Im vergangenen Jahr habe ich das Web-Archiv für mich entdeckt. Fand ich es am Anfang noch spannend, hatte es bald schon den Anschein, die Büchse der Pandora geöffnet zu haben.
Falls ich in der Zeitfolge heute hin und her springe, dann liegt es an meiner Reise in die Vergangenheit. |
Ich habe sie alle „wiedergetroffen“.
Wie ich das meine? Ich war vor ca. 20 Jahren mittendrin in der sogenannten DIS-Subkultur. März 2024 habe ich auf Twitter geschrieben:
Es gab vor Jahrzehnten eine Flut an Selbstdiagnosen. Überall waren Betroffene einer #MutiplenPersönlichkeitsstörung = eine Epidemie. Ich kann mich an die Selbsthilfeseite (siehe Auszug) vage erinnern. Die Betreiber sprachen mir aus dem Herzen. #DissoziativeIdentitätsstörung https://t.co/xzK6KcfS5G
— Stella (@marv_stella) March 30, 2024
Meine Erinnerungen dazu:
Vor einigen Jahrzehnten gab es ein sehr bekanntes Selbsthilfeforum für „Multis“, das in seiner Hochphase vor etwa 20 Jahren besonders aktiv war. Das Geschehen dort verfolgte ich hauptsächlich als Außenstehende, ohne mich aktiv zu beteiligen. Das Forum war geprägt von einer Vielzahl von Betroffenen, die sich als Opfer rituell-satanischer Gewalt darstellten. Es gab sogar spezielle Bereiche, die ausschließlich für Themen rund um sogenannte Kult-Erfahrungen vorgesehen waren. Diese waren für mich jedoch nicht zugänglich – und auch nicht relevant, da ich mich mit dieser spezifischen Thematik nicht identifizieren konnte. Mein eigener Hintergrund bezog sich auf einen eher „gewöhnlichen“ häuslichen Missbrauch, der mich innerhalb dieser Gemeinschaft zu einer Art Außenseiterin machte.
Was mir jedoch besonders auffiel, war die Intensität der Auseinandersetzungen innerhalb der Community. Selbst kleinere Meinungsverschiedenheiten führen häufig zu eskalierenden Konflikten, die sich über längere Zeiträume hinziehen. Diese Dynamik war geprägt von wiederholten, sehr emotionalen Streitereien und gegenseitigen Vorwürfen, die dazu führten, dass sie sich zunehmend selbst belasteten und ja, auch beschädigten.
Nach einer gewissen Zeit beschloss ich, mich vollständig aus diesen Bereichen zurückzuziehen, da ich die Dynamik als sehr belastend empfand. Diese Erfahrungen führten auch dazu, dass ich mich zeitweise aus der gesamten DIS-Szene und teilweise sogar aus dem Internet zurückzog. Dennoch bleiben die Erinnerungen an diese Zeit lebendig: eine Subkultur, die in ihrer damaligen Form stark von internen Spannungen geprägt war, bevor externe Kritiker überhaupt eine Rolle spielten. Heute scheint sich der Fokus der verbliebenen, sehr aktiven Mitglieder auf den Umgang mit Skeptikern und Kritikern verlagert zu haben.
Nach meinem Thread auf Twitter/X setzte ich meine Suche fort und erkundete eine Vielzahl miteinander verknüpfter Webseiten. Es war weniger ein „Klicken“ als vielmehr eine Reise durch virtuelle Räume, die eine besondere Verbindung zueinander hatten. Diese Räume, die öffentlich zugänglich waren, vermittelten dennoch oft den Eindruck, private Bereiche zu betreten – Bereiche, die ursprünglich nicht für die breite Öffentlichkeit gedacht schienen.
Besonders zwischen den Jahren 1995 und 2010 entstand eine bemerkenswerte Anzahl von Webseiten, die von Betroffenen der Dissoziativen Identitätsstörung (DIS) betrieben wurden. Viele dieser Plattformen hatten ein gemeinsames Ziel: Aufmerksamkeit auf die berichteten Erfahrungen von ritueller Gewalt und satanischem Missbrauch zu lenken. Sie waren laut, wollten gehört werden und vernetzten sich innerhalb eines dynamischen Netzwerks.
Mit der Zeit wurden viele dieser Webseiten jedoch eingestellt, und das, was einst eine Vielzahl von Stimmen vertrat, ist heute stark reduziert. Die Begriffe haben sich ebenfalls gewandelt: Anstelle von „ritueller satanischer Gewalt“ wird heute von „ritueller organisierter Gewalt“ gesprochen. Trotz dieser Veränderungen blieben einige der damals aktiven Betroffenen bis zu ihrem Lebensende mit dem DIS-Netzwerk verbunden, während andere weiterhin aktiv Teil dieser Gemeinschaft sind.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass dieses Netzwerk nicht nur von Betroffenen geprägt wurde, sondern auch von Fachpersonen, die eng mit ihnen kooperierten. Diese Beziehungen schufen eine Art soziale Hierarchie, in der sich einige Akteure an der Spitze sahen – sei es durch ihre Verbindungen zu Fachleuten oder durch ihre Position in der Gemeinschaft. Diese Strukturen weisen mitunter Parallelen zu einer sektenähnlichen Organisation auf, in deren Status und Einfluss eine zentrale Rolle spielt.
Besonders auffällig war die Gestaltung der Verlinkungen auf den Webseiten. Während Betroffene in den unteren Hierarchieebenen hauptsächlich andere Betroffene verlinkten, die ein unterstützendes Netzwerk schaffen wollten, führten die Linklisten der „oberen Ränge“ vermehrt zu Fachseiten oder renommierten Institutionen:
Psychotrauma-Zentrum-Niedersachsen EMDR-Institut Arne Hofmann Dissoc deutsche ISSD ISSD amerikanische ISSD DIPT Deutsches Institut für PsychoTraumatologie RitualAbuse mehrsprachige Seite über Überlebende, deren Heilung u.v.m. deutscher Text HIER Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) F44 nach dem ICD-10 Kapitel V (F) Dissoziative Störungen nach dem DSM-IV über Dissoziative Amnesie 300.12 (F44.0) (vormals Psychogene Amnesie) über Dissoziative Fugue 300.13 (F44.1) (vormals Psychogene Fugue) über Dissoziative Identitätsstörung 300.14 (F44.8 1) (vormals Multiple Persönlichkeitsstörung) über Depersonalisationsstörung 300.6 (F48. 1) über nicht näher bezeichnete Dissoziative Störung 300.15 (F44.9) |
Dies deutet auf eine Differenzierung innerhalb der Community hin, bei der die Anerkennung durch die Fachwelt als Statussymbol diente.
Die Dynamik innerhalb des Netzwerks war nicht frei von Spannungen. Es gab deutliche Machtstrukturen und Rivalitäten, die den Umgang miteinander beeinflussten. Besonders die engen Verbindungen zur damaligen Fachwelt schienen bei einigen Akteuren das Gefühl zu erzeugen, etwas „Besonderes“ oder „Besseres“ zu sein. Diese Wahrnehmung führte gelegentlich zu einem Umgangston, der als überheblich oder exklusiv wahrgenommen werden konnte.
Im Rückblick auf diese Entwicklungen zeigt sich, wie sensibel der Umgang mit der Diagnose DIS und den damit verbundenen Erlebnissen sein muss. Eine unreflektierte Darstellung von Traumata oder die Konstruktion von sozialen Hierarchien innerhalb einer Gemeinschaft kann das Verständnis und die Unterstützung echter Betroffener gefährden.
Die historischen Dynamiken des DIS-Netzwerks verdeutlichen die Notwendigkeit, differenziert und kritisch mit diesen Strukturen umzugehen, um sicherzustellen, dass die Unterstützung und der Schutz tatsächlicher Betroffener immer im Vordergrund stehen. Es ist wichtig, den Fokus auf die realen Bedürfnisse der Betroffenen zu richten und dabei die Grenze zwischen authentischer Aufarbeitung und potenzieller Instrumentalisierung oder Überhöhung nicht aus den Augen zu verlieren.
Interessant war im Übrigen der folgende Linkhinweis:
- „RitualAbuse“ mehrsprachige Seite über Überlebende, deren Heilung u.v.m. deutscher Text HIER
Dieser Link führte zu einer damals gängigen HTML-Seite mit dem Titel „Thorsten Becker und Patrick Felsner: Ritueller Missbrauch„, die von 2001 bis Mitte 2011 auf der Seite „http://ra-info.org“ online war. Ich habe überlegt, den Artikel als PDF einzustellen, fand ihn dann aber auf einer anderen Seite – eine der wenigen, die noch vorhanden und im Jahre 2006 buchstäblich „vereist“ ist: http://dissoc.de (von becker1-1.html bis becker1-7.html).
Auf Seite 7 steht unter „7. Hilfen für Helfer im Internet: Arbeitsgruppe InterNet„
Destruktive Kulte,
Rituelle Gewalt und DissoziationArbeitsgruppe InterNet
http://www.dissoc.de
Th. Becker, P. Felsner, U. & L. Fröhling, M. Huber
Und genau das sind – neben einigen anderen – die Protagonisten, die damals rauf und runter zitiert wurden. Sagte ich bisher, es seien Skripte gewesen, so musste ich heute feststellen, dass das, was in den 2000er Jahren über rituellen Kult-Satanismus herumgegangen war, wie eine Bibel behandelt wurde.
Eigentlich müsste ich das, was ich hier nun vor mir habe, als eine Goldgrube – für mich als Skeptikerin – betrachten: Aber nein – es ist die Büchse der Pandora! Und ich bin mittendrin.
Der Screenshot auf der rechten Seite stammt im Übrigen aus einem Multi-Forum, und zwar aus genau diesem Forum, an das ich mich weiter oben erinnert habe.
Wir schreiben das Jahr 2006.
Der Bereich zeigt die damals angebotene Leselektüre für Multiple Persönlichkeiten:
Satanismus … einfach überall Satanismus.