ARD-Radiofeature: False Memory & sexuelle Gewalt

Autorin: Nora Sillan

Unter dem Titel „Falsche Erinnerung? – Doku über False Memory und sexuelle Gewalt“ schildert der Journalist Michael Weisfeld in einem ARD-Radiofeature den Kampf um die Glaubwürdigkeit erlittener sexueller Gewalt, wie es in der Pressemappe heißt. Die Sendung wird ab heute auf mehreren öffentlich-rechtlichen Radiostationen ausgestrahlt und ist in der Mediathek verfügbar bzw. auch als Transkript zum Download.

Es diskutieren im Radiobeitrag:

  • Brigitte Bosse, Ärztin und Psychotherapeutin, Leiterin des Trauma Instituts Mainz
  • Heide-Marie Cammans, stellvertretende Vorsitzende des Vereins „False Memory Deutschland“, Essen
  • Brigitte Hahn, ehem. Weltanschauungsbeauftragte, Bistum Münster
  • Adelheid Herrmann-Pfandt, Historikerin, a.o. Professorin für Religionswissenschaft, Universität Marburg
  • Ellen Engel, Rechtsanwältin für Strafsachen, Berlin
  • Kai Funkschmidt, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), Berlin
  • Felicitas Lucas, Kult-Aussteigerin
  • Eva Lauer-von Lüpke, Leiterin Emanuelstiftung, Bonn

Ein Feature, das hinter den Erwartungen zurückbleibt

Der Titel des Radiobeitrags scheint darauf zu verweisen, dass es um sexuelle Gewalt gehen soll, jedoch dreht sich ein großer Teil des Inhalts um Beispiele, die typischerweise im Rahmen von Ritueller Gewalt verortet werden. Diese mangelnde Differenzierung verwässert die Thematik, die so dringend einer umfassenden Klarstellung bedarf und wirft – im übertragenen Sinne – alles in einen Topf.

Angesichts der aktuellen Medienberichte zur Thematik Mind Control und Rituelle Gewalt bleibt das Radiofeature der ARD in seiner Berichterstattung hinter den Erwartungen zurück. Es wirkt wie ein Pro-Kontra ohne Fazit – und das ist keineswegs der journalistischen Darstellungsform eines Features geschuldet: Das ungeordnete Nebeneinander von Stimmen trägt nicht zur Aufklärung von Radiohörern bei, die zum ersten Mal mit dieser Materie konfrontiert werden.

Menschen, die bereits im Thema eingearbeitet sind, werden bei den Diskutanten des Beitrags auf keine Überraschungen stoßen, sind es doch „alte Bekannte“, deren Positionierungen bereits des Öfteren medial dargestellt worden sind. Betrachtet man die Zusammensetzung der Befragten und alleine die numerische Anzahl derjenigen, die das genannte Narrativ stützen versus umgekehrt, stellt sich die Frage nach der Objektivität des Berichts.

False Memory – ein Begriff wird in den Raum geworfen

Einer der Hauptbegriffe, um welchen sich das Feature dreht, ist der von False Memory. Zur Bewertung und Einordnung dieses Fachterminus wird hauptsächlich auf den gleichnamigen, deutschen Verein verwiesen, der mit seiner stellvertretenden Vorsitzenden vertreten ist. So beginnt das Feature mit einer Aussage von Heide-Marie Cammans (False Memory Deutschland e.V.): „Solche Erinnerungen, vermeintliche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit entstehen dann, wenn jemand aufgrund einer kleinen Lebensunzufriedenheit meint, er müsse den Grund dafür finden.“ Alleine dieses Statement verkennt die Situation von Missbrauchsopfern beträchtlich, wo sich das Erlebte in weit mehr als einer „kleinen Lebensunzufriedenheit“ äußert.

(Anmerkung: Unsere Distanzierung zum Verein False Memory Deutschland e.V. hat Marvel Stella in diesem Artikel in Worte gefasst: https://dissoziationen.de/news/statement-zum-false-memory-verein/)

Zum journalistischen Handwerkszeug einer Pro-Kontra Gegenüberstellung gehört die pointierte Zuspitzung von O-Tönen – allerdings wirkt es in diesem Feature ziemlich reißerisch und nicht nach öffentlich-rechtlichen Gütekriterien, wenn Soundbites häppchenweise wiedergegeben und polarisierend verpackt zu sein scheinen.

Der Begriff „False Memory“ bleibt für die Zuhörer im luftleeren Raum hängen: Ob Erinnerungen wahr oder falsch sind, wird nur anhand der Beschreibung der Arbeitsweise des False Memory-Vereins erklärt: Wir lassen uns alles der Reihe nacherzählen. Wir hören, hören, hören, hören“. Hier fehlt eine wissenschaftliche Einbettung in die aktuelle Gedächtnisforschung rund um die Arbeitsweise von Gedächtnis sowie zur Entstehung von falschen Erinnerungen.

Kai Funkschmidt erwähnt die Möglichkeit von suggestiven Therapien, die unter der Hypothese arbeiten, dass der Anfang aller Probleme sexueller Kindesmissbrauch sei und nennt suggestive Psychotherapetechniken; eine Aussage, der Birgit Bosse widerspricht.

Eine Therapeutin, die anonym bleiben möchte, äußert sich zur Überprüfung von Authentizität in einem Therapiesetting: „Wenn jemand zum Beispiel in eine Unter-Erregung gerät – das kann man nicht spielen, ich kann nicht meinen Blutdruck senken. Wenn es spontane körperliche Reaktionen gibt, dass man plötzlich taub wird, gar nichts mehr mitbekommt, der Blick ins Leere schaut.“

Das wirft jedoch eine Frage auf: Wann wird in einem normalen psychotherapeutischen Setting der Blutdruck kontrolliert? Auch eine gewisse Skepsis ist bei folgender Aussage angebracht: dass man einen Blick, der ins Leere schaut, „nicht spielen“ könne.

Von Kindesmissbrauch zu Ritueller Gewalt

Als nächster Themenblock – und es wirkt zeitweise leider wirklich als würden Themen nacheinander abgearbeitet – werden die Ortsnamen Bergisch Gladbach, Lüdge, Wermelskirchen in den Raum gestellt, die ohne jeden Zweifel Synonyme für grausamen Missbrauch an Kindern sind.

Jedoch fehlen an dieser Stelle Hinweise auf den Wormser Missbrauchs-Justizskandal oder den Montessori-Prozess in Münster, wo u.a. suggestive Befragungstechniken zu Falschbeschuldigungen führten.

Nachdem das Thema Kindesmissbrauch in wenigen Minuten gestreift wurde, folgen Definitionen von organisierter und ritueller Gewalt von der Webseite der UBSKM. Kai Funkschmidt benennt Rituelle Gewalt als Verschwörungstheorie, wie sie von Weltanschauungsbeauftragten der DACH-Länder überkonfessionell angesehen wird. Brigitte Hahn, ehemals Beauftragte des Bistums Münster, bringt hierzu die Gegenmeinung als dissenting opinion ein – und das Feature diese Ansichten nebeneinander auf den Tisch. Anstatt diese beiden Meinungen in Folge wissenschaftlich-fachlich zu gewichten, wird lediglich eine Studie genannt, nämlich jene Publikation von Nick, Schröder et. al: „Was erschwert die Aufdeckung organisierter und ritueller Gewaltstrukturen?“. Das einzige „Fazit“, was journalistisch hieraus gezogen wird, ist Folgendes: „Unter den Tätern sind auch Menschen in kirchlichen Ämtern.

Über Konditionierung im Kult

Eine Psychotherapeutin, die anonym bleiben möchte, berichtet vom Vorgehen von Tätern gegen sie selbst und Kolleginnen: „Ja, wir haben alle Angst, dass uns was passiert, dass das Auto manipuliert wird.“ Birgit Bosse vom Traumainstitut Mainz hatte dazu passend bereits von Stalking und Verfolgung durch ein schwarzes Auto erzählt sowie von einer toten Katze vor der Türe (selbstverständlich auch in schwarz).

Im Radiofeature kommt auch mehrmals eine Kult-Aussteigerin zu Wort, Felicitas Lukas, die ihre Geschichte im Magazin „Stimmen der Zeit“ veröffentlicht hat und therapeutisch von Martina Rudolph, ärztliche Leiterin Klinikum Waldschlösschen in Dresden, behandelt wurde. Lukas berichtet über einen germano-faschistischen Kult und spricht von Konditionierung in Form von Triggerreizen, zum Beispiel eine bestimmte Abfolge von Huptönen, die sie auch als erwachsene Frau täterloyal agieren ließ.

Interessant ist, dass das Wort „Programmierung“, welches typisch für das Narrativ von Mind Control ist, im Radiofeature nicht vorkommt, sondern dass stattdessen durchgehend von Konditionierung gesprochen wird.

Eva Lauer-von Lüpke fügt hinzu, dass es nie funktionieren wird, einen Menschen zu einem kompletten Roboter zu machen: Es bleiben Menschen, glücklicherweise, aber man kann Menschen sehr, sehr stark beeinflussen, das ist ja das Ziel, den Menschen zu machen, der eigentlich nur noch für den Kult funktioniert, und alles im Sinne einer Ideologie. Damit haben wir ganz viele Elemente dessen, was wir unter ritueller Gewalt verstehen.“

In diesem Zitat finden sich nicht nur viele Elemente dessen, was unter Ritueller Gewalt verstanden wird, sondern auch ganz viele Dinge, die in den aktuellen Schweizer Gutachten über Mind Control als Verschwörungstheorie benannt werden.

Auch eine Ausstiegsbegleiterin, die ebenfalls anonym bleiben möchte, spricht typische Elemente des Narrativs der Rituellen Gewalt an, wenn sie sich auf einen kultischen Feiertagskalender bezieht: „Und wenn jetzt wie am letzten Wochenende solche magischen, bösen Feiertage sind, wo die sich wirklich doll verletzen müssen…“ Sie fordert viel mehr Beratungsstellen und Ausstiegsbegleiter für Kult-Opfer: „Das müsste breitflächig angelegt werden, dass jeder, der aussteigen möchte, genau wie aus dem rechtsextremistischen Bereich, einen Menschen zur Seite bekommt, der ihn beim Ausstieg begleitet.“

Wenn anstatt einer wissenschaftlich-kritischen Beschäftigung mit der Thematik und Aufarbeitung von Suggestivtherapien rund um Rituelle Gewalt stattdessen lediglich mehr Ausstiegsbegleitung in den einschlägigen Fachkreisen gefordert wird, zeigt dies eines: Die Dekonstruktion des Narrativs von Ritueller Gewalt und Mind Control ist noch nicht wirklich in Deutschland angekommen.

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