Autorin: Nora Sillan
Seitens der UBSKM gibt es seit Jahren die Forderung nach der Einrichtung eines Landesbetroffenenrats in jedem Bundesland. Dieser sei „mindestens genauso so wichtig wie die Landesmissbrauchsbeauftragten“, betont Kerstin Claus in einem Interview aus dem Jahr 2022 und nimmt auf die Expertise der Betroffen Bezug. Bislang sind die Bundesländer Rheinland-Pfalz, Hessen und Thüringen diesbezügliche Vorreiter. Doch kann ein derartiger Betroffenenrat auf Landesebene automatisch diesen Anforderungen gerecht werden?
Problematisch wird es nämlich genau dann, wenn diese „Expertise“ eine Verschwörungstheorie stützt, wie es gerade in Rheinland-Pfalz geschieht. Der Landesbetroffenenrat RLP – im Frühjahr 2023 als erster seiner Art gegründet – bietet der Verbreitung von Thesen rund rituelle Gewalt eine Bühne (und erinnert damit frappant an den Betroffenenrat auf Bundesebene, dessen Einstellungen zum Thema hinlänglich bekannt sind).
Doch der Reihe nach: Rheinland-Pfalz hatte im Jahr 2022 ein Projekt mit dem Titel „Pakt gegen sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen“ gestartet, dessen Fachkommission, Arbeitsgruppen und Betroffenenrat Handlungsempfehlungen für die Landesregierung erarbeiten sollen. Ende 2021 wurde hierzu von offizieller Seite eine Ausschreibung veröffentlicht:
Das verlinkte PDF ist mittlerweile vom Server der Landesregierung gelöscht, aber im Internetarchiv unverändert abrufbar:
Gesucht wurden damals 6 bis 8 Erfahrungsexpert_innen aus Rheinland-Pfalz, die „stellvertretend die Belange von betroffenen Menschen“ vertreten würden: „Menschen aus unterschiedlichen rheinland-pfälzischen Regionen, verschiedenen Alters, und mit verschiedenen Erfahrungen in Hilfesystemen“ sollten angesprochen werden.
In Folge gründete sich das Gremium aus 8 Mitgliedern (sechs Frauen, ein Mann, eine nicht binäre Person im Alter zwischen 18 und 67 Jahren) mit dem Ziel, ehrenamtlich beratend für die Landesregierung tätig zu sein. Im Rahmen des Pakts gegen sexualisierte Gewalt sind drei Mitglieder des Betroffenenrats – neben namhaften Fachexperten – in der insgesamt neunköpfigen Kommission vertreten, welche gemeinsam mit ca. 180 Fachkräften in Arbeitsgruppen Empfehlungen erarbeitet hat.
Ein Mitglied des Betroffenenrats RLP, Theresa Dutcher, bloggt auf der Webseite „DIS-SOS“ über die Dissoziative Identitätsstörung und erwähnt dort in einem Rundumschlag gegen Kritiker der RG-These „Gruppierungen, die sich Mind Control bedienen“ und dies „auch heute noch tun„. Ihre beratende Arbeit für die Landesregierung, die sie ebenfalls auf ihrer eigenen Webseite anführt, beschreibt Dutcher folgendermaßen:
„Für mich war es für die Entscheidung wichtig, dass es bei einem Betroffenenrat nicht um klassischen Aktivismus geht, sondern wir einen Auftrag von der Landesregierung haben. Bei uns besteht der explizit darin, die Landesregierung zu beraten und auch eigene Ideen umzusetzen. Mit so einem Auftrag steht man ganz anders da, es ist schon eine Bereitschaft vorhanden, uns zuzuhören und es werden einem ganz andere Türen geöffnet.“ (Quelle)
Diese „geöffneten Türen“ schlagen sich u.a. in der oben bereits erwähnten und im September 2024 präsentierten Broschüre nieder, welche essenzielle Kinderschutzthemen anspricht, jedoch leider vom Narrativ rituelle Gewalt unterwandert ist:
40 Handlungsempfehlungen an die Landesregierung
Die Suchabfrage des Wortes „rituell“ in diesem 156 Seiten umfassenden Dokument mit 40 Handlungsempfehlungen ergibt 13 Treffer zum Thema rituelle Gewalt, das prominent in der Broschüre verankert ist und vom Landesbetroffenenrat auch explizit hervorgehoben wird:
„Wir begrüßen den professionellen Umgang mit dem Thema sexualisierter Gewalt in organisierten und rituellen Strukturen innerhalb des Paktes. Trotz problematischer Medienberichterstattung auch während der Arbeitsphase war der Austausch dazu besonnen, unaufgeregt und fachlich fundiert. Es wurde schnell klar, dass weiterführende Hilfen noch nicht möglich sind, weil es schon an den Grundlagen von öffentlicher Aufklärung und Wissen bei Fachpersonen mangelt. Wir begrüßen Awareness-Arbeit, die hilft, den Begriff zu entmystifizieren, und eine ähnliche Grundhaltung aufweist, wie es die Arbeit in den Arbeitsgemeinschaften getan hat. Das trägt unserer Meinung nach zur Aufdeckung von Taten bei und verbessert die Stellung der Betroffenen.“ (Broschüre, S. 14)
Diese versuchte „Awareness-Arbeit“ erschöpft sich jedoch in einer Aufzählung der bekannten und bereits widerlegten Argumentationsmustern von vermeintlichen „Falschdarstellungen in den Medien“ bzw. dem Monieren über „noch wenig systematisches Wissen“ zum Thema ORG (Broschüre, S. 50f.). Mit keiner Silbe wird die wissenschaftlich fundierte Kritik am Narrativ erwähnt – sondern im Gegenteil bloß „more of the same“ gefordert.
Exkurs: Braunschweiger Justizskandal Josephine R.
Beispielsweise wird unter dem Punkt „Zielumsetzung“ zu ORG von einem „interdisziplinären Netzwerk, Fortbildungs- und Supervisionsangeboten“ und einer „innerministeriellen Arbeitsgruppe“ gesprochen sowie der Ernstnahme des Themas – auch bei „Polizei und Justiz“ (vgl. Broschüre, S.51f.).
Apropos Justiz – an dieser Stelle ein kurzer, aber äußerst aktueller Exkurs: In Justizkreisen schlägt gerade der Fall Josephine R. aus Goslar hohe Wellen, weil „zwei unschuldige Menschen um Haaresbreite einer jahrzehntelange Gefängnisstrafe entgangen sind“. Nach beinahe 700 Tagen unschuldig in Haft wurde das erstinstanzliche Urteil vom Bundesgerichtshof im März 2024 aufgehoben und die beiden Eltern nun freigesprochen.
Worum es dort ging – und was in erster Instanz zu einer Verurteilung geführt hatte – ähnelt frappant den üblichen Berichten über rituelle Gewalt: „allgegenwärtige Täter, die sadistische Rituale an ihr [Josephine R.; Anm.] vollführt hätten, von Massenvergewaltigungen in Turnhallen, schwarze Messen im Wald, Abtreibungen“ (Quelle)
Angesichts dieses gewaltigen Justizfehlers erschreckt die unkritische Übernahme der Empfehlung für das „Infoportal Rituelle Gewalt“ auf Seite 51 der Broschüre umso mehr, weil dort bekanntlich sämtliche Versatzstücke des Narrativs von ritueller Gewalt zu finden sind. Zur Erinnerung: Wir sprechen hier nicht von einem Marketing-Folder einer Selbsthilfeeinrichtung, sondern von offiziellen und handlungsleitenden Empfehlungen an eine Landesregierung.
Die falschen Falschinformationen
Zurück zum Landesbetroffenenrat RLP, in dessen Selbstbeschreibung es unter der Überschrift „Falschinformationen vermeiden“ heißt: „Falschinformationen und verzerrten Darstellungen von Fakten, sowie reißerischer Ausbeutung von persönlichen Geschichten werden klare, transparente und wissenschaftlich fundierte Stellungnahmen entgegen gesetzt und, wo nötig, fehlende Studien angeregt.“
Dass in der Broschüre in Bezug auf ORG jedoch (bereits debunkte) Falschinformationen eingesetzt werden, um genau das im selben Atemzug der Aufklärung zu unterstellen, ist mehr als traurige Ironie. Damit betreibt der Landesbetroffenenrat – analog zu seinen Kollegen auf Bundesebene – erneut das bekannte Medienbashing mit den immergleichen Argumenten, so zum Beispiel mit folgendem Statement: „Dass die Aussagen von Betroffenen für Verschwörungstheorien missbraucht werden, führt zu einem Verlust ihrer wahrgenommenen Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft. Aktuell tragen Medien, die das Thema einseitig skeptisch aufgreifen, zusätzlich zu einer Verschlechterung der Stellung von Betroffenen bei. Es bedarf einer sorgfältigen Auseinandersetzung, die Betroffenen und ihren Lebensgeschichten Raum gibt. Die Realität von Betroffenen gesellschaftlich sichtbar und verstehbar zu machen, kann diese Art der zusätzlichen Gewalterfahrung für sie eindämmen und zu mehr Klarheit für alle führen. (…) Die Anwendung der sogenannten Null-Hypothese bei qualitativen Verfahren der Befragung und zur Bewertung von deren Glaubhaftigkeit ist zu überdenken. (…)“ (Broschüre, S. 52)
Dem selbstgewählten Postulat nach „transparenten und fundierten Stellungnahmen“ wird der Landesbetroffenenrat mit dieser Darstellung – und dem gefährlichen Vorschlag über die Aushebelung der Null-Hypothese – jedenfalls nicht gerecht. Dies könnte eventuell auch in dessen Zusammensetzung liegen, denn: „bei der Auswahl der Mitglieder wurde auf Vielfalt und ein breites Spektrum von persönlicher Expertise geachtet“. Dieses „breite Spektrum“ scheint leider wirklich breit zu sein, wenn es sogar die offene Unterstützung einer Verschwörungstheorie umfasst.
Ein instrumentalisiertes Gremium
Vom Betroffenenrat auf Bundesebene mag man ja mittlerweile nichts anderes gewohnt sein, es folgt jedoch unweigerlich die Überlegung, wie es 2023/24 angesichts aller Aufklärungsarbeiten immer noch sein kann, dass sich neu (!) gegründete Gremien auch auf Landesseite derart einseitig entgegen Fakten und Aufklärung positioniert, um politischen Einfluss geltend zu machen?
Denn genau damit läuft das Gremium in seiner Gesamtheit Gefahr, für gewisse gesellschaftliche Interessen, – das Festhalten am Verschwörungsnarrativ rituelle Gewalt – instrumentalisiert bzw. sogar missbraucht zu werden: Es braucht hierzu lediglich ein paar wortgewandte und gut vernetzte Mitglieder, um gezieltes Agenda Setting zu betreiben und entgegen jeglicher wissenschaftlicher Beweisbarkeit an einem widerlegten Narrativ festzuhalten bzw. dieses gezielt im politischen Diskurs auf Landesebene zu implementieren.
Das Fazit aus alldem? Erneut fällt die breite Masse an Betroffenen sexuellen (Kindes)missbrauch aus unterschiedlichsten Tatkontexten unter den Tisch, deren Stimmen angesichts der überlaut geführten Diskussion rund um rituelle Gewalt & Co. unterzugehen drohen.
Kann das wirklich das Ziel von Kinderschutz und Missbrauchspräventionsarbeit sein, wie es sich UBSKM Kerstin Claus im Eingangs erwähnten Interview aus 2022 vorstellt? Im Sinne der vielen Missbrauchsopfer aus unterschiedlichen Tatkontexten bzw. Geschädigten nach suggestiven Fehltherapien ist so ein Vorgehen jedenfalls nicht. Und um diese Menschen sollte es eigentlich gehen.
Oder etwa nicht?
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