„DIS ist besonders“ und „BPS ist toxisch“ Die Schnittmenge von Theorie, Selbstwahrnehmung und gesellschaftlichem Umgang. |
Im Verlauf der letzten Jahre, in denen ich mich intensiv mit Aufklärungsarbeit beschäftigt habe, war es mir stets ein Anliegen, die enge Verbindung zwischen der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) und der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) hervorzuheben.
Wie bereits in einem kürzlich veröffentlichten Beitrag erläutert, handelt es sich bei BPS und DIS um unterschiedliche Krankheitsbilder, und ich bin mittlerweile der Überzeugung, dass es entscheidend ist, diese Trennung klarer zu betrachten. Beide Diagnosen repräsentieren spezifische psychische Störungen, die jeweils eigenständige Behandlungsansätze erfordern.
Diagnosen spielen eine zentrale Rolle bei der Steuerung therapeutischer Maßnahmen, da sie auf konkrete Behandlungsmethoden hinweisen. Darüber hinaus eröffnen sie Betroffenen den Zugang zu wichtigen Therapie- und Rehabilitationsangeboten sowie finanzieller Unterstützung durch Institutionen wie Krankenkassen oder Rentenversicherungen.
Im anderen Beitrag schrieb ich:
Ein zentraler Punkt ist die unterschiedliche gesellschaftliche Wahrnehmung beider Diagnosen. Während die Borderline-Persönlichkeitsstörung seit Jahrzehnten sozial und leider auch im Fachbereich stigmatisiert wird, erfahren Menschen mit DIS oft eine andere Form der Wahrnehmung. Bereits vor 25 Jahren hörte ich von Therapeuten, dass BPS-Patienten :innen im klinischen Setting als „schwierig“ oder gar als „Spaltpilze“ betrachtet wurden. Im Gegensatz dazu scheinen DIS-Betroffene und einige Trauma-Therapeuten eine enge symbiotische Beziehung zu haben. DIS wird von manchen Fachleuten und Betroffenen als „besondere“ Diagnose wahrgenommen, was wiederum zu einem Gefühl von Exklusivität führen kann.
Und genau darauf möchte ich heute detaillierter eingehen. Vor allem möchte ich die Gemeinsamkeiten beider Krankheitsbilder hervorheben, denn ich denke nach wie vor, dass beide Störungen dieselbe Wurzel haben. Vor allem ist es mir ein großes Anliegen, dass Hierarchien abgeschafft und alle Traumafolgestörungen als gleichwertig betrachtet werden. Dazu weiter unten mehr.
DIS und die Faszination der Fragmentierung | BPS und das Stigma der Instabilität |
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→ Die Vorstellung, dass eine Person „mehrere Identitäten“ hat, wirkt oft faszinierend auf Außenstehende. Es hat schnell etwas Romantisiertes – auch wenn es für Betroffene alles andere als „romantisch“ ist. → DIS wird zudem oft mit extremer Traumatisierung assoziiert, was Empathie wecken kann. Viele sehen hier das „unschuldige Opfer“ im Vordergrund. | → BPS wird schnell mit schwierigen zwischenmenschlichen Verhaltensweisen (Wutausbrüche, Impulsivität, Idealisierung/Entwertung) in Verbindung gebracht. Viele Außenstehende empfinden das als „herausfordernd“ oder „anstrengend“. → Die Abwertung kommt oft aus dem Unverständnis, dass diese Verhaltensweisen genauso Schutzstrategien sind wie die Abspaltung bei DIS – nur eben auf einer anderen Ebene sichtbar. |
Ähnliche Verhaltensmuster:
Dissoziative Identitätsstörung & Borderline Persönlichkeitsstörung | Unterschiedliche Bewertungen: |
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→ Impulsivität: DIS-Anteile können genauso impulsiv und destruktiv handeln wie jemand mit BPS. → Emotionale Überreaktionen: Auch bei DIS sind starke emotionale Reaktionen keine Seltenheit – nur werden sie oft als „ein Anteil reagiert“ interpretiert, während es bei BPS als instabil wahrgenommen wird. → Beziehungsschwierigkeiten: DIS-Betroffene, besonders in unbewussten oder wenig reflektierten Phasen, erleben genauso Chaos in Beziehungen wie Menschen mit BPS. | → DIS wird oft als „Sie kann nichts dafür, es ist ihr Trauma“ gesehen. → BPS wird als „selbstverschuldet“ oder „toxisch“ abgewertet, obwohl die gleiche Logik gilt: Beide Diagnosen wurzeln im Trauma und in Schutzmechanismen. |
Ähnlichkeit Krankheitsbild:
Dissoziative Identitätsstörung & Borderline Persönlichkeitsstörung | Erklärung |
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→ DIS kann Borderline-ähnliche Züge haben: | Anteile bei DIS können dieselben emotionalen Schwankungen, Impulsivitäten und Beziehungsmuster zeigen wie jemand mit BPS. Die Trennung der Identitäten verschleiert aber, dass das Verhalten letztlich aus einer ähnlichen Quelle stammt. |
→ Der Kernmechanismus ist anders, aber die Oberfläche oft ähnlich: | Bei DIS geht es um Spaltung, bei BPS um Instabilität – aber die beiden können sich im Alltag schnell gleich anfühlen. |
→ Selbstwahrnehmung als Schlüssel: | DIS-Betroffene können ihr Verhalten auf Anteile zurückführen („Das war nicht ich, das war ein anderer Teil“), während Menschen mit BPS das Gefühl haben, die Schwankungen direkt zu erleben. Aber der Effekt nach außen ist ähnlich: Chaos, Unsicherheit, emotionale Überreaktionen. |
Selbstwahrnehmung und Subkultur-Dynamiken – Selbstschutz:
DIS und die Betonung der Fragmentierung | Warum die Abgrenzung? |
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→ Wenn die Subkultur stark darauf Wert legt, die DIS als „anders“ oder „besonders“ zu betrachten, grenzt man sich von Diagnosen wie BPS ab, um die eigene Identität zu schützen. → In der Subkultur könnte das Gefühl herrschen: „Ich bin nicht instabil, ich habe Anteile, das ist etwas ganz anderes.“ Aber im Kern zeigen sich ähnliche Mechanismen. | Es könnte eventuell ein Schutzmechanismus sein. DIS-Betroffene, die selbst Stigmatisierung erfahren haben, wollen sich von BPS abheben, weil sie die gleiche Abwertung fürchten. |
Selbstwahrnehmung und Subkultur-Dynamiken – Hierarchiedenken (Trauma im Superlativ):
DIS und die Betonung der Fragmentierung | Warum die Abgrenzung? |
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→ DIS ist nicht exklusiv für Superopfer | Traumafolgestörungen entstehen, weil der Mensch überfordert ist – nicht, weil ein „Trauma-Olymp“ erreicht wurde. DIS kann auch bei komplexen, aber „alltäglichen“ Traumata entstehen (z. B. emotionale Vernachlässigung, Inkonstanz der Bezugspersonen). |
→ Die Leidenshierarchie ist schädlich | Der implizite Wettkampf, wer „mehr Trauma“ erlebt hat, macht die Spaltung zwischen DIS und anderen Störungen wie BPS nur größer. Dabei führt Trauma zu verschiedenen Reaktionen – welche Störung entsteht, hängt nicht von der Schwere, sondern von Faktoren wie Persönlichkeit, Bindungserfahrungen und Resilienz ab. |
Michaela Huber und ähnliche Stimmen haben sicherlich viel zur Sichtbarkeit von DIS beigetragen. Aber ihre Narrative – bewusst oder unbewusst – haben auch DIS glorifiziert und die Trennlinie vertieft. Das Tragische hierbei ist: Indem BPS (oder andere Traumafolgestörungen) nicht gleichwertig thematisiert werden, entsteht die Idee, dass DIS „echtes Trauma“ repräsentiert, während BPS oft als „instabile Persönlichkeit“ abgetan wird.
Diese – zumeist von Therapeuten hervorgerufene – Spaltung macht auch etwas mit Betroffenen. Anstatt sich solidarisch zu zeigen, entsteht eine Konkurrenz um „die schlimmste Diagnose“ – was den eigentlichen Schmerz nur vertieft. Das ist ein Kampf gegeneinander, den es unter Betroffenen einer Traumafolgestörung nicht geben darf. Auch der Selbstwert wird an die Diagnose gekoppelt. Wer eine DIS hat, fühlt sich „besonders“, wer BPS hat, fühlt sich „weniger wert“ – obwohl beide Diagnosen nur Wege sind, mit unfassbarem Leid umzugehen.
Ich fordere (meine Forderung richtet sich an die Therapeuten): die Abschaffung der Hierarchien und die Anerkennung aller Traumafolgestörungen als gleichwertig. Traumata dürfen nicht spalten! Egal ob BPS, DIS oder eine andere Störung – der Ursprung ist oft Schmerz, Verlust und Überforderung. DIS-Betroffene sind nicht „besonderer“ und BPS-Betroffene sind nicht „schwieriger“. Beide tragen die Last von Trauma, nur auf unterschiedliche Weise.
Was kann man gegen diese Spaltung tun?
Fachleute sollten nicht mehr von „extremen Traumata“ sprechen, als wäre das exklusiv für DIS. Stattdessen könnte man Trauma als Spektrum darstellen, das zu unterschiedlichen Symptomen führt.
Die Idee, dass BPS „toxisch“ und DIS „mystisch“ ist, muss durchbrochen werden – das beginnt aber auch bei uns Betroffenen selbst.
Betroffene könnten sich zusammenschließen, um ihre Gemeinsamkeiten zu betonen: Es geht nicht um die Diagnose, sondern um das Leid und die Heilung.
Mir ist durchaus bewusst, dass es ein langer Weg ist, bis sich diese festgefahrenen Strukturen ändern können. Dieses Hierarchiedenken und -fühlen hat sich in mehreren Jahrzehnten entwickelt. Doch irgendwann sollte man damit beginnen, auf diese toxischen Vorgänge hinzuweisen. Vielleicht ist es dann tatsächlich die neue Traumatherapeuten-Generation, von der ich in diesem Artikel bereits sprach, die eine Änderung bewirkt.
Quellen: