Kürzlich hab ich zum zweiten Mal das Buch von Ian Hacking zu lesen begonnen: “Multiple Persönlichkeiten – Zur Geschichte der Seele in der Moderne”.
Gleich im ersten Kapitel ist mir etwas aufgefallen, was ich beim ersten Lesen wohl nur überflogen habe. Im Jahre 1995 – also im Erscheinungsjahr von Hackings Buch – wurde bereits jene Art der Therapie, die eine Fragmentierung fördert, von Skeptikern kritisiert. Hierzu ein Zitat aus dem Buch:
“Hilft es einer ansehnlichen Anzahl von Klienten, die den geeigneten Kriterien genügen, wenn man sie so behandelt, als ob sie unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung litten? Gegenwärtig gehört zu einer solchen Therapie häufig, zahlreiche Persönlichkeitszustände kennenzulernen und mit jedem einzelnen davon zu arbeiten, um eine gewisse Integration zu erzielen. Oder ist diese Strategie praktisch immer eine schlechte – selbst wenn jemand von der Straße herein kommt und behauptet, nacheinander von drei verschiedenen Persönlichkeiten beherrscht zu werden? Die Skeptiker sagen, von der Fragmentierung sei von Anfang an abzuhalten. Statt immer mehr alter-Persönlichkeiten hervorzulocken und damit einen weiteren Zerfall des Patienten zu verursachen, sollten wir uns vielmehr auf das gesamte Individuum konzentrieren und einer realen Person helfen, mit bevorstehenden Krisen, mit Funktionsstörungen, Verwirrungen und Verzweiflung verantwortungsvoll fertig zu werden.“ (Hacking, Multiple Persönlichkeiten, S. 21)
Was ist in den vergangenen 30 Jahren passiert? Die Argumente der Skeptiker sind nicht nur plausibel, sondern mittlerweile in jeglicher Hinsicht belegt und bestätigt. Wir sehen (heute wie damals) Patient:innen, die von Therapeut:innen und Therapie abhängig gemacht werden, anstatt dass man sie stabilisiert und ihnen hilft, mit Krisen umzugehen. Infolge wird das Störungsbild manifestiert und mitunter bis zum vollständigen Realitätsverlust erweitert. Patient:innen lernen nicht, sich in der Gesellschaft zu integrieren und gesunde Beziehungen aufzubauen, obwohl genau dafür eine Therapie gedacht ist. Stattdessen wird die Gesellschaft dazu angehalten, sich dem Störungsbild anzupassen, während Betroffene in ihrer eigenen Zersplitterung baden und sich in vielen Fällen öffentlichkeitswirksam inszenieren.
Was ich an dieser Stelle mit Nachdruck kritisiere, ist die Ignoranz der (Trauma)Therapeut:innen: Seit 30 Jahren ignorieren sie die notwendige Debatte, ja schlimmer noch, sie brandmarken jeden Kritiker als Täter, anstatt sich ernsthaft mit dem Wohl der Patient:innen auseinanderzusetzen. Betroffene werden klein gehalten, zur erweiterten Lebensunfähigkeit erzogen, in Scheinrealitäten hineinmanövriert – und wozu? Wem dient das tatsächlich?
Warum hat sich die traumatherapeutische Fachwelt niemals der Kritik gestellt? Niemand kann heute sagen, man hätte es nicht gewusst. Niemand kann behaupten, dass man erst lernen müsste, mit den Betroffenen umzugehen, weil die Störung in den 80er Jahren noch komplett unbekannt war.
Ich habe durchaus die Erwartung, dass sich Fachleute fachmännisch verhalten und Therapeut:innen über ein Mindestmaß an psychologischem Grundwissen verfügen. Auch vor 30 Jahren war es – rein fachlich betrachtet – unmöglich, einen Menschen, der an einer inkohärenten Identität leidet, einfach mal so zu reparieren, indem man ein paar Puzzleteile zusammensetzt, was man hochtrabend Integration nennt. Wo soll denn die ganzheitliche Person bzw. Identität plötzlich herkommen?
Hacking bringt es sehr richtig zur Sprache:
“1993 schrieb David Spiegel, Vorsitzender des Komitees für Dissoziative Störungen, für das DSM-IV von 1994, dass »ein weitverbreitetes Missverständnis über die essentielle Psychopathologie bei dieser dissoziativen Störung besteht, die in der fehlenden Integration der verschiedenen Aspekte der Identität, der Erinnerung und des Bewusstseins liegt. Das Problem ist nicht, mehr als eine Persönlichkeit zu haben; es liegt vielmehr darin, weniger als eine Persönlichkeit zu haben.” (Hacking, Multiple Persönlichkeiten, S. 28)
Seit unzähligen Jahren weiß man, dass sich in diesen Fällen die Identität bei einem Kind nicht aufspaltet, sondern dass sie niemals zu einem Ganzen zusammenwächst. Doch die Trauma-Fachwelt hat das Therapiekonzept niemals angepasst.
Die ursprüngliche Traumatherapeuten-Szene, bestehend aus immer denselben Protagonisten, hält mit allen Mitteln an dem völlig überalterten Konzept fest, in dem es hauptsächlich darum geht, “zahlreiche Persönlichkeitszustände kennenzulernen und mit jedem einzelnen davon zu arbeiten, um eine gewisse Integration zu erzielen.”(siehe Zitat)
Das ist eine akute Gefahr für alle Menschen, die unter einer Identitätsschwäche leiden, darunter also auch sämtliche Borderline-Betroffene. Genau dadurch entsteht die iatrogene Dissoziative Identitätsstörung: Es werden Persönlichkeitsfragmente nicht nur manifestiert, sondern regelrecht erzeugt und kreativ gestaltet, wobei Therapeut:innen aktive Mitgestalter sind.
Weiter oben habe ich das Wohl der Patient:innen angesprochen, worum es in einer Therapie einzig gehen sollte. Sich selbst in der oftmals iatrogenen Dissoziativen Identitätsstörung zu erfahren, mag für Betroffene mitunter ein spannender Weg sein. Hinzu kommen Bedeutung in der Öffentlichkeit, Aufmerksamkeit und der groteske Stolz, weil man an einer der “schlimmsten Krankheiten” leide. Nicht zu unterschätzen sind auch die Zuwendungen seitens der Therapeut:innen, denn das ist etwas, wonach sich sehr viele psychisch kranke Menschen sehnen. Es ist ein Leichtes, sie in der Therapie von eben dieser abhängig zu machen, doch genau das nennt man offiziell Missbrauch.
Therapeut:innen sind in der beruflich und ethischen Pflicht, Patient:innen zu helfen, selbstständig ihr Leben zu bewältigen. Es muss um jeden Preis verhindert werden, dass diese in einer laufenden Therapie sesshaft werden (Regressionsgefahr!), allerdings dürfen sich Patient:innen dadurch auch nicht abgelehnt fühlen. Traumatherapeut:innen, die das Gegenteil anstreben und dafür sorgen, dass ihre Patient:innen immer lebensunfähiger werden und immer mehr Angst vor Gefahren und mutmaßlichen Tätern entwickeln, missbrauchen ihren Beruf und die hilfebedürftigen Patient:innen, und zwar auf Kosten der Krankenkasse. Warum sie dies tun, nun schon seit mehr als 30 Jahren, lässt sich natürlich nicht eindeutig festlegen. Man könnte Vermutungen anstellen, diese würden aber vielleicht am Ende nur von den tatsächlichen Ursachen ablenken und/oder wegführen.
Letztendlich spielt es auch keine Rolle, warum Therapeut:innen diesen unverantwortlichen Weg wählen, wichtig ist einzig nur, dass den Patient:innen damit auf langer Sicht ein massiver Schaden zugefügt wird, auch wenn es sich anfangs unterstützend anfühlen mag. Ihnen wird die Möglichkeit genommen, in der Zukunft und auch im Alter ein weitgehend normales Leben zu führen, Krisen eigenständig zu meisten, erfüllende Paarbeziehungen und Freundschaften zu pflegen und Skills zu erlernen, die für eine gewisse Stabilität sorgen. Das ist ein unverzeihlicher Fehler, der, so denke ich, auch in die Psychologie-Geschichte eingehen wird. Ich bin mir persönlich sehr sicher, dass jene Therapeut:innen, die sich im Laufe der Jahrzehnte selbstständig die Erfolgskrone aufgesetzt haben, irgendwann in zukünftigen Schulungen und Ausbildungen als Beispiel dafür dienen werden, wie man Patient:innen definitiv NICHT therapieren sollte. Für all die unzähligen Patient:innen, die in den vergangenen 30, 40 Jahren in den USA und Europa – teilweise bewusst – missbraucht worden sind, wird es dann allerdings zu spät sein.
Zum Weiterlesen:
- Dissoziationen.de: Zeitungsartikel 1996