Gefährliche Vorbilder

Manchmal wünsche ich mir, dass es eine unabhängige und tatsächlich objektive Instanz gibt, die die Therapie schwertraumatisierter Patienten beurteilt. Allerdings gibt es im Bereich der Psychotraumatologie Vorbilder, deren Konzept für die Patienten riskant ist. Unter diesen Vorbildern findet sich auch die Psychiaterin Cornelia B. Wilbur (26. August 1908 – 20. September 1992).

Wilbur wurde durch das Buch „Sybil“, das die Behandlung ihrer multiplen Patientin behandelte, bekannt. Wilbur und ihre Co-Autorin Flora Rheta Schreiber verdienten mit diesem Buch, das die Realität bewusst und absichtlich stark verzerrte, ein Vermögen – und dies auf Kosten der Patienten mit dem Namen Shirley Ardell Mason.

Mason wurde bis über Wilburs Tod hinaus in einer kompletten Abhängigkeit gehalten. Während Wilbur und Schreiber reich und bekannt wurden, verlor Mason alles, wofür sie vor der Therapie gekämpft hatte. Siehe dazu auch die umfangreichen Recherchen von Debbie Nathan:

Neben dem damals üblichen Einsatz des gefährlichen „Wahrheitsserums“ Amobarbital, der zu einem Schaden bei Mason und zur Einpflanzung falscher Erinnerungen beitrug, war auch – und vor allem – die suggestive und dominante Vorgehensweise von Wilbur dafür verantwortlich.

::::::::::::::::::::::::::::::::

Man kann natürlich viel schreiben. Es ist leicht, nachträglich allerlei Behauptungen aufzustellen – insbesondere dann, wenn die betreffende Person schon tot ist. Anders ist es jedoch, wenn Cornelia B. Wilburs Vorgehen 1:1 auf Video festgehalten wurde.

Die aktuelle Netflix-Dokumentation Monsters Inside: Die 24 Gesichter des Billy Milligan zeigt Original-Ausschnitte, wie Cornelia B. Wilbur in den 1970er Jahren als Expertin für multiple Persönlichkeiten hinzugezogen wurde, um den Straftäter Billy Milligan zu diagnostizieren.

Bevor ich ihr Vorgehen transkribiere, möchte ich auf eine Aussage der Psychiaterin Dr. Judyth Box über Milligan im Lima State Hospital eingehen. Sie sagte wörtlich:

Quelle: Doku Monsters Inside: Die 24 Gesichter des Billy Milligan, Teil 3

Ich wiederhole das Wesentliche: »Aber ich habe nicht versucht irgendetwas zu beweisen, weil ich Dr. Harding und Dr. Wilbur vertraute.«

Damals wie auch heute sind sogenannte Experten einzig nur deswegen glaubwürdig, weil sie als Experten gelten. Keiner überprüft deren diagnostisches Vorgehen und Machenschaften.

Nun zur Befragung des Vergewaltigungstäters Billy Milligan

Zunächst einige Aussagen, die aufzeigen, warum Cornelia B. Wilbur hinzugezogen wurde:

Dr. Allen Frances„Bekannt wurde die multiple Persönlichkeitsstörung im 20. Jahrhundert durch den Film „Eva mit den drei Gesichtern“ mit Joanne Woodward in der Hauptrolle, wofür sie den Oscar gewann. Fortgesetzt wurde es durch das Buch „Sybil“, welches eine Autorin zusammen mit einer Psychoanalytikerin (Wilbur) und einer Patientin schrieb.“
Dr. Sheila Porter„Keiner von uns hatte jemals zuvor eine multiple Persönlichkeit diagnostiziert oder behandelt, wir hatten das Gefühl, dass wir eine Bestätigung von jemand (Wilbur) brauchten, der mit dieser Diagnose besser vertraut war.“
Dr. George Harding„Wir sprachen mit ihr (Wilbur) und sie teilte uns ihre Erfahrungen mit, die sie bei der Behandlung der Patientin Sybil gemacht hatte. Nach Auswertung der Symptome glaubten wir, dass sich eine gründliche Untersuchung lohnen würde. Also kam Dr. Wilbur ins Krankenhaus und untersuchte Billy Milligan.“
Doku Monsters Inside: Die 24 Gesichter des Billy Milligan, Teil 1

Der nächste Absatz gibt 1:1 den Inhalt des allerersten Treffens zwischen Cornelia Wilbur und Billy Milligan wieder:

Wilbur: Mit wem rede ich?
Milligan: Mit Danny.
Wilbur: Wie alt sind Sie?
Milligan: 14.
Wilbur: Wer ist meistens dabei?
Milligan: Allen und Tommy.
Wilbur: Wie alt ist Allen?
Milligan: 18.
Willbur: Und wie alt ist Tommy?
Milligan: 16.
Cornelia Wilbur, Doku Monsters Inside: Die 24 Gesichter des Billy Milligan, Teil 1

Ich möchte es noch einmal betonen: Wilbur wurde hinzugezogen, um zu überprüfen, ob die Diagnose Multiple Persönlichkeit zutrifft. Doch anstatt diese Diagnose kritisch und differenzialdiagnostisch zu hinterfragen, verlief das erste Gespräch mit Milligan extrem suggestiv und genauso, als stünde die Diagnose bereits fest.

Cornelia Wilbur fügte nach der ersten Befragung Milligans in einem Interview hinzu:

„Niemand dachte daran folgende drei Fragen zu stellen:
1. Hat Ihnen schon jemand gesagt, dass Sie etwas getan haben, an das Sie sich nicht erinnern?
2. Hat Ihnen schon jemals jemand gesagt, dass Sie sich an einem Ort wiedergefunden haben und sie wussten nicht, wie Sie dorthin gekommen sind?
3. Ist Ihnen schon mal aufgefallen, dass Zeit vergangen ist und Sie nicht wussten, was während dieser Zeitspanne passiert ist?
 
Die Antworten von Billy Milligan waren:
Ja, ja und ja.
Cornelia Wilbur, Doku Monsters Inside: Die 24 Gesichter des Billy Milligan, Teil 1

Auf eine weitere Frage des Interviewers, wie lange es brauchte, bis es ihr (Wilbur) klar war, dass Milligan an einer multiplen Persönlichkeit leidet, sagte sie:

„Ich würde auf 30 Minuten tippen. Da hatte ich bereits mit drei verschiedenen Personen gesprochen, die spontan gekommen waren.“
Cornelia Wilbur, Doku Monsters Inside: Die 24 Gesichter des Billy Milligan, Teil 1

Dr. Sheila Porter meinte daraufhin:

Monsters Inside: Die 24 Gesichter des Billy Milligan, Teil 1

Bei dieser Form der Diagnostik geht es nicht einmal mehr (nur) um Suggestion. Im Fall von Billy Milligan, der mehrere junge Frauen vergewaltigt hatte, wurden dem Täter die Antworten buchstäblich in den Mund gelegt, was dazu führte, dass er nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Er blieb straffrei, weil eine „dramaturgische Frau“ (wie Dr. Marlene Kocan Cornelia Wilbur bezeichnete) auf Kosten der wirklichen Opfer Ruhm erlangen wollte.

Schließlich drehte sich über viele Jahre hinweg alles nur um Billy Milligans Leben. Über Milligans Lebensgeschichte wurde nicht nur ein Buch verfasst, sondern es fanden auch schon zu seinen Lebzeiten Gespräche über eine Filmadaption statt. Die Opfer sexualisierter Gewalt wurden jedoch von der Gesellschaft, den Medien, dem Gesundheitswesen – von allen – vergessen und blieben es!

Im weiteren Verlauf der Doku wird auch aufgezeigt, wie Cornelia Wilbur mit Milligan über eine bevorstehende Fusion seiner Persönlichkeitsanteile sprach. Erneut werden in der Dokumentation originale Video-Einblicke in die unseriöse Vorgehensweise dieser Psychiaterin gewährt.

Obwohl Frau Cornelia Willbur mittlerweile verstorben ist, besteht das Problem weiterhin: Viele deutsche Trauma-Therapeuten orientieren sich noch heute an Wilburs Methode. Das Buch „Sybil“ hat sich zu einer Art Bibel entwickelt. Ein Buch, das belegbar eine Fälschung war und ist. Das alles geschieht auf Kosten der Opfer!

Zum Weiterlesen:

Beitragsfoto: Zeichnung von Billy Milligan in Monsters Inside: Die 24 Gesichter des Billy Milligan

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert