Bleichsucht oder Hysterie 1884

Seite 2. Stuttgart, Samstag, 01. März 1884

Bleichsucht oder Hysterie?

Von Dr. Rob. Herdegen in Milwaukee (Wisconsin).

In einer bekannten württembergischen illustrierten Zeitschrift ist unter dem Titel „Heilung der Bleichsucht“ eine Krankengeschichte veröffentlicht, die, so genommen, wie sie gegeben ist, nahe an eine Wunderkur grenzt. Es mögen also einige Bemerkungen dazu vom ärztlichen Standpunkte aus am Platze sein. Im Allgemeinen gilt es, und bestimmt mit vollem Rechte, für verfehlt, die Behandlungsweise von Krankheiten in anderen als Fachblättern zu besprechen, und als Ausnahme von dieser Regel werden nur zugelassen das Gebiet der Hygiene, das ist: die Lehre, wie der Entstehung von Krankheiten vorzubeugen, sowie weiter noch die erste Hilfe bei Unglücksfällen. Ist aber einmal der Verstoß gemacht, rein medizinische Fragen vor das große Publikum zu bringen, so soll dies wenigstens in richtiger Weise geschehen.

In dem betreffenden Blatte erzählt ein Vater die glückliche Heilung seiner achtzehnjährigen Tochter von der Bleichsucht. Mitleid mit ähnlichen Leidenden und der Wunsch, ihnen zu helfen, veranlaßte ihn, die Redaktion um Aufnahme der hier nur in kurzem Auszuge wiedergegebenen Mitteilungen zu bitten.

Im sechzehnten Jahre erkrankte das Mädchen, von dem hier die Rede ist, und bis zum achtzehnten Jahre lag es krank darnieder, Monate lang durch rasende Kopfschmerzen auf eine und dieselbe Stelle unbeweglich festgebannt. Brust-, Herz- und Magenschmerzen, Atemnot, Beklemmungen, Erbrechen nach jedem auch dem kleinsten Genusse brachten die Patientin so herab, daß sie schließlich von den Ärzten aufgegeben ward. Im Frühjahr 1882 kam dem Mädchen nun auf einem Stück Zeitung, in dem ihr der Vater Erdbeeren mitgebracht hatte, ein Aufsatz in die Hände, welchem der Aderlaß als ein Heilmittel der Bleichsucht, die Krankheit, welche als die des Mädchens angegeben ist, angepriesen wurde. Auf dringende Bitten der Patientin wurde, trotz des Widerstrebens der behandelnden Ärzte, ein solcher vorgenommen, und von der Stunde an trat eine Wendung zum Besseren ein, so daß heute, anderthalb Jahre nach dem Aderlasse, der Vater die Tochter als ein Bild der Gesundheit schildern kann.

Wie unwissend muß doch der das Mädchen behandelnde Arzt gewesen sein, ein Mittel gegen Bleichsucht, so bekannt, daß der Krämer seine Ware in damit bedrucktes Papier wickelt, nicht zu kennen, ist natürlich das erste Wort jedes nicht ärztlichen Lesers. O die armen Ärzte!

Die Berechtigung des Aderlasses in Fällen, wie der vorliegende, wollen wir hier nicht erörtern. Nur so viel sei gesagt, daß diese Prozedur, noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts das zumeist angewandte Heilmittel, heute so selten mehr verordnet wird, daß es manchen jungen Arzt geben dürfte, – ich selbst zähle zu diesen, – der schon sehr Vieles, aber noch nie einen Aderlaß anwenden sah oder selbst anwandte. Aus der Rüstkammer Äskulaps, wo bestimmt mehr Gutes schlummert, als wir Jungen uns träumen lassen, wurde nun neuerdings die Aderlaß-Lanzette und das Aderlaßschüsselchen wieder hervorgeholt und zuletzt in den Nummern 24, 25 und 35 der in Berlin erscheinenden Allgemeinen medizinischen Centralzeitung 1883 aufs Wärmste gegen verschiedene Affektionen, darunter auch die Bleichsucht, empfohlen.

Unseren vorstehend erzählten Fall anlangend, gestatte ich mir, die ganz bestimmte Behauptung aufzustellen: Hätte die Patientin durch irgend einen Zufall eine Anpreisung des St. Jakobsöls oder der Hamburger Brusttropfen Aug. Königs als eines ganz sicheren Heilmittels gegen eben die Krankheit, von der sie sich befallen glaubte, in die Hände bekommen, und hätte sie das betreffende Mittel genau nach Vorschrift angewandt, sie wäre ebenso bestimmt genesen, und der glückliche Vater priese heute mit demselben Rechte eines dieser beiden Mittel statt des Aderlaßes als ein Mittel gegen Bleichsucht. Trotzdem, behaupte ich ebenso bestimmt, war das erwähnte Mädchen so schwer, vielleicht noch schwerer krank, als uns der Vater, ich bin fest überzeugt, vollkommen wahrheitsgemäß erzählte.

Hat die geneigte Leserin, denn mit solcher redet sich es stets am angenehmsten, die nötige Geduld, so will ich diese meine etwas paradox klingenden Behauptungen zu beweisen versuchen.

Eine der rätselhaftesten und interessantesten Krankheiten für den Arzt, eine der unangenehmsten für den davon ergriffenen Kranken, ist die sogenannte Hysterie. Interessant für den Arzt, weil in tausendfach wechselnder Gestalt auftretend; rätselhaft, weil das innerste Wesen der Krankheit immer noch nicht vollkommen ergründet ist; unangenehm für den Patienten, weil die Behandlung des Leidens sehr, sehr schwierig und Erlösung durch den Tod von den Qualen, oft schlimmer als der Tod, welche der oder meist die unglückliche und so oft verkannte Kranke auszustehen hat, kaum zu erwarten ist.

So oft verkannt — denn erklärt der Arzt eine Kranke für hysterisch, so bringt er seiner Patientin die ganze Familie über den Hals. „Nur hysterisch?!“ meint achselzuckend der Ehemann. „Das hat ja nicht viel zu sagen.“ — „Nimm Dich nur zusammen, liebes Kind, dann wird es schon gehen,“ tröstet die robuste Schwiegermama und denkt dabei: Hysterie ist ja gar keine Krankheit, sondern nur Ungezogenheit, Launenhaftigkeit, Übertreibung und Verstellung. Als ob man sich mit einem gebrochenen Beine nur zusammen zu nehmen brauchte, um damit tanzen zu können!

Die Hysterie, die allgemeine Nervosität, die Neurasthenie, das heißt: Erschöpfung des Nervensystems, wie ein bedeutender amerikanischer Forscher auf diesem Gebiete die Krankheit bezeichnet, ist nicht nur ebenso eine Krankheit, wie jede andere, sie ist oft sogar eine sehr schwere Krankheit, deren Träger mehr Mitleid verdient, als manche anderen Kranken.

Wenn es auch nicht zu leugnen ist, dass es eine häufig vorkommende Eigentümlichkeit dieser Kranken ist, ihre Leiden zu vergröbern, um Mitleid oder allgemeines Aufsehen zu erregen, so ist das eben auch ein Krankheitssymptom bei ihnen, das zum größten Teil hervorgerufen wird durch falsche Behandlung, die ihnen von Seiten ihrer Umgebung und leider auch oft ihrer Ärzte zuteil wird.

Die Ursachen der Hysterie liegen zu tief, um sie hier kurz abfertigen zu können, wir müssten das ganze Erziehungssystem unserer Mädchenwelt zu diesem Zweck durchsprechen. Eine vernünftige Mutter, ein richtig beratender Arzt können die Anlage zu der Krankheit im Keime ersticken. Hat sich die Krankheit aber einmal ausgebildet, so ist die Verschiedenheit ihrer Symptome unglaublich, wie des Proteus Gestaltungsfähigkeit. Erscheinungen, von den leichtesten bis zu den schwersten, scheinbar in allernächster Zeit das Leben bedrohenden, treten in ihrem Gefolge auf, und dass unsere oben erwähnte Wiesbadener Patientin an einer Hysterie der schwersten Sorte litt, kann für keinen Arzt, der einen Blick in die Krankengeschichte geworfen, auch nur einen Augenblick zweifelhaft sein.

Dass der Vater von Bleichsucht redet, tut nichts zur Sache. Gewiss werden sehr oft, namentlich bei jungen Mädchen, die ersten Zeichen der Hysterie für Bleichsucht gehalten und eine dem entsprechende Behandlung eingeleitet. Weiter gibt es aber eine ganze Reihe von Fällen von Hysterie, welche die Zeichen einer hochgradigen Blutarmut aufweisen, die aber hier nicht die Ursache, sondern die Folge der Hysterie ist. Man denke nur an den entweder fehlenden oder, wenn vorhanden, launenhaften Appetit, die gestörte Verdauung, die Schlaflosigkeit, und man wird bei einer so schweren Erkrankung des Nervensystems eine Störung in der Blutbildung natürlich finden.

So verschiedenartig die Erscheinungen unserer Krankheit, so verschieden sind auch die Wege ihrer Behandlung. Eines aber haben alle erfolgreich sein sollenden Behandlungsarten gemein: dass sie, bei einer Krankheit, deren Sitz das Gesamtnervensystem des Körpers ist, auch selbstredend den Hauptsitz der Nerventätigkeit, das Gehirn, als Angriffspunkt erwählen müssen. Eine psychische, eine auf die Psyche, die Seele einwirkende Behandlung muss also die Hysterie zuvörderst sein: Der Arzt heilt diese Krankheit, nicht die Arznei.

Diese Beeinflussung der Seelentätigkeit des Kranken, die bei Hysterischen das Hauptbehandlungsmoment bildet, erklärt auch die glänzenden Erfolge von sogenannten Wunderdoktoren bei an Hysterie Erkrankten. Ich habe von den Wunderdoktoren keine so schlechte Meinung, wie die meisten Ärzte, welche sie einfach für Betrüger halten. Ich glaube im Gegenteil, dass es unter denselben manchen ehrlichen Fanatiker gibt, welcher tief davon durchdrungen ist, dass er übernatürliche Kräfte besitzt, und welcher seine Erfolge mit vollster Überzeugung von dieser Begabung ableitet.

Es gelang mir zwar noch nicht, das Tun und Treiben von Wunderdoktoren in nächster Nähe zu beobachten, da sie dem Ungläubigen meist aus dem Wege gehen; aber ich glaube dennoch, dass dieses Urteil über dieselben richtig ist, weil sie manche glücklichen Kuren leichter durch fanatischen Glauben als absichtlichen Betrug erklären lassen.

Aus meiner Jugendzeit erinnere ich mich noch recht wohl eines hierher gehörigen Falles aus meiner Vaterstadt Stuttgart, der damals großes Aufsehen erregte. Ein junges Mädchen aus bester Familie wurde durch einen Wunderdoktor von einem langjährigen Hustleiden geheilt: das verkürzte Bein wurde durch Streichen des Wundermannes wieder länger, konnte sogar nur durch rechtzeitiges Streichen in entgegengesetzter Richtung vor dem Zulangwerden bewahrt werden.

Dass es sich bei dieser Kranken, ebenso wie bei der Freifrau von Droste-Vischering, die ihre Krücken in Trier beim heiligen Rod zurückließ, um jenes schwere, oft verkannte Nervenleiden gehandelt habe, welches jedem Arzte unter dem Namen der hysterischen Hüftgelenkserkrankung bekannt ist, wurde mir erst in späteren Jahren klar.

Als Kind erinnere ich mich, in den gebildetsten Kreisen nie davon, sondern nur von der merkwürdigen Kraft des Wunderdoktors reden gehört zu haben.

Vor einigen Jahren machte in den medizinischen Blättern ein ebenfalls hierher gehöriger Fall viel von sich reden. Von einem Berliner Arzte verlangte ein junges, an Hysterie leidendes Mädchen dringend die Vornahme einer schweren, neuerdings gegen die verschiedensten Frauenkrankheiten mit bestem Erfolg angewandten Operation; sie würde sie bestimmt von ihrem Leiden befreien.

Der betreffende Arzt ging scheinbar darauf ein, bereitete alles zu der verlangten Operation vor, legte die Kranke zu Bette, hatte die nötigen Assistenten versammelt und chloroformierte die Patientin tief – machte nun aber nicht die gewünschte Operation, sondern nur einen kleinen Hautschnitt an der betreffenden Körperstelle, den er sofort wieder zunähte, aber genau so wie nach einer wirklich vorgenommenen Operation verband.

Auch die Nachbehandlung war dieselbe, wie sie nach der wirklichen Vornahme der Operation zu sein pflegt. Und siehe: die Patientin genas.

Nun aber – und darüber entstanden die Kontroversen in der ärztlichen Tagesliteratur – kam der Patientin nachträglich die mit ihr vorgenommene Täuschung zu Ohren, und sie erkrankte wieder wie zuvor.

Diese drei Fälle: der unserer Beobachtung zugrunde liegende Wiesbadener, der Stuttgarter und der Berliner, ließen sich leicht für diese Erkrankung ins Unendliche vermehren. Sie sollten nur zeigen, dass es in der Behandlung der Hysterie nicht so sehr auf das Mittel ankommt, das im speziellen Falle angewandt wird, als auf die Art und Weise, in der es der betreffende Heilkünstler – einerlei, ob Arzt oder Wunderdoktor – zur Anwendung bringt.

Von noch größerer Bedeutung ist aber die Erwartung, die Aussicht auf bestimmten Erfolg, mit welcher die Kranke an die Kur herantritt.

Unser ärztliches Vorstellen über die den Nervenkrankheiten – und zu diesen gehört die Hysterie – zugrunde liegenden schweren anatomischen Veränderungen ist heute noch nicht so scharf begrenzt, um so bestimmte Angriffspunkte wie für manche andere Krankheiten zu bieten.

Die Entscheidung, ob ein Heilmittel den günstigen Verlauf einer Krankheit herbeigeführt habe oder ob die Genesung unabhängig von den angewandten Medikamenten eingetreten sei oder endlich, ob der Patient trotz des ihm verabreichten Medikaments genas, gehört zu den schwierigsten Problemen der ärztlichen Wissenschaft.

Die Absicht dieser Zeilen war gewesen, darauf hinzuweisen, dass das Grundleiden der oben genannten Patientin nicht Bleichsucht, sondern eine Hysterie schwerer Form war, dass die Besserung, welche zweifellos nach dem Aderlass eintrat, nicht durch diesen Eingriff herbeigeführt wurde.

Irgendwelche, mit Glauben genossenen Universal-Heilmittel, vor allen Dingen aber die methodische, gegen Hysterie gerichtete Behandlung eines Arztes hätten unter den gleichen Verhältnissen dasselbe Resultat erreicht wie der Chirurg mit dem Aderlassschnepper.

In „gutem Treu und Glauben“ von selbstlosen Motiven geleitet, machte der Vater seine Mitteilung. Nichtsdestoweniger gehört aber die von ihm erzählte Heilung der Bleichsucht durch Aderlass, gleich den meisten von Laien angestellten Beobachtungen über die Erfolge von Heilmitteln, in die Kategorie der ungenau beobachteten und unrichtig erklärten Tatsachen.

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