Borderline und MPS – ein Artikel aus 1996

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Die Multiple Persönlichkeit als dissoziative Reaktion bei Borderlinestörungen

Autorin: Nora Sillan, eine kurze Übersicht

Birger Dulz und Nina Lanzoni argumentieren in ihrem 1996 erschienen Artikel, dass die multiple Persönlichkeitsstörungen kein eigenes Störungsbild darstellt. Vielmehr kann sie als eine Extremvariante der dissoziativen Störungen angesehen werden, die insbesondere bei Personen mit Borderlinestörung und traumatischen Missbrauchserfahrungen auftritt.

Worum geht es im Artikel?

Die beiden Autoren spannen in ihren Ausführungen den Bogen hin zur Forschung von Pierre Janet, Emil Kraeplin und insbesondere Josef Breuers Falldarstellung seiner Patientin Anna O. Denn die darin beschriebene „mehrfache Identifizierung“ weißt deutliche Parallelen zur multiplen Persönlichkeitsstörung auf, die demgemäß – wenn auch unter anderer Bezeichnung – schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt ist (vgl. ebd., S. 18).

Davon abgeleitet argumentieren Dulz/Lanzoni, dass dieses Abgleiten in eine dissoziative Symptomatik und in extremen Krisen ein Wechsel der Persönlichkeitszustände auch bei der Borderlineerkrankung möglich ist (vgl. ebd.), da die beschriebenen und diagnostizierbaren Symptome sehr ähnlich sind. Die multiple Persönlichkeit stellt also in ihren Augen kein eigenes Krankheitsbild dar, „sondern ein mögliches Symptom der Borderlinestörung wie auch eine depressive Symptomatik, eine Suchterkrankung, Impulsdurchbrüche, eine Konversionssymptomatik, eine diffuse Angst, Eßstörungen, Denkstörungen oder Störungen im Bereich der Sexualität“ (ebd., S. 19).

Die beiden Autoren schreiben weiters:

Uns ist noch keine multiple Persönlichkeit begegnet, die nicht in erster Linie auch die Kriterien für eine Borderlinestörung erfüllt und eine Mißbrauchs- und/oder Misshandlungsanamnese aufgewiesen hätte“ (ebd., S. 20) Dennoch sollte in den Augen von Dulz/Lanzoni nicht von einer Komorbidität von Borderline und multipler Persönlichkeitsstörung gesprochen werden, da in diesem Falle jedes einzelne Borderline-Symptom in den Rang eines eigenen Störungsbildes gehoben würde (vgl. ebd., S. 24). Und: Der Wunsch der Patienten nicht an einer (zumeist äußerst negativ konnotierten) Borderlineerkrankung zu leiden, rechtfertige keine Begriffsrevision. Ebenso kritisch ist das Bestreben auf professioneller Seite zu betrachten, neue Störungsbilder zu kreieren – etwaige intrinsische Motive dürfen hier nicht außer Acht gelassen werden, sind sich die Autoren einig (vgl. ebd., S. 24).

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Im Folgenden geht der Artikel auf ein paar Probleme ein, die sich rund um die multiple Persönlichkeitsstörung stellen können und beschreibt u.a. die Suggestionsgefahr im Zusammenhang mit dieser Diagnose:

Suggestibilität durch Medien und in der Therapie

Dieser Punkt erscheint angesichts der jüngst aufgedeckten Satanic Panic-Therapieskandale und Fehlbehandlungen erschreckend aktuell, wird jedoch in den meisten zeitgenössischen Publikationen gerne unter den Tisch fallen gelassen: Patienten sind aufgrund ihrer frühen Traumaerfahrungen hoch suggestibel. Hierzu verweisen die Autoren auf die damals, also in den 1990er Jahren, stattfindende Diskussion, ob die vermutete Zunahme des Störungsbildes inbesondere durch die Laienpresse mit induziert wurde (vgl. ebd., S. 18).

Parallel zu dieser These formulieren Dulz/Lanzoni auch in deutlichen Worten die mögliche Beeinflussbarbeit innerhalb der Therapie:

„Stets ist die Diagnose einer multiplen Persönlichkeit kritisch zu hinterfragen und hierbei zu berücksichtigen, daß ein Patient mit einer frühen Störung sehr feine Antennen für ein auch spezielles Interesse oder eine Abneigung anderer Menschen besitzt, was ihn – bei dem häufig zu beobachtenden Wunsch nach einer engen und oft ausgesprochen symbiotischen Beziehung zum Therapeuten – unbewußt dazu verleiten kann, Angaben im Sinne einer (vermeintlichen) Erwünschtheit seitens des Therapeuten zu geben.“ (ebd. S. 20)

Symptomaufschlüsselung anhand von Fallbeispielen

Anhand von ausführlichen Kasuistiken werden diese unterschiedlichen Facetten der Erkrankung im Detail erörtert – und auch die Möglichkeit, dass sich übergangsweise während einer Psychotherapie ein zusätzlicher Persönlichkeitszustand bilden kann, eine sogenannte „therapeutische Identität“. Anhand eines weiteren Fallbeispiels wird zudem die Annahme gestützt, dass einzelne Persönlichkeitszustände gewisse Persönlichkeitsanteile im Rahmen einer Borderlinestörung repräsentieren, also einzelnen Symptomen entsprechen (vgl. ebd. S. 21f.)

Im selben Atemzug warnen die Autoren vor einer Symptomverstärkung, wenn während einer ambulanten und auf wenige Monate begrenzten Therapie versucht wird, „investigativ“ die traumatische Kindheitsvergangenheit der Patienten zu untersuchen – und auch vor Übertragungs- bzw. Gegenübertragungsreaktionen bei einer Diagnose der multiplen Persönlichkeitsstörung (vgl. ebd., S.22).

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Der hier im Überblick dargestellte Fachbeitrag aus der Zeitschrift „Der Psychotherapeut“ ist mittlerweile über 25 Jahre alt und hat sich auf Grund der Satanic Panic Verschwörungstheorie nur in Teilen – vorwiegend bei seriösen Psychotherapeuten – durchsetzen können. Gerade deswegen ist es essenziell, die angesprochenen Thesen weiterhin genaustens unter die Lupe zu nehmen, um gegen die vorherrschende Meinung, welche die DIS als höchst elaboriertes, eigenes Störungsbild betrachtet, einen Kontrapunkt zu setzen. Denn nur dadurch können die engen Verflechtungen von Dissoziativer Identitätsstörung und Borderlineerkrankung im Detail aufgezeigt werden – und zwar ohne zu (be)werten oder krankheitstypische Stereotypisierungen zu wiederholen. Exakt diese Forschungslücke gilt es dringend zu schließen.

Anmerkung Marvel Stella

Die Zeitschrift „Der Psychotherapeut 1996“ stammt aus dem Besitz von Stavros Mentzos, dem Autor des Buches: „Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen“. Vergriffen war / ist die Zeitschrift deswegen, weil sie Nora gekauft hat und mir zu meiner großen Freude zu Weihnachten schenkt. Abgesehen von dem fantastischen Artikel: Ich lese Stavros Mentzos überaus gerne, darum ist es für mich tatsächlich etwas sehr Besonderes.

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