Autorin: Nora
Die „ultimative Heilungsgeschichte“ – satanistischer Missbrauch als Glaubensfrage
Die Verschwörungstheorie des satanisch-rituellen Missbrauchs ist ein Narrativ, dass sich entgegen jeglicher faktischen Beweisbarkeit hartnäckig hält – insbesondere im Kontext der christlichen Kirche und da wiederum speziell in freikirchlichen, evangelikalen Gruppierungen.
Warum ist das so? Und viel wichtiger: Wie tragen christliche Gemeinden und Vereine im deutschsprachigen Raum zur Verbreitung dieser Verschwörungstheorie bei?
Um den Zusammenhang zwischen Verschwörungsglauben und christlicher Überzeugungen zu beleuchten, ist ein Gedanke zentral: die Dualität zwischen Gut und Böse. Insbesondere in evangelikalen/baptistischen Christengemeinden, die sich der Pfingstbewegung (Pfingstbewegung Artikel Wikipedia) zugehörig fühlen, herrscht eine starke Glaubensdualität vor: Gut gegen Böse, Gott gegen den Teufel. Letzterer wird nicht als Metapher oder sinnbildlicher Begriff verstanden, sondern als Gegenspieler Gottes, der ebenso real sei wie Gott, der Heilige Geist oder Jesus.
Da liegt es natürlich nahe, dass unter diesen Voraussetzungen satanisch-ritueller Missbrauch als eine Tatsache angenommen wird, ohne diese näher zu hinterfragen. Denn – so die logische Argumentationskette – wenn es den Teufel gebe, dann wären natürlich auch „Teufelsanbeter“ und deren Opfer real, denen geholfen werden müsse (natürlich nicht ohne christlich-missionarischen Hintergedanken).
Analog zur Dramentheorie der griechischen Tragödie scheint dieses Szenario eine Art „umgekehrte Fallhöhe“ zu beschreiben: vom alle Vorstellungskraft übersteigenden, ultimativ bösen „satanistischen“ Missbrauch hin zur völligen Wiederherstellung des Opfers als getauftes „Kind Gottes“. Größer könnte der Kontrast im Narrativ der Heilung nicht sein, über welche natürlich anschließend (in christlichen Büchern, im Internet sowie in Gottesdiensten) „Zeugnis abgelegt“ wird – kurz gesprochen, es ist die „ultimative Heilungsgeschichte“ in den Augen einer evangelikalen-baptistischen Gemeinde.
Heilungsabläufe – spirituelle Kriegsführung und Freibeten
Der „Feind“ Satan ist für evangelikale Christen, wie oben dargelegt, real und man begegnet ihm mit „spiritual warfare“, also „spiritueller Kriegsführung“ (Geistliche Kriegsführung Artikel Wikipedia). Das Rüstzeug hierfür sind Bibel, Gebet und eine persönliche Beziehung mit Jesus und es gibt dazu natürlich auch viele Bücher, zum Beispiel mit einem martialisch anmutenden Soldaten auf dem Cover, der für die „spirituelle Kriegsführung“ gegen satanistischen Missbrauch werben soll („Spiritual Warfare in Satanic Ritual Abuse“ auf Amazon)
Ganz abgesehen von der Thematik des satanistischen Missbrauchs sind Befreiungs- oder Heilungsgottesdienste in evangelikalen Gemeinden generell an der Tagesordnung, wo nicht nur körperliche Krankheiten (angeblich) plötzlich geheilt werden, sondern auch Menschen mit psychischen Erkrankungen „freigebetet“ werden. Geheilt wird durch ein Wunder Gottes, denn er könne heilen, wo Ärzte „nur“ behandeln können. Nach evangelikalem Glauben ist alles möglich, auch die vollständige Wiederherstellung nach sexuellem Missbrauch oder bei Dissoziativer Identitätsstörung, wie es nicht nur ein Amazon E-Book verspricht: („Breaking out of Darkness“ auf Amazon und ebenfalls „Restoring Survivors of Satanic Ritual Abuse“ auf Amazon) – natürlich mit dem passenden Titelbild eines Heißluftballon, der mit der Assoziation von Freiheit durch die Luft schwebt.
Neben diesen beispielhaft aufgezählten Büchern geben Webseiten von „Christian Counselors“, also christlichen Seelsorgern, Tipps und Ratschläge aus der Praxis, wie man Anzeichen von satanistischem Missbrauch erkennen könnte (How do you know if the person you are counseling has an SRA background? oder siehe auch: Christliche Beratung für satanischen rituellen Missbrauch) Hierbei werden als mögliche Hinweise für Rituelle Gewalt zum Beispiel Flashbacks oder Albträume der Patientin von Särgen, Kreuzen oder bestimmten Farben wie schwarz und rot aufgezählt – eine „Checkliste“, die in ähnlicher Form auch von Michaela Huber verbreitet wird (vgl. Huber Michaela, Trauma und die Folgen, 2020, S. 246 ff.)
Zu praktischen Anleitungen und „How to do“-Büchern für Pastoren gesellen sich auch Erfahrungsberichte von Betroffenen einer Dissoziativen Identitätsstörung nach angeblich satanistischem Missbrauch, die unter Titeln wie: „Only God rescued me: My journey from Satanic Ritual Abuse“ (Buch auf Amazon) oder „Hell minus one: My story of deliverance from Satanic Ritual Abuse and my journey to freedom“ (Buch auf Amazon) angepriesen werden.
Man mag nun einwenden, dass dies alles englischsprachige Bücher seien, die vielleicht in US-amerikanischen Mega Churches in Massengottesdiensten vor 10.000 Gläubigen ihr Publikum finden – doch weit gefehlt. Die evangelikalen Gemeinden sind mit ihrem Verständnis von Kirche und Glaube längst nach Deutschland, Österreich und die Schweiz geschwappt und haben sich neben der traditionellen katholischen und evangelischen Glaubensrichtung etabliert.
Eine ihrer prominenten Vertreterinnen ist Gaby Wentland, Pastorin aus Hamburg, die aus der „christlichen Szene“ nicht mehr wegzudenken ist. Sie ist nicht nur in der Missionsarbeit tätig und im Hauptvorstand der Evangelischen Allianz, sondern hat sich vor allem aufgrund ihrer zahlreichen CDs, Vorträge und Auftritte bei Bibel TV eine Reichweite geschaffen.
Was hat dies nun mit angeblichem satanistischen Missbrauch zu tun? Weit mehr als es auf den ersten Blick erscheint, denn Gaby Wentland hat auch einen Verein gegründet, der Opfern von Zwangsprostitution und Ritueller Gewalt helfen soll.
Mit Zwangsprostitution in einen Topf geworfen
Unter dem Namen „Mission Freedom“ („Mission Freedom“ auf Wikipedia) operiert seit 2011 ein gemeinnütziger Verein, der Spenden-basiert arbeitet und u.a. mehrere Jahre von der Aktion Mensch des ZDF gefördert wurde. Gründerin Gaby Wentland hat für den Verein 2014 nicht nur den Bürgerpreis des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger bekommen sondern neben dieser Auszeichnung auch eine Menge Kritik:
Wie u.a. der Spiegel in einem Bericht (Die dubiosen Methoden von Mission Freedom), wurde damals mit einem offenbar erfundenen Schicksal einer Zwangsprostituierten für den Verein um Spenden geworben, eine Lebensgeschichte, die laut einem Bereichsleiter des Landeskriminalamts Hamburg in dieser Form aber gar nicht stimmen konnte. Das ist nur eines jener pikanten Details, die in Medienrecherchen ans Licht kamen. Auch dass nach Vereinsangaben minderjährige Prostitutionsopfer in den Schutzhäusern betreut wurden kam in die Kritik, da ein offizieller Antrag, um Minderjährige betreuen zu dürfen, gar nie gestellt wurde.
Keinesfalls soll die absolute Notwendigkeit und Wichtigkeit von Hilfe für Frauen in der (Zwangs)prostitution in Abrede gestellt werden – im Gegenteil. Doch was passiert, wenn dies unter dem Deckmantel von fundamentalistischen Christen, um den obigen Bericht des „Spiegel“ zu zitieren, geschieht? Und – hiermit spannt sich der Bogen zum Thema des satanistischen Missbrauchs – wenn Zwangsprostitution und Ritueller Missbrauch in einen Topf geworfen werden?
Mission Freedom ist nicht der einzige Verein, der sich explizit an Opfer von Zwangsprostitution und Ritueller Gewalt wendet, dies tut z.B. auch der Opferschutzverein Karo e.V. (Karo e.V.). Doch auf der Webseite von Mission Freedom sticht die Deutlichkeit ins Auge, mit der aus christlicher Hinsicht der satanistische Missbrauch beschrieben wird:
„Über den Zeitraum von mehreren Jahren kamen in Frau P. immer mehr Erinnerungen zu ihrer Kindheit hoch. Ihr wurde klar, dass ihre Eltern zwei Gruppierungen angehören, die sich heimlich nachts treffen. Die Gruppe glaubt an ihre eigene Überlegenheit und feiert Rituale, um Satan anzubeten. Im Rahmen dieser Rituale erlebte Frau P. als Kind regelmäßig schlimmste Gewalt. Sie wurde gefesselt, vergewaltigt, musste Exkremente schlucken und Gewalt an anderen anwenden. Sie wurde zusammen mit anderen Kindern trainiert, um diese Rituale auszuhalten. Sie musste lernen, ihren Ekel und Würgereiz zu unterdrücken, bedingungslos zu gehorchen und auch anderen Schmerzen zuzufügen.“
https://mission-freedom.de/rituelle-gewalt/
Auch über die wissenschaftlich nie bewiesene Theorie von Mind Control gibt es eine ausführliche Webseite, die ungefähr das wiedergibt, was sich auch bei Alison Miller, Gaby Breitenbach und Michaela Huber findet:
„Satanistische ritualisierte Gewalt erfolgt nicht nach Lust und Laune der Täter. Sie ist vielmehr ein hoch psychologisch aufgebautes System, mit dem Ziel die Opfer gefügig und gehorsam zu machen; sie abzurichten, um sie in den Messen zu „gebrauchen“ und letztendlich sie zum Teil des satanistischen Systems werden zu lassen – damit sie eines nicht tun: Erzählen oder gar Aussteigen.“
https://mission-freedom.de/rituelle-gewalt/ueber-training-und-mindcontrol
Weiters werden Programme mit den üblichen Stereotypisierungen wie Bestraferanteile, Berichterstatteranteile etc. beschrieben. Für die Tatsache, dass eben genau diese Schlagworte zu Programmierungen immer wiederholt werden, jedoch ohne sie näher zu definieren, gibt es auch eine scheinbar passende Erklärung: nämlich diejenige von international operierenden, gut vernetzten Gruppierungen und Kulten. Also: quod erat demonstrandum, was zu „beweisen“ war.
„Erstaunlicherweise haben Aussteigerinnen aus sehr unterschiedlichen geografischen Orten häufig ähnliche sehr spezielle Programme, was darauf schließen lässt, dass die Gruppen sich untereinander vernetzen und es ein verbreitetes Wissen über das Programmieren von Kindern gibt.“
https://mission-freedom.de/rituelle-gewalt/ueber-training-und-mindcontrol/
All diese unbewiesenen Thesen, die man besser Behauptungen nennen sollte, erlangen jedoch eine gewisse Legitimation, indem sie in einem Atemzug mit real existierenden pädophilen Kindermissbrauchsringen oder Zwangsprostitution genannt werden.
Und genau das ist, wie bereits in anderen Artikeln auf dieser Webseite dargelegt, der springende Punkt: bewiesene Fakten werden dazu benutzt, um Unbeweisbares scheinbar zu beweisen.
Im christlich-evangelikalen Kontext kommt noch der starke Missionsdrang hinzu und die persönliche Überzeugung, den Teufel als Gegenspieler Gottes zu sehen.
Alles in allem sind das die „perfekten“ Zutaten, um das Narrativ des satanistisch-rituellen Missbrauchs nicht nur am Leben zu erhalten, sondern auch noch möglichst weiterzuverbreiten:
Denn wer im Rahmen von evangelikalen Gruppen würde es offen anzusprechen wagen, dass dies eine Verschwörungstheorie ist, wenn sie doch durch den persönlichen Glauben an Gott und Teufel (pseudo)legitimiert wird?
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Zum Weiterlesen (17.07.2024)
Bernd Harder: Rituelle Gewalt-Mind Control: Eine verschwörungsgläubige Organisation darf im Allgäu traumatisierte Kinder betreuen