Seite 2 ff. über die Hysterie:
Die hysterische Frau.
Mit der Bezeichnung: „hysterische Frau“ kann man die Ehemänner erschrecken. So übler Art sind die Erfahrungen, welche dieselben mit solchen Weibern gemacht haben, daß schon ihre Citation in Schrift und Rede Furcht einflößt, wie der Schornsteinfeger bei kleinen Kindern. In dem Worte „hysterisch“ eröffnet sich aber auch der inhaltvolle Begriffe einer ganzen eheligen Leidensgeschichte; wenn man mißvergnügte Ehemänner spricht, oder aber in manche Mißstimmung des Ehelebens als unvermuteter Zeuge hineinblickt, so hört man sehr oft den Gatten gegen den Vertrauten seine, vor den Augen und der Welt nicht selten als liebenswürdig, sanft, still oder lebhaft geltende Gattin als Ursache des Mißvergnügens oder häuslichen Unfriedens beschuldigen und von ihr behaupten: daß sie hysterisch sei, und man versteht den beklagenswerten Mann sofort in Allem, was er noch sagen könnte.
Eine hysterische Frau ist eine unsichere Gesellschafterin des Mannes, da sie keinen Augenblick Gewähr leistet, daß nicht bei ihr gewitterhafte Stimmungen des Gemüts oder Ärgers zu einem plötzlichen Ausbruche kommen, daß, außer dem raschen Wechsel von Wohlbefinden und Unwohlsein, von Heiterkeit und Trübsinn, Unruhe, Gleichmut und Leidenschaft, Einbildung und Wirklichkeit, wie plötzliche Anfälle von Erscheinungen eintreten, welche in ihrer Form verschieden, die Frau in Indisposition oder vorübergehend ins Bett treiben, wohl gar längere Zeit auf das Krankenlager werfen.
Wenn man auch leider wahrnehmen muß, daß die gegenwärtige Erziehung, Lebensweise und nervöse Konstitution bei der überwiegenden Mehrzahl des weiblichen Geschlechts viel zur Ausbildung der Hysterie beitragen und der betreffende Ehemann in vielen Fällen zu beklagen ist, so hat er doch dieses Los in vielen Fällen selbst mit verschuldet, indem er die körperliche und falsche Diätetik der Ehe nicht verwirklichte und entweder gleichgültig gegen Schonung und Gesundheitsbedingungen seines Weibes blieb, oder durch ein zu stürmisches oder gekünsteltes Genussleben, die Ausbildung der Hysterie förderte.
Wie oft erkranken jüngere Frauen in der Ehe, wie oft bleiben sie kinderlos oder verfallen dem immer größer werdenden Gebiete der Frauenkrankheiten, dem jetzigen Modeleiden der weiblichen Generation, dem in der physischen und sittlichen Erziehung der Mädchen durch Blutarmut, Bleichsucht, Sinnenreize, nervöse Überreizung etc. tüchtig vorgearbeitet wird.
Hysterie ist in den Augen des Arztes eine fieberlose Nervenkrankheit, vielgestaltig in Form und Erscheinung, es vermögen die schroffsten Gegensätze nebeneinander in diesem verwirrten Krankheitsbilde aufzutreten. Es ist eine Nervenkrankheit, von dem Nervenleben des weiblichen Geschlechtssystems in den meisten Fällen ausgehend, dessen Verstimmung auf Rückenmark und Gehirn reflektiert und von hieraus auf Vorstellungen, Empfindungen und Bewegung in abnormer Weise zu rückwirkt, was sich in der veränderlichen Laune, Unruhe, reizbaren Empfindlichkeit, in seltsamen Einbildungen und Gelüsten, Krämpfen aller Art, Ohnmacht, Kopfschmerz, Neuralgien etc. kund gibt.
Es bedarf nur einer geringfügigen, gelegentlichen Veranlassung, eines einzigen der mannigfaltigen Einflüsse, um diese hohe Reizbarkeit bis zu einem Anfalle zu steigern, welcher entweder körperlich oder seelisch oder in beider Hinsicht gleichzeitig zur Erscheinung kommt; diese Frau fällt in Ohnmacht, jene hat Magen- oder Brustkrämpfe, Kolik, Herzklopfen, eine andere Verdauung– oder Blasenbeschwerden, Nervenschmerz oder nur eine Affektion des Gemüts.
Es gibt eine angeborene, erbliche Anlage, die aber mehr in der Konstitution begründet liegt, während meistens die Hysterie ihren Ursprung in der Erziehung, namentlich in einer hysterischen Mutter hat und wohl eigentlich ein Erziehungsresultat ist, das nur durch Lebensweise und soziale Verhältnisse seine weitere Ausbildung findet.
Sehr richtig spricht ein in der Pädagogik erfahrener Arzt:
„Je weniger man die weiblichen Kinder übt, sich zu beherrschen, je ungemessener ihre Wünsche erfüllt werden, je mehr man ihnen gestattet, sich über ein zerbrochenes Spielzeug einer maßlosen Trauer hinzugeben, je mehr man die Rute spart, wenn sie sich bei einer getäuschten Hoffnung oder abgeschlagenen Erlaubnis ungebändigten Ausbrüchen der Leidenschaft hingeben, um so leichter werden sie später hysterisch. Übt man die Kinder zum Fleiß, zur Gewissenhaftigkeit, zur Selbstbeherrschung, lässt man heranwachsende Mädchen nicht den ganzen Tag bei sitzender Lebensweise stricken, Tapisserien nähen oder andere Arbeiten treiben, bei welchen sie ihren Gedanken, Empfindungen und Träumereien nachhängen können; bewahrt man sie vor schlechter Lektüre, durch welche sie überspannte Ideen bekommen, so schützt man sie am besten vor der Gefahr, hysterisch zu werden.“
Wo die Seelendiätetik in der Erziehung der weiblichen Jugend mangelt (vergleiche: Klencke’s Diätetik der Seele, 2. Auflage, Verlag von E. Kummer in Leipzig), also keine Übung in der Selbstbeherrschung der Launen, Empfindungen und Leidenschaften, dagegen überwiegende Phantasiebeschäftigung bei Müßiggang in nützlichen Dingen stattfand, da bleibt die Hysterie in der Regel im Verlaufe der Ehe nicht aus. In neuester Zeit ist man geneigt, in der Hysterie eine, wenn auch nicht näher erklärte Ernährungskrankheit des gesamten Nervensystems anzuerkennen. Die Haupterscheinung dieses gestörten Nervenlebens charakterisiert sich durch allgemeine Erregbarkeit, gesteigerte Reizempfänglichkeit, die von den Leidenden selbst als „Nervenschwäche“ bezeichnet zu werden pflegt, durch bald krampfartige, bald lähmungsähnliche Zustände des Muskellebens, besonders aber in den sensiblen Nerven durch Neuralgien, Schmerz in einzelnen Nervenverzweigungen, wie in der Rippen- oder Lendengegend, im Hüftgelenk, als Gesichtsschmerz und Migräne; dazu kommen mancherlei rheumatismusähnliche Empfindungen, Ameisenkriechen in der Haut und fast immer eine Empfindlichkeit der Rückenwirbelsäule bei Druck. Andere Frauen leiden an „hysterischem Asthma“ mit heftiger Beklemmung, Schmerz unter dem Brustbein, Stimmritzenkrampf von starkem Herzklopfen begleitet, oft an plötzlichem Husten, Heiserkeit und alle Zeichen eines Brustkatarrhs ohne wirkliche katarrhalische Veranlassung.
Bei allen hysterischen Weibern bildet sich mit der Zeit eine Unlust zu körperlichen Bewegungen aus, welche sich bei vielen als Bettsucht oder Neigung zum bequemen Liegen charakterisiert.
Unter den Erscheinungen des hysterischen Seelenlebens macht sich eine auffällige Willenlosigkeit bemerklich, ein Mangel an geistigem Widerstande, ein Hingeben an alle seelischen und körperlichen Eindrücke, die das hysterische Weib völlig überwältigen und deshalb unfähig machen, einen Anfall zu unterdrücken oder zu verbergen. „Ich kann nicht dagegen an“ heißt es bei ihnen. So wechseln die Extreme von Trauer, Todesangst, froher Ausgelassenheit, schreckhaftes Zittern, Beklemmung und allen möglichen unvermuteten Stimmungen: endlich bleibt eine vorherrschend unglückliche Grundstimmung der Seele zurück, wobei sich das Denkvermögen ungestört erhält.
Es ist bereits, im Gegensatz zum Bequemlichkeitshange, der fortwährenden nervösen Unruhe des Geistes und Körpers hysterischer Frauen gedacht worden, die ohne Rast und Fähigkeit, sich nur auf kurze Zeit Ruhe abzugewinnen oder auf einer Stelle sitzen zu bleiben, beständig in einem ängstlichen Wirken, Umherschwirren und einer Geschäftigkeit forttreiben, welche keinen eigentlichen reellen Zweck hat oder verschiedene Zwecke gleichzeitig und abspringend verfolgt. Einen den Ehemännern und der häuslichen Umgebung ebenso unerträglichen als wohlbekannten Ausdruck nimmt diese Art der hysterischen Unruhe in der sogenannten Wirtschafts- und Reinmachekrankheit an, in welcher die Frau fortwährend kontrolliert, tadelt, überall Schmutz, Unordnung oder doch Unangenehmes sieht, stets scheuern, aufwaschen, Möbel putzen läßt und die Ungemütlichkeit des Hauses durch steten Streit und Wechsel der gequälten Dienstleute vergrößert.
Oder es kann die Frau nicht lange in einer und derselben Wohnung oder Einrichtung aushalten und zieht in unbefriedigter Veränderungssucht oft in andere Wohnungen oder wechselt das Meublement oder es treibt die Unruhe zur Reiselust, die dem beklagenswerten Ehemann sehr kostspielig und schwerer als die Bettsucht seiner Frau werden kann, wenn für sie die Zugvögeljahreszeit herannaht.
Solche Parorismen sind, wie die ganze Krankheit, in ihren Erscheinungen sehr mannigfaltig. Wir können hier nicht speziell darauf eingehen. Auch wenn man nicht durch das Zeugniß eines beobachteten Anfalles wüßte, daß die Frau an Hysterie überhaupt litte, so würde man aber doch schon an der äußeren Erscheinung derselben, an ihrem physiognomischen Aussehen jenes Leiden erkennen können. Das Auge ist von einem ganz eigentümlichen Glanze, verlangend, schmachtend, halbgebrochen und tränenfeucht, die Hautoberfläche ist sehr empfindlich; schon die Vorstellung einer Berührung, geschweige die leiseste, erregt Kitzelgefühl, man findet Geist und Gemüt niemals normal gestimmt, die Vorstellungen und Urteile sind gewöhnlich nicht objektiv, Lachen und Weinen können im schroffsten Gegensätze wechseln. Alles hat den Charakter des Excesses, sei es Mitleid, Bewunderung, Interesse an Personen oder Dingen.
Die bekannten Fälle von Hellseherinnen, Wundermädchen, religiösen Schwärmereien und Verzückungen sind nur hysterische Erscheinungen, — selbst der dabei obwaltende Betrug ist hysterisch, denn alle diese Weiber haben eine große Neigung zur Verstellung und Übertreibung; ist der Trieb nach Teilnahme und Aufmerksamkeit erst zur Sucht nach Ungewöhnlichem gesteigert, so kann das Weib, auch wenn es ursprünglich im Gemüt und Willen gut veranlagt wäre, sehr leicht in seinen moralischen Begriffen verwirrt und zur Heuchlerin seiner überschwänglichen Gefühle werden.
Obgleich die Ursachen der Ausbildung der Hysterie höchst mannigfaltig sind, so kommen auch, abgesehen von den Fehlern der Erziehung und Seelenpflege, auch häufige Ursachen in Betracht, die der Arzt suchen und zum Objekt seiner Heilbestrebungen machen muß. Gewissermaßen ist die Hysterie für andere Frauen, die mit einer hysterischen in täglichem Umgange leben und deren Anfällen öfters beiwohnen, ansteckend, besonders, wenn sie bereits Disposition dazu haben und durch sitzende Lebensweise, Müßiggang, Üppigkeit etc. dieselbe fördern; auch kommt sie nicht selten zum Ausbruch durch plötzlichen Übergang aus Entbehrung in Genußsucht, wie man es oft bei jungen Frauen trifft, die als arme, notleidende Mädchen durch eine Heirat in Wohlleben versetzt werden. Überhaupt ist jeder rasche Wechsel der Lebensweise für Frauen in dieser Hinsicht gefährlich.
Häufig geht der Hysterie der Veitstanz in der Entwickelungszeit des Mädchens vorher oder begleitet dieselbe bei den Parorismen. Die in späteren Lebensjahren entstehende Hysterie ist die hartnäckigste, obgleich sie immer ein chronisches Leiden bleibt; es hat sich übrigens herausgestellt, daß beginnende Lungenschwindsucht und Herzkrankheit bisweilen längere Zeit die Maske der Hysterie tragen können. Es würde der Kurpfuscherei Vorschub leisten und dadurch Vieles versäumt oder gefehlt werden, wollten wir hier gegen die hauptsächlichsten Erscheinungen und Anfälle dieser Art Mittel empfehlen, die doch nur Palliativmittel sein könnten, als schmerzstillende, krampfstillende oder beruhigende, wohl gar Schlafmittel; dies überläßt man verständigerweise dem sachkundigen und den einzelnen Fall beurteilenden Arzt. Das einzige Linderungsmittel, welches eine hysterische Frau in ihrer Hausapotheke vorrätig halten möge, ist Valerian (Balderian)-Tee oder Baleriantinktur, rein für sich oder mit Pomeranzentinktur und etwas Schwefeläther gemischt, um hiervon nach Bedürfnis tropfenweise in etwas Wasser zu nehmen.
Höchst gefährlich ist aber das beliebte Gewöhnen an Narkotika, Morphium, Opium, Chloralhydrat etc. Verständiger und heilsamer ist ein richtiges diätetisches Verhalten, teils um Anfälle zu verhüten, teils um das allgemeine Befinden zu verbessern.
Eine vorzügliche Sorge muß die hysterische Frau auf eine kräftige Vegetation ihres Nervenlebens richten, damit dessen Reizbarkeit gemildert, die Energie aber gehoben werde; dies bewirken: Aufenthalt und Beschäftigung in freier Luft, namentlich Landluft, ferner, damit die gesunkene Willenskraft wieder erweckt werde, nützliche, körperliche, den Kräften jedes mal angemessene Arbeit, eine mit Muskelgebrauch verbundene Tätigkeit, Besorgung häuslicher Geschäfte, leichte Fußwanderungen, lautes Vorlesen, ein mäßiges Tanzvergnügen, Vermehr in munterer Gesellschaft, Vermeidung des einsamen, müßigen Hinträumens; Dann aber auch eine richtige Diät im Essen und Trinken. Es führen die meisten hysterischen Frauen eine unpassende Diät nach Launen und Gelüsten, sie naschen lieber, als daß sie regelmäßige Mahlzeiten halten, sie haben höchst wunderliche Appetite für Obst, Zucker, Backwerk, fette Milch, trocknes Brot, Mehl, sogar oft auf ungenießbare Substanzen, wie Kreide, Schieferstaub etc.
Die Diät soll in Substanz und Zeit durchaus regelmäßig, nahrhaft, aber leicht verdaulich und jedes Mal mäßig sein. Um die gesteigerte Empfindlichkeit abzustumpfen, eignen sich Sool- und Seebäder oder eine verständige methodische Abhärtungskur.
Quelle https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/newspaper