzählungen historischer Präzedenzfälle sollen satanistischen Kultmissbrauch in den Raum des Möglichen zu rücken: Es wäre, so schreibt Ross, eine historische Anomalie, wenn es heute keine Geheimgesellschaften mehr gebe, die Menschenopfer praktizieren (vgl. ebd., S. 82).
Doch an dieser Stelle die Frage: Nur weil es Hexenverbrennungen, die Inquisition und Geheimbünde gab – ist das Grund genug, eine direkte Verbindung zu großangelegten satanistischen Kulten zu konstruieren, welche absolut unbehelligt im Hier und Jetzt operieren?
Plausibilität wegen historischer Parallelen?
Doch genau das impliziert Ross, wenn er immer wieder fordert, dass Therapeuten die Möglichkeit in Betracht ziehen sollten, dass gewisse Schilderungen faktisch real sind (vgl. S. 58) Ihm geht es, wie er nicht müde wird zu betonen, um die theoretische Denkbarkeit, nicht jedoch um die praktisch-reale Möglichkeit für satanistischen Missbrauch in großem, netzwerkartigen Stil: Ob es logistisch möglich ist, dass derartige Aktivitäten weit verbreitet sind, es jedoch an objektiver Information darüber fehle, das sei (um es salopp zu formulieren) quasi nicht sein Problem: „This is a law-enforcement, not a clinical problem.“i (ebd. S. 17)
Wenn etwas theoretisch denkbar ist, dann scheint der direkte Weg in die Realität nicht mehr weit: Doch um diesen Argumentationen zu entgehen, klammert Ross geflissentlich die Frage der Plausibilität großangelegter Satanskulte für das klinische Setting aus und delegiert das (wie praktisch“) an Justiz und Behörden, um weiterhin „empathisch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen“ (ebd. S. 17), dass die Schilderungen auf wahren Tatsachen bestünden. Weder fordert Ross Beweise noch liefert er welche.
Als Diskussionsgrundlage wirft er eine Zahl von 10 Prozent in den Raum, ohne diese Zahl empirisch zu begründen: dieser Prozentsatz an Erinnerungen sei seiner Meinung nach echt (vgl. ebd. S. 201).
Für die Behandlung von satanisch-rituellen Missbrauchsopfern sei es – so schreibt er – sowieso nur wichtig, sich auf die dahintersteckenden individuellen und kulturellen Psychodynamiken zu fokussieren, nicht auf den Informationscharakter der Erinnerungen, so schreibt er (ebd. S. 46).
Um die Authentizität der Erinnerungen scheint sich Ross seinen eigenen Worten zufolge nicht sonderlich Gedanken zu machen, denn „in the majority of cases, I am not sure one way or the other, but do not worry about it much.“ii (151f)
Wie wird von therapeutischer Seite mit diesem Dilemma von echten oder falschen Erinnerungen umgegangen? Das bleibt die von Ross unbeantwortete Gretchenfrage, denn auch er gibt zu, dass es Erinnerungsverzerrungen gibt: Wären alle im Rahmen von Therapien wiedergefunden Erinnerungen wahr, müsste es in Nordamerika zehntausende Baby-Opferungen pro Jahr geben. Dass das nicht möglich ist, anerkennt (sogar) Colin Ross (ebd. S. 56).
Dennoch hat er zu (iatrogenen) Falscherinnerungen eine klare Meinung, wie ihn die britische Tageszeitung „Independent“ in einem Artikel aus 1997 zitiert: Er glaube nicht, dass Falscherinnerungen notwendigerweise schädlich für Patienten sind. „There is no evidence that iatrogenic therapy is harmful. It could be that MPD helps you resolve conflicts and deal with them.“iii
Es geht jedoch sehr wohl um die faktische Akkuranz von Erinnerungen in der Therapie, wenn diese – nicht nur wie im aktuellen Fall Nathalie – Folgen für zu Unrecht Angeklagte haben. Falscherinnerungen produzieren Opfer, wenn sich Patienten in einen vermeintlichen satanistischen Kult-Missbrauch in großem Stile hineinsteigern (oder von Therapeuten durch iatrogenen Pseudoerinnerungen hineingesteigert werden): die Flucht in den Schrecken einer satanistische Ritual-Parallelwelt verschleiert die wahren Probleme und psychischen Störungen, deren effektive Behandlung in Folge ausbleibt. Im schlimmsten Fall macht eine Therapie kränker als zuvor.
„Am Ende schienen alle in Chaos zu sein“
Für die Behandlung von DIS-Patienten fordert Ross eine therapeutische „als ob“-Arbeit mit den inneren Alter-Persönlichkeiten, d.h. als ob sie eigene Personen wären und parallel dem Patienten zu erklären, dass es zu integrierende Anteile (s)einer Person bleiben (vgl. ebd. S. 79 und 134f.) Menschen mit DIS sind höchst suggestibel und leicht hypnotisierbar, daher sei eine gewisse Beeinflussung der Erinnerung seitens therapeutischer Erwartungen oder Medieninhalten unvermeidbar (vgl. ebd. S. 88).
Wie gestaltete sich unter diesen Prämissen ganz konkret eine Therapiestunde von Colin Ross? Hierzu hat die Doku „The 5th estate – MPD Mistaken Identities“ aus dem Jahr 1991 die damalige therapeutische Arbeit von Dr. Ross mit DIS-Patientinnen in seinem Behandlungszentrum bei Dallas mit der Kamera festgehalten: Ungefähr 10 junge Frauen sitzen in einem Kreis am Boden, spielen mit Stofftieren, weinen teilweise und beginnen zu schreien, werden dann wie kleine Kinder getröstet. Es ist eine Gruppentherapie, wo bewusst kindliche Persönlichkeitsanteile hervorgeholt und von Dr. Ross direkt angesprochen werden mit der Bitte, sie mögen „herauskommen“ und sprechen. Die Journalistin bringt es auf den Punkt: „by the end of the session it seems everyone is in chaos“iv.
Sein Therapieansatz: Die Persönlichkeitsanteile haben unterschiedliche Trauma-Erinnerungen, bevor diese Patienten wieder ganz werden können, musste er jedem Hinweis, jeder Erinnerung nachgehen und diese „Detektivarbeit“, wie es in der Doku genannt wurde, konnte sich über Jahre erstrecken: „What Dr. Ross seeks he finds. What he finds today are satanic personalities“v (Quelle: Doku).
Doch genau dieser Art von Therapie konterte Psychiater Dr. George Ganaway, Leiter der Klinik für Dissoziative Patienten vom Ridgeview Institut bei Atlanta. Er hatte selbst, wie er in der Doku erzählt, zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn versucht, mit den einzelnen Persönlichkeitsanteilen zu sprechen, doch das verschlechterte den Zustand seiner Patienten, da es diese Anteile noch realer machte und den Patienten in seiner Fragmentierung verstärkte.
Seriöse Kult-Diagnostik?
In seinem Buch plaudert Colin Ross aus dem Nähkästchen und schreibt wie er bei DIS-Patienten unterscheiden konnte, ob es einen satanistisch-kultischen Background gab: Hierzu spricht er u.a. die Angst von vermeintlich Betroffenen vor Ritual-Feiertagen an, die er bei DIS-Patienten ohne Kult-Hintergrund nicht auftrete (vgl. S. 113 f.) und geht in Folge noch einen Schritt weiter, wenn er die Arten von Selbstverletzungen von nicht-Kult-Missbrauchten (meist die Unterarme) mit jenen von Überlebenden aus rituellen Kulten vergleicht. Bei letzteren wären die Schnittverletzungen heftiger und an von Kleidung verborgenen Stellen und würden beispielsweise Linien in Anordnung von drei oder sechs Stück und geometrische Figuren beinhalten (vgl. S. 114f.). Auch aufgrund von Zeichnungen der Betroffenen, wo sie die Farben rot und schwarz sowie typische satanistische Symbole verwendeten, meint Ross, eindeutig auf kultischen Missbrauch schließen zu können. (vgl. ebd.)
An dieser Stelle eine kurze rhetorische Frage: Reicht das als „Beweis“ für etwas, was nicht zu beweisen ist? Oder ist es – erneut – eine Aneinanderreihung von Abstraktionen aus Einzelfall-Eventualitäten?
Die Basics zu Kulten (Kutten, Pentagramme und Hohepriester) könnten konfabuliert sein, so räumt Ross freimütig ein (vgl. ebd. S. 117). Aber – so folgt seine Relativierung auf schnellem Fuße – die spezifischen Details, die manche Kult-Überlebenden vortragen, stünden der These einer simplen Wiederholung von massenmedial Aufgeschnapptem entgegen. Und, so geht Ross im Folgenden auf seine eigenen (hellseherischen?) Fähigkeiten ein: Den orthodoxen Satanismus könne er von anderen Formen des Ritualmissbrauchs abgrenzen rein anhand von Zeichnungen, die in einer frühen Therapiephase angefertigt werden (vgl. ebd. S. 117) Diese „diagnostischen Fähigkeiten“ anhand von ein paar Zeichnungen erinnern schon fast an die jüngeren „Forschungen“ von Colin Ross, für welche er 2009 den Satire-Preis Pigasus-Award erhielt. Wikipedia zitiert Ross zudem mit seinen eigenen Behauptungen, dass er „Chi-Energie“ aus seinen Augen nutzen könne, um Elektronik zu manipulieren.
Der Einfluss von Colin Ross ging jedoch weit über diejenigen Patienten hinaus, die er im Laufe der Jahrzehnte persönlich behandelte. Er schrieb zahlreiche Aufsätze, veröffentlichte Bücher und epidemiologische Zahlen zur Verbreitung von DIS in den USA – Zahlen die bis heute unter Berufung auf ihn unhinterfragt repliziert werden.
Doch waren diese Zahlen aus den frühen 1990er Jahren überhaupt haltbar?
„Eine Hausnummer-Schätzung“
„1% der Bevölkerung sind von einer Dissoziativen Identitätsstörung betroffen“. Ungefähr so zieht sich ein Satz seit über zwanzig Jahren durch Lehrbücher, DIS-Ratgeberliteratur und Social-Media-Blogs. (Um die Zahl größenmäßig einordnen zu können, hier ein Vergleich: Einer aktuellen Übersichtsarbeit zufolge weist die Borderline Persönlichkeitsstörung eine durchschnittliche Prävalenz von 1,6 % auf.)
An dieser Stelle geht es nicht darum, die neuen Studien aus den USA, Finnland oder der Türkei zur DIS-Prävalenz einzuordnen, sondern einzig und allein um die damalige Methodik von Colin Ross. Wie gelangte er an diese Prävalenz von 1%? In den Jahren 1989 und 1990 schickte Ross höhersemestrige College-Studenten mit einem Fragebogen von Tür zu Tür der kanadischen Stadt Winnipeg, in welcher er lebte und arbeite. Zunächst wurde eine Befragung eines Samples von 1055 Einwohnern anhand des DES-Fragebogens (Dissociative Experience Scale) durchgeführt, eine psychologische Selbstbeurteilung über das allgemeine Vorhandensein dissoziativer Symptome. In der zweiten Phase wurden danach „so viele Personen wie möglich“, wie Ross schreibt, dieser Stichprobe nochmals befragt und das DDIS-Screeninginstrument (Dissociative Disorders Interview Schedule) verwendet, um Dissoziative Identitätsstörungen zu finden.
Den DDIS-Fragebogen hatte Colin Ross selbst entwickelt und – wie aktuell seiner Webseite zu entnehmen ist – sollen klinische Diagnosen nicht allein auf Basis dieses Instrumentes gestellt werden: „Clinical diagnoses should not be made using the DDIS alone“vi.
Doch genau das tat Colin Ross im Jahr 1990: er stütze sich in Phase 2 ausschließlich auf die von Studenten (!) durchgeführten DDIS-Befragungen, um damit die Diagnose der Dissoziativen Identitätsstörung zu stellen. Ohne es empirisch zu untermauern, schrieb (sprich: schätze) er in einem Artikel, dass sich das obere Limit für die Prävalenz von DIS durch die Prävalenz-Zahlen von schwerem Kindesmissbrauch ergebe (vgl. S. 505) und implizierte damit, dass die epidemiologische Verbreitung für DIS in Wahrheit noch viel höher liegen könnte. In der Doku wurde Ross von der Interviewerin auf die Datenerhebung und deren Auswertung angesprochen, er antwortete: „Ballpark wise it appears to be about 1 percent of the general population, making it about as common as shizophernia and manic depressive illness.“vii(Quelle: Doku)
Eine „ballpark figure“ entspricht als Metapher ungefähr dem, was wir im Deutschen als „Hausnummer“ bzw. „Daumen mal Pi“ bezeichnen, also eine wirklich grobe Schätzung ohne genauen Wert. „Ballpark“ ist übrigens die amerikanischen Bezeichnung für ein Baseball Stadion – und genauso riesig scheint die Ungenauigkeit der Schätzungen von Colin Ross auch zu sein.
Oder war es – frei nach der guten Baseball-Taktik „hit and run“ – ein Versuch, der DIS mit einer Verbreitung annähernd so hoch wie Schizophrenie oder manisch depressive Störungen eine breite Legitmationsbühne zu geben? Also eine Prävalenz-Zahl von 1% ins Spiel zu bringen und zu „rennen“. Nicht zuletzt vielleicht deswegen, weil es in den damaligen amerikanischen Kliniken ein finanzielles Geschäft war und Behandlungszentren speziell für DIS aus dem Boden gestampft wurden (vom monetären Blockbuster-Erfolg des Buchs „Sybil“, was sich später als Fake herausstellen sollte, ganz zu schweigen).
„Ihr Ernst? Verdient das eine Antwort?“
Ross führt an, dass die Debatte um die Dissoziative Identitätsstörung auch ein politisches Element habe: Menschen würden nichts über Kindesmissbrauch hören wollen und auch nicht, dass ihre Patienten darüber sprechen. Hier schlägt er den Bogen zu etwas, was sich in Verschwörungstheorien bis heute hartnäckig hält: zu den MK-Ultra Experimente der CIA aus den 1950er-70er Jahren, die es – laut Ross – geschafft haben sollen, eine Art „Manchurian Candidate“ im realen Leben zu erschaffen, worüber er für die Doku aus dem Jahr 2017 „The MK Ultra Files“ ein Exklusivinterview gab.
Bereits in der Doku aus 1991 hatte Ross das politisches Interesse an einer Vertuschung angedeutet: Wenn durch Forschung über Dissoziative Identitätsstörung Mind Control Experimente aufgedeckt werden, wären bestimmt einige Leute, die zum Beispiel als Programmierer von Kindern für die CIA arbeiteten, nicht erfreut darüber und würden politische Gegenstrategien bilden. Seine diesbezügliche Aussagen wurden in Folge an Dr. George Ganaway herangetragen, dessen Antwort sich auf zwei Sätze beschränkt, die in ihrer Deutlichkeit allerdings kaum zu wünschen übrig lassen: „Are you serious? Does that deserve a response?“viii
Nein, es verdient wirklich keine Antwort.
Einen fachlichen Konter zu Colin Ross‘ Aussagen gab es allerdings von Dr. Benjamin Beit-Hallami, Professor der Universität Haifa, Israel. Er kritisierte die Aussagen von Ross zu Mind Control als weitläufige Grenzgebiete der Psychiatrie, wo sich Ideen zu Mind Control und Satanismus vermehren. Denn dafür, dass ein realer „Manchurian Candidate“ in den CIA-Programmen jemals geschaffen wurde, dafür konnte Ross laut Wikipedia keine stichhaltigen Beweise liefern.
Satanic Panic – verfestigt anstatt dekonstruiert
Colin Ross vergleicht die hitzige Diskussion um satanistischen Missbrauch mit der Debatte um pro-kontra-Schwangerschaftsabbruch, wie sie in den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten vehement geführt wird (vgl. ebd. S. 179). Mit genau dieser Vehemenz argumentiert Ross und bleibt – ein weiteres Mal – keineswegs neutral, sondern legt seine dahinter stehende Bias offen, wenn er ein ganzes Kapitel dazu verwendet, um den skeptischen Positionen zu kontern (vgl. ebd. S. 180). Nach diesen äußerst einseitigen Kritikpunkten fordert Ross (alibihaft?) erneut Dialogbereitschaft zwischen den beiden gegenüberliegenden Seiten, wo jeder des anderen Satan sei: „Like alter personalities inside individual human beings, they need to talk“ix (ebd. S. 190). Doch zu genau diesen Gesprächen scheinen Hardcore-Anhänger der Satanic Panic Verschwörung nicht bereit: zu konstruktiven Gesprächen auf Basis wissenschaftlicher Forschung abseits esoterischer Pseudowissenschaft.
Gegen die „Besonderheit„
In einer Sache kann Ross jedoch uneingeschränkt zugestimmt werden, wenn er über die „specialness“, also die zugeschriebenen „Besonderheit“ von Satanskult-entflohenen DIS-Patienten spricht: „the patients are not special as human beings by virtue of their disorder.“x (ebd. S. 124) Diese Aussagen sollten sich einige Traumatherapeuten (nicht nur) im deutschsprachigen Raum zu Herzen nehmen, wenn immer wieder von dem absolut „Besonderen“ im Kontext von ritueller Gewalt zu lesen ist und dadurch deren Opferstatus im Superlativ festgeschrieben wird.
In einem weiteren Punkt ist Colin Ross zuzustimmen: Er kritisiert den problematischen Selbstläufer, wenn etwaige Programmierungen im Verlauf der Therapie zur Sprache kommen und als etwas von außen Eingepflanztes angesehen werden, analog zu Computerchips, das einer „Deprogrammierung“ bedarf: Der Patient würde sich dann als zu dumm ansehen, die cleveren Programme der noch cleveren Programmierer zu bekämpfen und eine passive Rolle in der Therapie einnehmen. Demgemäß werde es vom Therapeuten mit narzisstischer Großartigkeit beantwortet, wenn dieser als „Deprogrammierer“ die bösen Machenschaften der Kulte bekämpft (vgl. ebd. S. 139). Genau das, so Ross, führe zur Problematik, dass Betroffene in derartigen Therapien in kontinuierlicher Angst vor fortgesetzten Übergriffen der Kulte leben.
Die absolut kontraproduktiven und erschreckenden Ausmaße einer derartigen Therapie haben die Schweizer Skandale um die Kliniken Münsingen und Littenheid in jüngster Vergangenheit in trauriger Drastik bewiesen.
Klagen, Kritik und Klinik-Schließung
Dass Colin Ross‘ therapeutische Tätigkeit nicht ohne juristische Folgen geblieben sind, scheint nachvollziehbar: Seine Therapien waren Gegenstand mehrerer Klagen in den USA und Kanada, u.a. von Roma Hart, die fünf Jahre lang seine Patientin in Kanada gewesen war. „Er erschuf eine DIS in mir“, sagte sie später und berichtete, dass sie anfangs keine Erinnerungen an Missbrauch hatte, jedoch nach einigen Hypnose-Sessions mithilfe von Medikamenten angab, seitens ihrer Eltern, deren Freunden und Kirchenmitgliedern satanistisch missbraucht worden zu sein. Ihre konkrete Klage gegen Ross umfasst auch einen Vorfall aus ihrer Zeit als seine Patientin für Fehlbehandlung ihrer medikamenteninduzierten Krampfanfällen einer DIS-Patientin als angebliche Persönlichkeitswechsel zu einem Anteil, für welchen diese Krämpfe typisch wären.
Bis vor kurzem hatte Colin Ross ein stationäres Trauma-Programm an mehreren US-amerikanischen Kliniken, z.B. in Dallas (Texas), Gran Rapids (Michigan) und Torrance (Kalifornien) seit den frühen 1990er-Jahren. Doch diese Behandlungszentren wurden seitens der Kliniken alle 2021 und 2022 aufgelöst, wie Colin Ross auf seiner Webseite bestätigt.
Der Fakt, dass er nun seine eigene teilstationäre und ambulante Therapieeinrichtung bei Austin, Texas gegründet hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die drei Kliniken, an denen er bislang tätig war, die Zusammenarbeit mit ihm nicht mehr fortgesetzt haben.
„Neutral wie die Schweiz?“
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass Colin Ross in seiner Argumentation durchwegs die „feine Klinge“ auf Skalpell-Niveau benutzt anstatt des schreiberischen Schlachtermessers. Problematisch werden Colin Ross‘ Thesen jedoch, wenn man sich seine Argumentationsketten vor Augen führt: Es geht ihm nicht um die Faktizität von „wahr-unwahr“ im Diskurs zur Existenz satanistischer, groß angelegter Kulte (siehe S. 151 f.), er fordert jedoch eine offene Grundhaltung seitens Therapeuten und schließt – wie bereits dargestellt – allein aus der Existenz von Menschenopfern in der Vergangenheit auf gegenwärtig mögliche satanistische Kult-Aktivitäten, frei nach dem Motto: Es gibt heutzutage nichts, was es nicht gibt.
Obwohl er die Beweisbarkeit satanistischen Ritualmissbrauchs auf seinen letzten Buchseiten verneint („My conclusion is that there is no conclusion concerning the sociological reality of multigenerational orthodox Satanic cults.“xi, ebd. S. 201), scheint er im Subtext dennoch dessen Existenz beweisen zu wollen, – etwas, was nicht zu beweisen ist. Und genau daran hakt seine Argumentation.
Er möchte neutral sein, doch er ist es nicht. Im Gegenteil. Er ist eben nicht „neutral wie die Schweiz“. Angesichts der bereits erwähnten, aktuellen Satanic-Panic-Skandale in Schweizer Kliniken erhält diese oft gehörte Redensart übrigens einen sehr traurig-zynischen Beigeschmack. Zudem: „Neutral wie die Schweiz“ gibt es beim Thema satanistisch-ritueller Missbrauch nicht – weder im metaphorischen noch im realen Sinne.
Und genau in diesem Zusammenhang wirkt folgende Aussage des Psychologen Dr. Ray Aldrige-Morris aus dem Jahr 1997 erschreckend zeitlos : „It only takes a conference and a charismatic charachter so start a surge.“xii.
Die Auswirkungen dieser „Wellenbewegung“ beschäftigen uns bis heute.
ÜBERSETZUNG DER ENGLISCHEN ZITATE:
i „Dies ist ein Problem der Strafverfolgung, kein klinisches Problem.“
ii „In den meisten Fällen bin ich mir nicht sicher in die eine oder andere Richtung, aber ich mache mir darüber keine großen Sorgen.“
iii „Es gibt keinen Beweis, dass iatrogene Therapie schädlich ist. Es könnte sein, dass DIS hilft innere Konflikte zu lösen und mit ihnen umzugehen.“
iv „Am Ende der Therapiestunde schien jeder im Chaos zu sein.“
v „Was Dr. Ross sucht, das findet er. Was er heute findet, sind satanische Persönlichkeiten.“
vi „Klinische Diagnosen sollen nicht auf Basis von DDIS allein gestellt werden.“
vii „Daumen mal Pi scheint es etwa 1 Prozent der Gesamtbevölkerung zu sein, was es ungefähr so häufig macht wie Schizophrenie und manisch-depressive Erkrankung.“
viii „Ist das Ihr Ernst? Verdient das eine Antwort?“
ix „Wie Alter-Persönlichkeiten innerhalb einzelner Menschen müssen sie miteinander reden.“
x „Die Patienten sind nicht aufgrund ihrer Störung besondere Menschen.“
xi „Meine Schlussfolgerung ist, dass es keine Schlussfolgerung bezüglich der soziologischen Realität von generationsübergreifenden orthodoxen satanischen Kulten gibt.“
xii „Es braucht nur eine Konferenz und einen charismatischen Charakter, um eine Welle zu starten.“