Trauma- vs Fantasie Model

Heute bin ich über die Verbreitung einer These gestoßen, die mir sogleich kritisch ins Auge fiel, weil irgendetwas unschlüssig scheint:

Quelle: https://www.degpt.de – PDF, S. 4

Die Aussage stammt 1:1 aus einer PDF-Broschüre der Deutschsprachige Gesellschaft für Psychotraumatologie (DeGPT) mit evidenzbasierten Antworten auf die wichtigsten Fragen u.a. zu DIS.

Die Webseite der DeGPT finde ich – an sich – gut, um sich über die Posttraumatische Belastungsstörung zu informieren, da kann ich sie durchaus empfehlen. Schwieriger wird es jedoch, wenn es um die Dissoziative Identitätsstörung geht. Vielleicht liegt das aber auch an dem Einfluss bestimmter Traumatherapeuten, die dort Mitglied waren und/oder Mitglied sind, wie unter anderem Ursula Gast und einige andere Traumatherapeuten, die der Satanic Panic Verschwörung angehören.

Ich habe den Eindruck, dass unterschiedliche Quellen und Aussagen, so auch eigene Interpretationen zusammengemixt werden. Die Erwähnung der WHO unterstreicht – fast schon manipulativ – die Korrektheit der Gesamtaussage, denn der hergestellte Kontext zur Weltgesundheitsorganisation erweckt den Eindruck uneingeschränkter Seriosität. Doch die WHO kann nicht wirklich etwas zum Thema Dissoziative Identitätsstörung beitragen, außer dass sie wiedergibt, was die Wissenschaft herausfand: nämlich, dass die Dissoziative Identitätsstörung natürlich eine Traumafolgestörung ist.

Worum geht es konkret?

Es geht um die Entstehung der Dissoziativen Identitätsstörung und um zwei unterschiedliche Modelle, die – so wird es postuliert – sich gegenüber stehen: Zum einem gibt es das Trauma-Model und zum anderen das Fantasie-Model.

Beide Modelle sind sehr starre Muster, die ich hier zu entschlüsseln versuche.

Den Quellen folgend stößt man:

Alle diese Quellen sind hochinteressant. Ich gehe nicht mit allem konform, u.a. nicht mit der These, die die Fantasie komplett von der Entwicklung der Dissoziativen Identitätsstörung abtrennt.

Da teile ich die Sichtweise von Olivier Dodier,  Henry Otgaar und Steven Jay Lynn:

Quelle: Eine kritische Analyse von Mythen über dissoziative Identitätsstörung

Ich habe den Begriff Entwicklung hervorgehoben, denn dieser Aspekt ist sehr wichtig und nicht zu verwechseln mit der Entstehung der Dissoziativen Identitätsstörung.

Für die Entstehung einer DIS sind traumatische Erfahrungen verantwortlich, darum sprechen wir hier auch von einer Traumafolgestörung. In einem anderen Artikel schrieb ich mal:

→ Dissoziation passiert – Dissoziative Identitätsstörung aber entwickelt sich.
→ Wenn ein Kleinkind etwas schwer Traumatisches erlebt, hat es mitunter die Chance, es abzuspalten. Dieser abgespaltene Zustand samt Trauma ist wie eingefroren.
→ Fantasie, Vorstellungsvermögen, Identifikation und Imagination sind wesentliche Grundpfeiler dafür, dass sich ein abgespaltener Zustand irgendwann zu einem Identitätsanteil mit einem eigenen neuronalen Netzwerk entwickeln kann. Das ist oftmals ein Weg von Jahren, nicht aber von Minuten oder Stunden.
© Marvel Stella – Facebook-Beitrag

In dem gezeigten Absatz der PDF-Datei von der GeGPT wird behauptet – zumindest aber in dem Kontext suggeriert – dass Betroffene einer Dissoziativen Identitätsstörung keine ausgeprägte Fantasie haben und auch nicht suggestibel seien.

Ich stelle nun die folgende „Behauptung“ in den Raum:

Wäre das tatsächlich so, dann hätten die traumatisierten Kinder nicht die Möglichkeit „in Gedanken weg zu gehen“, wie es der Experte im Bereich der Dissoziativen Identitätsstörung Frank W. Putnam formulierte, sondern wären ggf. schizophren geworden.

In den Publikationen von Antje A. T. S. Reinders and Dick J. Veltman wird – ähnlich wie bei Dr. Yolanda Schlumpf – auf die neuronalen Veränderungen im Gehirn hingewiesen. Sie erwähnen allerdings auch, dass diese Veränderungen nicht nur bei Menschen mit DIS, sondern bei Traumastörungen allgemein, so also auch bei PTBS- und Borderline-Betroffenen auftreten.

Ich zitiere im Weiteren aus einer Studie:

Antje A. T. S. Reinders and Dick J. Veltman, S. 413

Hier wird darüber informiert, dass sich in den DIS-simulierten gesunden Kontrollgruppe Menschen mit einer hohen und einer niedrigen Fantasieanfälligkeit/Neigung befanden.

Worüber – auch im weiteren Text – nichts erwähnt wird, ist das Ausmaß der Fantasie bei den tatsächlichen DIS Betroffenen. Und genau hier ist m.E. der springende Punkt, der für Interpretationsprobleme sorgt, die ganz offensichtlich aufgetreten sind:

Nur weil sich in der Kontrollgruppe auch Menschen mit einer ausgeprägten Fantasie befanden, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass die – ebenso ausgeprägte – Fantasie bei den DIS Betroffenen fehlt.

In der empirischen Untersuchung von sechs Mythen über dissoziative Identitätsstörung – Brand et al., 2016 werden die folgenden Mythen aufgelistet.

  • (1) Überzeugung, dass DIS eine Modeerscheinung ist,
  • (2) Überzeugung, dass DIS hauptsächlich in Nordamerika von DIS-Experten diagnostiziert wird, die die Störung überdiagnostizieren,
  • (3) Überzeugung, dass DIS selten ist,
  • (4) Überzeugung, dass DIS eher eine iatrogene als eine traumabasierte Störung ist,
  • (5) Überzeugung, dass DIS dieselbe Entität wie eine Borderline-Persönlichkeitsstörung ist, und
  • (6) Überzeugung, dass die DIS-Behandlung für Patienten schädlich ist.

Hier meine Antworten, die sich aus dem aktuellen wissenschaftlichen Stand entwickelt haben:

  • zu 1) Moderescheinung ist das falsche Wort. Man sollte stattdessen sagen, dass kulturelle Faktoren eine sehr große Rolle spielen.
  • zu 2) Jeder renommierte Psychotherapeut, egal aus welchem Land, bestätigt, dass es in den 70/80er Jahren in Nordamerika einen auffällig steilen Anstieg gab. Verantwortlich dafür waren u.a. das Buch »Sybil« von Flora Rheta Schreiber und Cornelia Wilbur sowie das Buch »Michelle Remembers« von Michelle Smith und Lawrence Pazder. Sogar im Handbuch der Borderline- Störungen von Kernberg, Herpetz, Dulz und Sachsse spricht man davon, dass die Diagnose in den 1980er Jahren in den USA expandierte. Unter anderem auch, weil die Auseinandersetzung mit der Störung durch eine gesellschaftliche Politisierung verfälscht wurde (vgl. ebd. S. 433).
  • zu 3) Ich bin persönlich davon überzeugt, dass eine ausgeprägte DIS überaus selten ist. Was in den 80er Jahren in den USA passierte, geschieht heute im deutschsprachigen Raum. Es gibt durch den erwiesenen Übereifer einiger Traumatherapeuten viele Falsch-Diagnosen. Vielleicht hilft es, sich die Frage zu stellen, wieso im ICD-11 die partielle dissoziative Identitätsstörung, die nichts anderes ist als eine fragmentierte – inkohärente Borderlinestörung – hinzugefügt wurde. Damit versucht man sich den gegenwärtigen Strömungen anzunähern.
  • zu 4) Dass die Störung iatrogen erzeugt werden kann, wurde bereits bewiesen. Damit wird nicht gesagt, dass jede Dissoziative Identitätsstörung iatrogen erzeugt wurde. Und selbst wenn jemand durch suggestiven und therapeutischen Einfluss eine DIS entwickelt, heißt es nicht, dass er keinen Missbrauch erlebt hat. Die meisten Kritiker sind fest davon überzeugt, dass es sich auch im Falle der iatrogenen Erschaffung einer DIS um Patienten handelt, die in ihrer Kindheit schwer missbraucht worden sind.
  • zu 5) Die Frage, ob die Dissoziative Identitätsstörung ein Subtyp der Borderlinestörung ist bzw. wie nahe sich die beiden Krankheitsbilder stehen, wurde noch nicht abschließend geklärt. Die seriöse Wissenschaft befindet sich mittendrin in der Forschung. Insofern kann man hier nicht von einem Mythos reden.
  • zu 6) Genau das lässt sich leider zunehmend beweisen. In den meisten Fällen wird die DIS im traumatologischen Kontext falsch, teilweise auch verstärkend und unseriös behandelt. Belege gibt es dafür genug, die neusten Beweise stammen aus der Schweiz, siehe dazu das Gutachten zum Skandal in der Klinik Littenheid.

Um nun wieder den Bogen zu spannen zum Auszug aus den Materialien der DeGPT, der im Internet geteilt wird.

Diese Aussage:

Quelle: https://www.degpt.de – PDF, S. 4

ist in ihrer Resolutheit falsch. Das Gegenteil passiert. Zum einem wird zunehmend erforscht, in welchem Ausmaß die DIS eine Traumafolgestörung ist und zum anderen wird zunehmend bewiesen, dass die DIS iatrogen erzeugt werden kann. Beides trifft parallel zu. Das eine stellte das andere nicht in Abrede.

Diese Aussage:

Quelle: https://www.degpt.de – PDF, S. 4

ist in ihrer Resolutheit ebenso falsch. Ja, Fantasie kann dazu führen, dass Menschen eine DIS imitieren, aber genauso haben Menschen mit einer tatsächlichen DIS ein sehr hohes Maß an Fantasie.

Warum wird der irreführende Kontext erstellt, der den Leser glauben lässt, Fantasie lässt eher auf eine imitierte DIS schließen?

Ich kann hier nur spekulieren, denn es ist mir nicht möglich, in die Köpfe der DeGPT-Autoren bzw. Verfasser hineinzuschauen. Vermuten lässt sich aber, dass die Fantasie-These mit der Programmierungs-Mind Control-These kollidiert.

Die Wissenschaft, die zu beweisen versucht, dass Fantasie ganz wichtig ist, damit sich die dissoziierten Zustände zu eigenständigen Identitäten entwickeln, wird hier in dem vorgetragenen Kontext unglaubwürdig.

Der aktuelle Stand der Wissenschaft würde bedeuten, dass die Erschaffung der DIS im Opfer selbst angelegt und durch Traumata bzw. Trauma-Verarbeitungsstrategie gefördert wird. Das wiederum unterstützt nicht die These der Programmierung und Erschaffung dissoziativer Identitäten in satanistischen Kulten.

Und da schließt sich der Kreis, wenn man sich vor Augen hält, welche Mitglieder u.a. in der DeGPT aktiv sind bzw. dass einige davon der Satanic Panic Verschwörung angehören.

Facebook-Beitrag:

Empfehlung:

Eine kritische Analyse von Mythen über dissoziative Identitätsstörung:

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